2. Stand der Forschung, eigene Vorarbeiten und Kooperationen

2.1 Stand der Forschung

Bisherige Forschung zum Thema betrifft im engeren Sinne informatische Fragen zu Computernetzen und Wissensverarbeitungstechniken, aber auch sozialwissenschaftliche Arbeiten über den Umgang mit Medien, Kommunikation und Information. Einige Untersuchungen sind in stärkerem Maße interdisziplinär angelegt. Auf Grund der Breite der Thematik sollen die hier aufgeführten Forschungsansätze und Literaturangaben nur exemplarischen Charakter haben; wir haben aus der von uns im Rahmen von Vorarbeiten und Lehrveranstaltungen gesichteten und aufbereiteten Literatur die uns für bestimmte Forschungsansätze am "typischsten" erscheinenden Beiträge ausgewählt. Außerdem haben wir weitgehend darauf verzichtet, die bei der Vorstellung unseres Forschungsvorhaben explizit angeführten Literaturhinweise hier noch einmal zu erwähnen.

Von informatischer Seite stehen Konzepte der technischen Verarbeitung von Wissen im Zusammenhang mit Aspekten der Rechnervernetzung im Vordergrund: Konzepte der Datenübertragung, der Datenbanken und der verteilten Datenhaltung; Sicherheitstechniken und Verfahren der Kryptographie, Suchmaschinen und Hypertext-Programmierung. Der Computer einschließlich seiner Programme, der Peripherie und der Netze wird hier als neues interaktives "Massenmedium" gesehen.

Es wird auf softwaretechnische Angebote und Möglichkeiten der verschiedenen Multi-Media-Technologien einzugehen sein, wie sie beispielsweise im Media Lab am MIT und anderen Institutionen entwickelt werden (N. Negroponte: Being Digital, 1995). Die Frage, welche Veränderungen eine computerunterstützte Informationsverarbeitun

Auf allgemeinerer Ebene wird eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Medientheorien erforderlich, insbesondere solchen, die versuchen, den Computer als "Kulturtechnik" zu verstehen.
g mit sich bringt und wie darauf technisch zu reagieren sei, ist auch ein Thema der Informatik (S.R. Hiltz, M. Turoff: Structuring computer-mediated communication systems to avoid information overload; 1985, S. R. Hiltz, M. Turoff: The Network Nation, 1978 oder L. S. Sproull, S. Kiesler: Connections — new ways of working in the networked organization, 1991). Zur Beurteilung, wie ein sinnvoller Umgang mit dem Überangebot an Information in globalen Netzen technisch unterstützt werden kann, sind Techniken der Informationsfilterung und vor allem weitergehende adaptive Agentenkonzepte zu betrachten. Einen Überblick hierzu vermitteln Schwerpunkthefte der Communications of the ACM Dezember 1992 (Information Filtering) und Juli 1994 (Intelligent Agents).

Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um einen der Informatik zugrunde liegenden Wissens- und Informationsbegriff wird auch auf die differierenden Ansätze der Künstlichen Intelligenz Forschung zur maschinellen Wissensverarbeitung einzugehen sein, sowie auf neuere aus der Datenbanktechnik kommende Wissenskonzepte, wie etwa bei Alfred Lothar Luft u.a. (A.L. Luft, R. Kötter: Informatik — Eine moderne Wissenstechnik, 1994).

Neben der Analyse des technischen Massenmediums Computer sind auf der sozialwissenschaftlichen Seite Forschungen im Hinblick auf eine (zukünftige) Informations- oder Wissensgesellschaft zu berücksichtigen. Dies betrifft einerseits gesellschaftstheoretische Überlegungen wie Spinners Konzeption einer Wissensordnung, die in unserem Vorhaben eine zentrale Stelle einnehmen soll. Andererseits sind soziologische Ansätze heranzuziehen, die sich mit den Veränderungen in einer Wissensgesellschaft beschäftigen. Hier seien stellvertretend die Bücher N. Stehr: Arbeit, Eigentum und Wissen, Zur Theorie von Wissensgesellschaften, 1994 und H.I. Schiller: Die Verteilung des Wissens, 1984 genannt.

Speziellere Untersuchungen, die sich mit dem Zusammenhang von Technik und Wissensaufbereitung beschäftigen, sind im Bereich der Informationswissenschaften zu finden, die sich mit der Repräsentation von kodiertem Wissen und informationellen Transformationsverfahren zur aufgabengerechten, inhaltsbezogenen Verfügbarkeit solcher Repräsentationen befassen. (R. Kuhlen: Informationslinguistik, 1986) Ebenfalls praktisch orientiert sind Forschungen im Bereich des Bibliothekswesens, die Lösungen für die zu beobachtende Bibliothekskrise ausloten, und in diesem Zusammenhang zu beurteilende Konzeptionen des elektronischen Publizierens. (M. Grötschel, Die Zukunft wissenschaftlicher Publikationen, 1994; Brüggemann-Klein, Endres, Schweppe: Informatik und die Informationsgesellschaft der Zukunft, 1995; Bayr. Staatsministerium f. Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hrsg.): Wissenschaftliche Information im elektronischen Zeitalter, 1995)


Das Internet, dem die bisherig und künftige Projektarbeiten gewidmet ist, hat in den letzten drei Jahren seinen akademischen und subkulturellen Charakter weitgehend überwunden und ist zu einem definierenden Medium der Informationsgesellschaft geworden. Deshalb soll die Fortsetzung des Projektes die bisherigen Untersuchungen zu einer allgemeineren Analyse des gewandelten und sich weiter wandelnden Wissens- und Medienbegriffs erweitern.
Auf allgemeinerer Ebene wird eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Medientheorien erforderlich, insbesondere solchen, die versuchen, den Computer als "Kulturtechnik" zu verstehen. Zu betrachten sind Untersuchungen in der Nachfolge der von Marshall McLuhan geprägten ªMediumtheorie´ (H. Marshall McLuhan: Understanding Media, 1964; J. Meyrowitz: No sense of place, 1985). Für den deutschen Sprachraum sind dazu die Medientheorien der "Kasseler Gruppe" einzubeziehen, deren Programm auf eine Verbindung psychoanalytischer Theorien mit einer transsubjekthaften Technikentwicklung hinausgeht1 und die McLuhansche Ansätze mit französischer Theoriebildung verbinden (u.a. P. Virilio, J. Baudrillard). Andere zu verfolgende Theorieansätze finden sich in den systemtheoretischen Arbeiten, die mit dem Luhmannschen Kommunikations- und Mediumbegriff operieren (N. Luhmann 1984 und 1990; E. Esposito 1993; P. Fuchs 1991). Und nicht zuletzt sind Konzepte zu berücksichtigen, die versuchen, den Computer durch eine Kombination von anthropologischen und soziologischen Medientheorien zu erfassen (W. Rammert 1989 und 1993).

Um speziellere Effekte des Umgangs mit dem Computer sowie seinen Einsatz als Kommunikations- und Verbreitungsmedium zu verstehen, sind Forschungen zur human-computer interaction (HCI) (vgl. J.M. Carroll: Interfacing thought. Cognitive aspects of human-computer interaction, 1987; J.M. Carroll et al: Interface Metaphors and User Interface Design, 1991; H. Thimbleby: User Interface Design, 1991 und M. Paetau: Mensch-Maschine-Kommunikation, 1990) wie Studien zur computer-mediated communication (CMC) heranzuziehen. Diese beinhalten eine Fülle von empirischen Untersuchungen zu Veränderungen des Kommunikationsverhalten durch Mailsysteme, elektronische relay chats und Konferenz-Systeme, als auch Betrachtungen zu Prozessen der sozialen (Selbst)Organisation in elektronisch vermittelten Gemeinschaften. Von besonderem Interesse für uns sind die Erfahrungen, die unter anderem in den Forschungsabteilungen des MIT Media Labs und im Xerox Parc mit dem experimentellen, "wissenschaftlichen" Einsatz von ªMulti User Dimensions´ gesammelt wurden. Im Internet findet sich sehr viel diesbezügliches Material, nicht zuletzt auch zwei elektronische Journale, die sich mit CMC beschäftigen. Als guter Einstieg können die elektronischen Bibliographien URL: http://www.december.com/cmc/theory zur CMC, kommentiert von John December, und URL: http://is.twi.tudelft.nl/hci/biblio.html zur HCI dienen.

Einige der dem Forschungsvorhaben zugrunde liegenden Fragen sind schon innerhalb der Informatik behandelt worden — in eher verstreuter Form im Fachgebiet Informatik und Gesellschaft. Einen Eindruck vermittelt das Lehrbuch J. Friedrich, Th. Herrmann, M. Peschek, A. Rolf: Informatik und Gesellschaft, 1995 und der Sammelband von B. Schinzel, (Hrsg.): Schnittstellen - Zwischen Informatik und Gesellschaft, Braunschweig/Wiesbaden 1996. Schon früh hat sich mit Grenzfragen der Computerisierung der Pionier Heinz Zemanek beschäftigt (H. Zemanek: Weltmacht Computer — Geschichte, Strukturen, Medien, 1991). Allgemeinere kulturelle Fragen werden im Projekt Sozialgeschichte der Informatik behandelt (vgl. D. Siefkes 1995). Auf speziellere Probleme der Vernetzung wird in den Bänden H. Kubicek, A. Rolf, Mikropolis, 1984 und A. Rossnagel et al.: Die Verletzlichkeit der Informationsgesellschaft, 1989 eingegangen.

 

2.2 Eigene Vorarbeiten

Das Forschungsvorhaben verbindet informatische mit kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Fragestellungen. Zu den in diesen Grenzbereichen der Informatik angesiedelten Vorarbeiten gehören neben den bisherigen Ergebnissen des laufenden Vorhabens Technisch induzierte globale Subkultur Untersuchungen zur Theorie der Informatik, zur Geistesgeschichte der Programmierung, zum Bereich Informatik und Digitale Medien wie eine kritische Auseinandersetzung mit den Thesen der Künstlichen Intelligenz.

Das Internet, dem die bisherig und künftige Projektarbeiten gewidmet ist, hat in den letzten drei Jahren seinen akademischen und subkulturellen Charakter weitgehend überwunden und ist zu einem definierenden Medium der Informationsgesellschaft geworden. Deshalb soll die Fortsetzung des Projektes die bisherigen Untersuchungen zu einer allgemeineren Analyse des gewandelten und sich weiter wandelnden Wissens- und Medienbegriffs erweitern. Die gewachsene. im Kern durch Druck und Texte überkommene, Ordnung des Wissens (M. Foucault) soll unter dem spezifischen Aspekt einer globalen Wissensordnung (H. Spinner), wie sie durch die technische Entwicklung offener Rechnernetze erzwungen wird, untersucht werden.

Das Thema Digitale Medien wird von uns seit geraumer Zeit bearbeitet. Es bestand eine langjährige enge Zusammenarbeit mit dem abgeschlossenen DFG-Projekt Metadisziplinäre Literaturanalyse, aus dem vier Bücher hervorgingen.2 Wir haben Veröffentlichungen zum Thema Computer als Medium3 beigetragen, wobei "Computer" hier und im folgenden immer als Rechner einschließlich der peripheren Geräte, der Programme und der verknüpfenden Netze gemeint ist. In dem laufenden, hier zur Fortsetzung beantragten, DFG-Projekt Theorie und Geschichte der Medien, bearbeitet unsere Arbeitsgruppe das Thema Technisch induzierte Globale Subkultur, nämlich Aspekte der Internet-Nutzung.

Es sind eine Reihe weiterer Veröffentlichungen zum Thema Computer als Medium entstanden, darunter der von M.Warnke, W. Coy und Ch. Tholen herausgegebene Band "HyperKult - Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien" (Basel: Stroemfeld 1997) und das Vorwort zur Neuausgabe von Herbert Marshall McLuhan: Die Gutenberg Galaxis, Bonn u.a.: Addison Wesley, 1995. Im Themenfeld informatische Wissensverarbeitung haben wir uns intensiv mit dem Thema Expertensysteme auseinandergesetzt (Vgl. W. Coy & L. Bonsiepen: Erfahrung und Berechnung — Zur Kritik der Expertensysteme, 1988 und G. Cyranek & W. Coy (Hrsg.): Die Kunst des maschinellen Denkens, 1994). In J. Pflüger, Über die Verschiedenheit des maschinellen Sprachbaues, 1993 und in J. Pflüger, Writing, Building, Growing. Zur Geistesgeschichte der Programmierung, 1994 werden Paradigmenwechsel der Software-Technik vor dem Hintergrund allgemeiner geistesgeschichtlicher Strömungen analysiert. Agentenkonzepte und Vorstellungen über ihren Einsatz werden in J.-M. Pflüger: Distributed Intelligence Agencies, in M. Warnke, W. Coy &Ch. Tholen (Hrsg.): HyperKult, 1997 a.a.O., untersucht und ihr Zusammenhänge mit medialen Aspekten des Computers aufgezeigt. In J. Pflüger & R. Schurz: Der maschinelle Charakter, Opladen 1987, sind Ansätze einer kulturanthropologischen Bewertung der Informatik auf Grund einer ausführlichen empirischen Studie über sozialpsychologische Aspekte des Umgangs mit Computern aufbereitet.

Weitere theoretisch-philosophisch orientierte Arbeiten zum Forschungsbereich sind in dem Sammelband W. Coy, F. Nake, J.Pflüger, J. Seetzen, D. Siefkes, R. Stransfeld (Hrsg.): Sichtweisen der Informatik zusammengefaßt, der auf ein dreijähriges, vom BMFT gefördertes Diskursprojekt Theorie der Informatik zurückgeht. Theoretische Positionen wurden auch in Einzelveröffentlichungen bezogen, so in "Brauchen wir eine Theorie der Informatik?" (Informatik Spektrum 12:5, 1989), W.Coy: Bauelemente der Turingschen Galaxis, in: E. Buhmahn, K. van Haren, D. Hensche, M. Kiper, H. Kubicek, R. Rilling, R. Schmiede (Hrsg.): Informationsgesellschaft-Medien-Demokratie, 1996 und im Sammelband Informatik und Philosophie.4 Konsequenzen für eine Anpassung der Informatikausbildung werden in L.Bonsiepen und W.Coy: "Eine Curriculardebatte", Informatik Spektrum 15:6, 1992 und in J.-M. Pflüger: "Informatik auf der Mauer", Informatik Spektrum 17:4, 1994 gezogen.

Der Themenbereich des Forschungsantrages bildete in den letzten Jahren einen wesentlichen Schwerpunkt unserer Lehre, darunter eine Vorlesungsreihe Digitale Medien und Spezialveranstaltungen zu technischen, kulturellen wie philosophischen Aspekten.5 Aus dem Kontext sind eine Reihe Diplomarbeiten hervorgegangen.

In einer Serie von Tagungen Hyperkult — Hypersysteme in der kulturellen Produktion hat der Fachbereich Informatik und Gesellschaft der Gesellschaft für Informatik, dessen Sprecher ich von 1990 bis Anfang 1997 war, versucht, die Bereiche Kunst, Kultur, Medien und Informatik in eine produktive Auseinandersetzung zu führen. Ein erstes schriftliches Zwischenergebnis findet sich in einem Sammelband mit überarbeiteten Beiträgen aus fünf jährlichen Tagungen (Martin Warnke, Wolfgang Coy, Christoph Tholen; HyperKult, a.a.O.). Weitere Tagungen, die von uns veranstaltet oder mitveranstaltet wurden, sind eine Reihe von drei Tagungen zur Theorie der Informatik, Workshops auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Informatik und eine Tagung Komplexität, Erfahrung, Zuverlässigkeit.


 

1. F. KITTLER, CH. THOLEN (HRSG.), ARSENALE DER SEELE, LITERATUR UND MEDIENANALYSE SEIT 1870, MÜNCHEN: FINK-VERLAG, 1989; J. HÖRISCH, M. WETZEL (HRSG.), ARMATUREN DER SINNE, LITERARISCHE UND TECHNISCHE MEDIEN 1870-1920, MÜNCHEN: FINK-VERLAG, 1990; M. STINGELIN UND W. SCHERER (HRSG.), HARDWAR/SOFTWAR, KRIEG UND MEDIEN 1914 BIS 1945, MÜNCHEN: FINK-VERLAG, 1991; N. BOLZ, F. KITTLER, CH. THOLEN (HRSG.), COMPUTER ALS MEDIUM, MÜNCHEN: FINK-VERLAG, 1993.

2. F. KITTLER, CH. THOLEN (HRSG.), ARSENALE DER SEELE, A.A.O.; J. HÖRISCH, M. WETZEL (HRSG.), ARMATUREN DER SINNE, A.A.O.; M. STINGELIN UND W. SCHERER , HARDWAR/SOFTWAR, A.A.O.; N. BOLZ, F. KITTLER, CH. THOLEN (HRSG.), COMPUTER ALS MEDIUM, A.A.O.

3. W. COY: AUTOMAT-WERKZEUG-MEDIUM, INFORMATIK SPEKTRUM 18:1, 1995, W. COY, ZUR VORGESCHICHTE DES MEDIUMS COMPUTER UND J.-M. PFLÜGER, ÜBER DIE VERSCHIEDENHEIT DES MASCHINELLEN SPRACHBAUES, BEIDE IN BOLZ/KITTLER/THOLEN (HRSG.), COMPUTER ALS MEDIUM A.A.O.

4. P. SCHEFE, H. HASTEDT (HRSG.): INFORMATIK UND PHILOSOPHIE, MANNHEIM: BI-WISSENSCHAFTSVERLAG, 1993.

5. Theorie und Anwendungen kryptografischer Verfahren, Zur gesellschaftlichen Funktion des Informationsbegriffes, Datenkompression, Theorie der Informatik, MUDs als Kommunikationsmedien, Digitale Medien, Geschichte und Wirkung des Mediums Computer u.a.