Jochen Koubek

Soziokulturelle Konstruktion virtueller Lernräume

Einführung

Die Herausforderung, eine Tele-Teaching-Umgebung zu schaffen erschöpfen sich nicht im Aufbau des technischen Rahmens. Auch wenn dieser das sine qua non ist, muß auf der Technik weiter aufgebaut werden, soll die Umgebung auch aktiv genutzt und erfolgreich eingesetzt werden. Der Erfolg mißt sich letztendlich in dem Wohlbefinden der Teilnehmer und in deren Gefühl des eigenen Lernerfolgs. Der Maslowschen Bedürfnispyramide vergleichbar stellen sich bei ihnen neue Wünsche ein, nachdem die Forderung einer technischen Infrastruktur erfüllt ist. Einer dieser Wünsche ist es, den virtuellen Raum derart auszubauen, daß er als Raum erfahrbar und begehbar wird. So schlugen z.B. Teilnehmerinnen einer verteilten Vorlesung vor, nicht nur das Bild des Dozenten, sondern auch das der Studierenden und deren Reaktionen zu übermitteln. Auch wenn diese Übertragung die Lerninhalte nicht zu betreffen scheint, stärkt sie die Vorstellung, in einem gemeinsamen Raum zu sein und wirkt sich direkt auf die Lernatmosphäre aus. Möglichkeiten der Konstruktion und Inszenierung eines virtuellen Raumes möchte ich im vorliegenden Text diskutieren.

Die Vorstellung, einen Raum konstruieren zu können, mag befremden, wenn Raum als homogenes Ganzes verstanden wird, als "erzstabiler Raumkoffer", welcher immer schon da ist und sein wird, der höchstens gefüllt oder entleert werden kann, der angereichert ist mit allerlei Zeug. Im Rahmen dieser mathematisch-naturwissenschaftlichen Raumvorstellung kann höchstens von "Raum-Gestaltung" gesprochen werden, ähnlich wie ein Innenarchitekt ein bereits vorhandenes Zimmer gestaltet. Raum selber entzieht sich aber einer Konstruktionsleistung, eben weil er jedem Konstrukteur und jeder Konstruktion vorausgeht. Nun muß Raum aber nicht als homogenes Behältnis verstanden werden. Die Wahrnehmung des Raumes ist nicht objektives Abbild des Raumes-an-sich, sondern hat wie alle Phänomene eine Kulturgeschichte, ist also historisch gewachsen, unterlag mannigfacher Veränderung und wandelt sich in Zeiten der Vernetzung des Raumes weiter. Die Vorstellung des Raumes als Koffer entpuppt sich dabei als eine mögliche Metapher, die vor allem für technische Zusammenhänge geeignet ist, ihrerseits aber nur einen Aspekt des Phänomens Raum darstellt. Bevor ich einen Raumbegriff vorstelle, der sich im Hinblick auf meine Absichten als konstruktiver erweist, werde ich kurz die kulturgeschichtliche Entwicklung des Raumes skizzieren, d.h. der Wahrnehmung des Raumes, insoweit sie für die zur Zeit vorherrschende Koffermetapher verantwortlich ist. Dies soll den Boden bereiten für einen phänomenologischen Raumbegriff, den ich im Anschluß vorstelle und der Raum vor allem als erlebten Raum begreift. Auf dem Begriff des atmosphärisch erfüllten, gestimmten Raumes aufbauend, komme ich im dritten Teil zu konkreten Konstruktionsvorschlägen für virtuelle, ortslose Räume. In Bezug auf den technischen Rahmen schweben mir natürlich die konkreten Vorgaben des OZ-Projektes vor, die an anderer Stelle ausgeführt wurden. Dennoch lassen sich meine Ausführungen problemlos verallgemeinern und den jeweiligen technischen Bedingungen anpassen. 

Zur Kulturgeschichte des Raumes

In der antiken Welt gab es keinen einheitlichen Begriff für Raum als Ganzes und wenn sowohl Griechen als auch Römer Raumerlebnisse hatten, so beschränken sie sich begrifflich auf den unmittelbaren, gefühlten Wahrnehmungsraum. Eine besondere Rolle kam hierbei dem sakralen Raum zu, dem Ort, welcher als Schnittstelle zur Welt der Götter empfunden wurde. Architektonisch wurde dieser Raum mit einem Sakralbau gestaltet, der einen besonderen Bereich umgrenzte: so leitet sich das griechische Wort temenos ebenso wie das lateinische templum von der indoeuropäischen Wurzel temn- in der Bedeutung schneiden ab; der sakrale Bereich wurde aus dem alltäglichen Raum abgetrennt, gleichsam herausgeschnitten. Umgeben wurde der Tempelbezirk meist von einer Säulenhalle, die ihrerseits von Mauern umfaßt wurde. Insbesondere römische Tempel lagen oft auf einem Unterbau, dem Podium, wobei der Tempel über eine Freitreppe erreichbar war. Der Kern des antiken Tempels, die Cella, erhob sich auf einem dreistufigen Unterbau und war lediglich für wenige Priester zugänglich. Die Kargheit der Ausstattung und fehlende Eibindung in die umgebende Landschaft läßt darauf schließen, daß der Tempel nicht als Formung eines Gesamtraumes konstruiert und erlebt wurde, sondern vielmehr als Skulptur für die verehrte Gottheit. Die außerordentliche Exklusivität des Zugangs betonte die Besonderheit noch weiter. Raum war weit entfernt davon, eine objektive Größe zu sein, hatte klare Zentren, Einschnitte und Grenzen.

Im Mittelalter wurde der Raum noch intensiver in Zonen unterschiedlicher emotionaler Qualität aufgeteilt. Raum wurde vom unmittelbaren Betroffensein heraus unterteilt, je nachdem ob er vom eigenen Handeln betroffen war oder nicht: das in der Ferne liegende war un-heimlich und wurde von allerlei Sagengestalten und Fabelwesen bevölkert. Benennungen von Orten bannte die dort lebenden Ungeheuer und machte den Raum verfügbar. Stärker noch als in der antiken Welt gab es Zonen unterschiedlicher Heiligkeit. Neben den Sakralbauten, Kirchen und Kapellen gab es geheiligte Orte und solche, an denen Dämonen und Geister hausten. Die sakrale Qualität einer Kreuzung, einer Brücke oder einer Quelle konnte von ausgewählten Personen in strengen Ritualen geändert werden, sowohl zum Guten als auch zum Bösen. Der Kampf zwischen diesen beiden Mächten drückt sich auch in einer vertikalen Raumaufteilung auf, wobei der Himmel der Sitz des allmächtigen Gottes war, die Unterwelt aber dem Teufel zugeschlagen wurde. Die beiden Welten berührten sich auf der Erdoberfläche, die somit zum Austragungsort des Konfliktes zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle wurde. 

Auch wurde der Raum aufgeteilt in Zonen unterschiedlichen Rechts: Innerhalb einer Burg und der sie umgebenden Einfriedung, herrschte ein anderes Recht als außerhalb der Stadtmauern. Die Regeln innerhalb von Familienhäuser unterstanden ausschließlich der Muntgewalt des Hausherrn, was in abgeschwächter Form bis heute gilt, im öffentlichen Bewußtsein jedoch stärker verwurzelt ist als im juristischen. Auf dem Marktplatz herrschte das Marktgesetz, in Ausbildungszentren, Klöstern, Zunftgebäuden, Schulen und Universitäten je eigene Gesetze, in die weder der Dorfherr noch der Landesfürst eingreifen durften. Frauen hatten andere Lebenszentren als Männer, eine Vorstellung, die bis heute ausgehandelt wird. Grundsätzlich wurde der Raum an jedem Ort für jeden Stand unterschiedlich empfunden, die Idee eines homogenen Raumes entstand erst am Übergang zur Neuzeit.

Dieser Übergang war natürlich kein abrupter, sondern zeichnet sich in einer langsamen Entwicklung ab: Die Entdeckung der Landschaft als nicht-sakraler Raum gilt als wesentliches Element neuzeitlicher Raumauffassung, literarisch rekonstruierbar an Francesco Petrarcas Brief beim Besteigen des Mount Ventoux. Dort beschreibt er seine Überwältigung beim Anblick des umgebenden Raumes, der nicht länger spirituell vermittelt war. Die Malerei nahm zunehmend Landschaften oder Städte zum Motiv und widmete sich weniger sakralen Themen. Vielleicht ist weniger die Landschaft als solche bedeutsam als die Tatsache, daß der Blick in die Weite des Raumes nicht mehr alleine Gott vorbehalten war, sondern der Mensch neugierig durch die Welt schweifte um zu suchen, was diese alles zu bieten habe. Entdeckungsreisen füllten weiße Flecken auf den Landkarten, die Welt wurde vermessen, kartographiert und besiedelt. Beispielhaft und für die Erweiterung des bekannten Raumes bahnbrechend sind die Fahrten Christoph Kolumbus, welcher dem europäischen Zugriff nicht nur neue Länder erschloß, sondern die angenommenen Grenzen der Welt als hinfällig aufzeigte und der Vorstellung eines Randes, an dem Ungeheuer hausten und Schiffe hinunterfielen, die Grundlage entzog. Die Form der Welt wurde als sphärisch akzeptiert, die zusätzlich noch um eine Sonne kreiste und nicht ruhender Mittelpunkt eines bewegten Universums war. Die Entdeckung des Raumes wurde durch Teleskope und Mikroskope in allen Maßstäben vorangetrieben. Die Frage nach der Stellung des Menschen in diesem Kosmos mußte neu ausgelotet werden und es blieb René Descartes vorbehalten, verschiedenen Strömungen seiner Zeit literarisch-philosophischen Ausdruck zu verleihen. Bei der Frage nach der Wahrheit von Erkenntnis suchte er den stabilen, unbezweifelbaren Urgrund, das stabile Fundament, auf dem alle Gewißheit ruhen kann. In seinen Meditationen teilte er den Menschen in einen körperlichen und einen geistigen Teil, die res extensa und die res cogitans. Dabei folgte er der abendländischen Tradition, die schon bei Platons Trennung von Körper und Seele begonnen hat und die zentraler Glaubensbestandteil des Christentums ist. Im Gegensatz dazu war Descartes Vorstellung säkularisiert, die res cogitans war sich selbst erkennend und sich selbst setzend, ohne durch diese Erkenntnis einer Erbsünde zu verfallen. Der Mensch und nicht Gott wurde zum Zentrum der Welterkenntnis. 

Der Einfluß dieser Lehre entfachte erneut den Streit um das Primat der Erkenntnis: Wird Wahrheit, insbesondere Wahrheiten über Struktur und Wesen des Raumes, aus empirischen Erfahrungen einer res extensa oder aus rationalem Nachdenken der res cogitans gewonnen? Diese Frage teilte die philosophische Welt in die Empiristen und die Rationalisten. Die Empiristen, allen voran John Locke und David Hume betonten, daß alles, was im Geist sei, zuvor in der Erfahrung gewesen sein müsse. Die Rationalisten Leibniz und Wolff beharrten auf der Unabhängigkeit des Geistes, der jeglicher Erfahrung vorausginge. 

Erst Immanuel Kant löste dieses Problem bei seiner Suche nach gesicherter Erkenntnis in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft: zwar stimme es, daß alle Erkenntnis innerhalb von Raum und Zeit und somit empirisch begründet sei, der Mensch aber finde den Raum und die Zeit nicht als Gegebene vor, sondern er selber stülpe sie einer unergründbaren Quelle von Erfahrungen über, gleichsam um einer chaotischen Flut unstrukturierter Sinneseindrücke Form zu verleihen. Raum und Zeit werden bei Kant zu reinen Anschauungsformen, mit denen der Mensch, zusammen mit den Kategorien, seine Erfahrungen strukturiert. Als reine Anschaungsform kann nur eine reine Wissenschaft wahre Aussagen über den Raum machen: die Geometrie. Raum wird im wesentlichen zum geometrischen Raum, Euklids Geometrie zum Schlußstein der Raumerkenntnis. Der Sieg der Mathematik über den Raum wurde durch bahnbrechende Erfolge der Physik, der Technik und des Transportwesens untermauert und prägen das Raumverständnis bis heute, wenngleich Kant in allen wichtigen Punkten widerlegt wurde. Raum wurde auf vielen Ebenen homogenisiert und standardisierten Maßen unterworfen. Raum wird im wesentlichen als Entfernung, Fläche oder Volumen begriffen und weniger als Zusammenhang von Orten unterschiedlicher Qualität. 

Auch wenn sich die Raumvorstellung seit Ende des 19.Jh. durch Weiterentwicklung der Naturwissenschaften stark gewandelt hat, wurde der Grundgedanke des objektiven Raumes, des Raumkoffers, im kollektiven Gedächtnis verankert. Daß aber durchaus andere Vorstellungen bestand haben, zeigt vor allem die am Ende des 20.Jh. erneut einsetzende Aufteilung des Raumes, diesmal weniger in geographische, als vielmehr in Zonen unterschiedlicher Funktion: in Freizeit-, Konsum,- Kultur-, Arbeits- oder Wohnraum, mit der für die architektonische Postmoderne so üblichen Mischbauweise, wie z.B. am Potsdamer Platz in Berlin. Unterschiedliche Qualitäten von Räumen werden auch im Tourismus spürbar, wo trotz nachlassender Notwendigkeit die individuelle Mobilität und die Suche nach anderen Raumqualitäten zunimmt. Die Mentalitätsgeschichte des Raumes ist mit dessen Objektivierung nicht am Ende angelangt und es scheint, als würde das Bedürfnis, Raum zu spüren, nach dessen technischer Beherrschung wieder zunehmen. 

Zur Phänomenologie des Raumes

Ohne auf eine weitschweifende Diskussion über Grundlagen, Methodik und Wesen der Phänomenologie eingehen zu wollen, läßt diese sich umschreiben als philosophische Methode, welche individuelle Erfahrung ernst nimmt und Erkenntnis nicht mehr mit naturwissenschaftlich-objektivierbarer Erkenntnis gleichzusetzen versucht: Ich kann meine Erfahrung in gewissem Grad verallgemeinern, wenn ich individuelle Randbedingungen und Voraussetzungen einzuklammern bereit bin. Selbst wenn man Husserls Anspruch aufgibt, mit Hilfe der Phänomenologie zum Wesen der Dinge vorzudringen, bleibt eine Methode, mit deren Hilfe gewinnbringende Beschreibungen von Phänomenen erreichbar sind, weil sie das Subjekt und dessen Erfahrungen in den Mittelpunkt stellen. Der Preis ist die Eindeutigkeit: unter möglichen Beschreibungen muß man diejenige auswählen, welche für das vorliegende Problem opportun erscheint. Für unser Problem nach der Frage des Raumes bieten sich ebenso viele Wege an, wie es Erfahrungen des Raumes gibt. Eine phänomenologische Auffassung ist es, Raum als Möglichkeitsbedingung von Bewegung zu fassen. Über die Erfahrung der Bewegung lassen sich andere Raumverwandte Begriffe begreifen, wie Entfernung, Nähe, offen, geschlossen, oben, unten, Zentrum, Peripherie etc. Will man die kulturhistorisch so relevanten unterschiedlichen Qualitäten verschiedener Raumzonen berücksichtigen, egal ob topologisch oder funktional abgegrenzt, bedarf es eines neuen Begriffes: Die verschiedenen Raumwahrnehmungen will ich in Anschluß an Elisabeth Ströker gestimmte Räume nennen, womit die Stimmung eine je eigene Atmosphäre bezeichnet, die an einem Ort vorherrscht und die durchaus intersubjektiv wahrgenommen und mitteilbar ist. Eine Bibliothek, eine Kneipe, ein Theater, eine Kirche etc. tragen eine Atmosphäre, welche dem kulturellen Gedächtnis zugerechnet werden kann und welche jedem Mitglied einer Kulturgemeinschaft vertraut ist. 

Um die Frage zu klären, wie ein gestimmter Raum konstruiert werden kann, hilft ein Umweg über die Gestaltpsychologie: Diese geht davon aus, daß der Mensch Wahrnehmungsinhalte spontan zu zusammenhängenden Entitäten, sog. Gestalten, gruppiert und ordnet. Eine Gestalt hebt sich von ihrem Hintergrund ab, wobei das Verhältnis Gestalt/Hintergrund nicht immer eindeutig ist und sich vielfach auf Vorwissen stützt. Die Vervollständigung zur Gestalt erfolgt auch bei unvollständiger Wahrnehmung, umso stärker, je mehr signifikante Teile gegeben sind, und je stärker die Gestalt antizipiert werden kann. Gestaltbildung stützt sich ganz wesentlich auf soziokulturelles Hintergrundwissen, insbesondere bei abstrakten und immateriellen Gestalten. Im Gegensatz zur analytisch orientierten Psychologie versucht die Gestaltpsychologie nicht zu erklären, wie diese Wahrnehmung einer Ganzheit funktioniert, sondern macht sie zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen. Aufgrund ihrer Unfähigkeit, den Gestaltbegriff näher zu bestimmen, bleibt sie eine unscharfe Theorie, was ihr von Kritikern bis heute vorgeworfen wird. Trotz dieser Einschränkungen können wir den theoretischen Ansatz im weiteren für unsere Überlegungen fruchtbar machen:

Gestalten sind nämlich nicht ausschließlich räumliche, sondern ergeben sich auch aus zeitlichen, thematischen oder emotionalen Zusammenhängen. So kann eine Diskussion, ein Vortrag, eine Vorlesung oder ein Seminarbeitrag als Gestalt aufgefaßt werden, die sich deutlich vor einem zeitlichen und thematischen, in aller Regel auch räumlichen Hintergrund abhebt. 

Mit diesem neuen Vokabular können wir also sagen: Raum ermöglicht das Formen von Gestalten. Hängen diese inhaltlich oder emotional zusammen, bildet der Raum eine Art Super-Gestalt und wird zum gestimmten Raum. Gestimmt Räume sind keine Naturerscheinung wie Wolken oder Steine. Sie bedürfen des Hintergrundwissens einer Gemeinschaft und sind immer Ergebnis einer Konstruktionsleistung. Die herrschenden Konstruktionsformen werden im Sozialisationsprozeß weitergegeben, modifiziert, erlernt und reproduziert. Mit Abschluß der Ausbildungsphase steht jedem Individuum ein Repertoire zur Verfügung, mit dem gegebene Situationen und Räume interpretiert werden können. Unter dem Entwicklungsparadigma des Lebenslangen Lernens verflüssigen sich diese Schemata zu Prozessen kontinuierlicher Neuorientierung und permanenter Einarbeitung neuer Versatzstücke. Insbesondere in Zeiten der Um- und Neuorientierung wird der konstruktive Charakter gestimmter Räume deutlich, beobachtbar, beschreibbar. Diesen Umstand kann man nutzen, um Rahmenbedingungen aufzustellen, welche die Konstruktion neuer Räume erleichtern.

Zur Konstruktion virtueller Räume

Nachdem wir den Raumbegriff vom konkreten physikalischen Raum gelöst und auf die Erfahrung eines Raumempfindens zurückgeführt haben, stellt sich der virtuelle Raum dar als Raumempfindung ohne physikalischen Träger, als ortsloser Raum. Ganz im Sinne von Deleuzes Begriff der Virtualität als Antipoden der Realisation beruht der virtuelle Raum in unserer Terminologie zunächst auf der Möglichkeit, Gestalten auszuformen, mithin auf der Möglichkeit der Interaktivität. Ohne die Möglichkeit, in einen Gestaltbildungsprozeß aktiv eingreifen zu können, bildet sich kein Raumgefühl aus, das unterscheidet z.B. Fernsehen von Videospielen. Eine Benutzerschnittstelle, mit der Teilnehmer an verschiedenen Orten die gleichen Prozesse beeinflussen können (Raum ist ja die Möglichkeitsbedingung) ó miteinander kommunizieren, symbolische Repräsentationen von Gegenständen bewegen etc. ó ist unbedingte Voraussetzung jedes virtuellen Raumes. Textbasierte oder grafische MUDs, Graphic Engines für Videospiele oder Videokonferenzsysteme bilden eine solche Schnittstelle und können geeignet kombiniert werden, um Interaktion akustisch, symbolisch und visuell zu ermöglichen. Je mehr Sinne am Gestaltbildungsprozeß beteiligt werden können, desto intensiver wird das Raumempfinden ausfallen. 

Während ein ortsgebundener Raum einfach da ist, bedarf der virtuelle Raum der beständigen Konstruktionsleistung seiner Besucher. Er muß regelmäßig sein Umgebensein bestätigen, soll er nicht zur bloßen Fassade zerfallen. In einem beschränkten technischen Rahmen sind natürlich auch die Gestalten beschränkt, die gemeinsam geformt werden können. 

Waren die Ausführung bis zu diesem Punkt allgemein gehalten, so beziehen sich die folgenden Beispiele direkt auf die gewählte Problemstellung, einen virtuellen Lernraum zu schaffen: Der technische Rahmen sieht eine Duplex-Video/Audioübertragung zwischen den Standorten A und B vor. Darüber hinaus wird von der typischen Situation ausgegangen, daß zu jedem Zeitpunkt eine Person im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Beteiligten steht, wobei zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Personen an verschiedenen Standorten diese Rolle ausfüllen können. Der Mittelpunkt ist beispielsweise der Dozent in einer Vorlesung, der Referent oder Diskussionsteilnehmer in einem Seminar, der Übungsgruppenleiter in einer Übung etc. Der metteur en scène muß sich entscheiden, ob er bei einem Vortrag das Bild des Vortragenden oder das Bild des Publikums von A nach B überträgt, wieviel Kontext er in eine Kameraeinstellung einbezieht und welche Hintergrundgeräusche er zuläßt. Jede dieser Übertragungen übermittelt nach B Ausschnitte, aus denen die dort Anwesenden den Gesamtrahmen konstruieren müssen. Der Rückkanal ermöglicht es, aktiv an der Ausschnittswahl beteiligt zu werden.

Mit der Notwendigkeit, aus den möglichen Gestalten auswählen zu müssen, ergibt sich auch die Forderung, die ausgewählten möglichst behutsam und widerspruchsfrei zu übertragen. Eine gebrochene Gestalt kann nur unter erheblichem Aufwand wieder zusammengefügt werden und würde den ohnehin sensiblen Konstruktionsprozeß unnötig belasten. Als Faustregel gilt: erlernte Erwartungen bestätigen, um so auch mit der Übertragung von Ausschnitten ó Teile des Publikums, bei Fragen oder Bemerkungen lediglich die Stimme - Erinnerung und Antizipation zu nutzen. Die Erwartungen der entfernten Seite sollten bevorzugt bestätigt werden, weil für sie Kontexte nicht übertragen werden können und die Konstruktionsleistung bei ihnen liegt. 

Die folgenden Rahmenbedingungen teilen sich in zwei Gruppen: Die Inszenierung der Veranstaltungsorte bezieht sich auf den Aufbau des technischen Rahmens ó Plazierung der Kamera, Beamer, Beleuchtung, Sitzplatz, Einrichtung des Desktops etc.- der vor der Veranstaltung eingerichtet wird. Hinweise zur Inszenierung der Veranstaltung beziehen sich auf den Ablauf und richten sich an alle Beteiligten. Jede Entscheidung vor und während der Veranstaltung ist zugleich eine Designentscheidung und hat Einfluß auf das Gesamtbild und die Atmosphäre. Die folgende Liste erhebt nicht den Anspruch der Vollständigkeit und kann nicht alle möglichen Aufbauten berücksichtigen. Im Zweifelsfall sollte die Frage entscheiden, ob und wie die gewählte Übertragung den Beteiligten bei der Konstruktion des virtuellen Raumes helfen kann. 

Inszenierung der Veranstaltungsorte

  • Das Videobild einer Person sollte möglichst vollständig übertragen werden. Ein Verlassen des Kamerabildes hat zur Folge, daß die Person den virtuellen Raum verläßt.
  • Die Person sollte sich klar von ihrem Hintergrund abheben, sei es durch Beleuchtung, sei es durch Kameraeinstellung.
  • Das Bild der Person sollte im Maßstab 1:1 projiziert werden.
  • Die Projektion sollte auf normaler Höhe erfolgen, eine projizierte Person sollte nicht über dem Boden schweben.
  • Sitzt die Person in Standort A auf der linken Seite, sollte sie auch in Standort B auf der linken Seite projiziert werden, um eventuelle Gesten auf die rechte Seite nicht an die Wand laufen zu lassen. Wird zusätzlich ein Tafelbild übertragen, sollte die räumliche Beziehung Person/Tafelbild bei der Projektion erhalten bleiben, d.h. zeigt die Person nach rechts auf die Tafel, so sollte auch die das Tafelbildes rechts von der Person projiziert werden.
  • Die Projektion des Ortes B und die Kamera sollten in Ort A auf der gleichen Blickachse stehen, damit Fragen von B nach A mit Blickkontakt auf die Projektion und gleichzeitig in die Kamera beantwortet werden. Falls dies nicht möglich ist, sollte in die Kamera gesprochen werden und nicht zum projizierten Bild. Die Erwartungen von B einer Kommunikation mit Augenkontakt wiegt mehr als die gleiche Erwartung von A. 

Inszenierung der Veranstaltung

  • Eine Veranstaltung sollte einen klaren Anfang und ein klares Ende haben.
  • Nicht übertragene Kontexte sollten expliziert werden, weil sie ansonsten konstruiert werden, was Aufmerksamkeit und Konzentration bindet.
  • Ein Redebeitrag sollte klar eingegrenzt sein.
  • Rituale, z.B. Begrüßung, Verabschiedung, Wortmeldungen etc. halten den Zusammenhang aufrecht. 
  • Allgemeiner formuliert sollte jede Situation ó Vortrag, Wortmeldung, Frage, Diskussionsbeitrag, Tafelanschrieb etc. - klar eingerahmt werden und nicht in mit den angrenzenden Situationen verwischen. 
  • Insgesamt müssen alle Beteiligten sich mehr um die je virtuell Anwesenden kümmern, als um die real Anwesenden.

Da insbesondere bei Aufnahmen von Gruppen die Übertragung der Körpersprache - d.h. Gestik und Mimik ó sehr eingeschränkt ist und im Zweifel asynchron, zumindest aber mit deutlicher Verzögerung übertragen wird, setzen wir zur Anreicherung der Veranstaltung ein grafisches MUD ein. Inszenierungsrahmen, Erfahrungen und Ergebnisse dieser augmented reality werden in einem anderen Artikel diskutiert.