Ein digitaler Katalog oder: Wie sieht man Film in einem Buch

Lena Bonsiepen

(erschienen in: J.Paschen, U.Spies, D.Ziegert (Hrsg.): Kein Respekt vor heiligen Kühen - Gordian Troeller und seine Filme. Bremen: edition con, 1992)

»How to read a film - Wie liest man einen Film« lautet der amerikanische Originaltitel von James Monacos Geschichte und Theorie des Films [J. Monaco, Film verstehen, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980]. Monaco beantwortet diese Frage eher konventionell, indem er die Filmkunst in den historischen und ästhetischen Kontext anderer Künste und Medien einordnet und ihre spezifische Semiotik analysiert. Für die Leser von Büchern über Filme evoziert die Frage jedoch darüber hinaus reichende Assoziationen: Wir sind gewöhnt, beim Lesen eines Filmbuchs uns den Film zu denken, falls wir ihn kennen, auf die nächste Ausstrahlung im Kino oder Fernsehen zu warten oder - vermutlich selten - ein Video zu sehen, falls es verfügbar ist. Das Nebeneinanderstellen von Text und Filmsequenz ist technisch nicht oder nicht einfach realisierbar. Fotos bleiben die einzige Möglichkeit, im Buch eine Spur der Bewegung des Films festzuhalten.

Film als Kunstwerk ist linear, er erzählt eine Geschichte wie der Roman; die Rezeption eines Films anders als auf der Leinwand oder dem Monitor in der Zeit in der vom Regisseur beabsichtigten und montierten Sequentialität ist nicht möglich. Anders sieht es bei der Filmanalyse aus. Jean-Luc Godard forderte anläßlich seiner Filmkurse am Conservatoire d'Art Cinématographique in Montreal einfache technische Möglichkeiten, um seine »wahre Geschichte des Kinos« schreiben zu können. Ihm blieb 1978 nur die zeitliche und räumliche Trennung zwischen Vorlesungs- und Kinosaal - eine Behelfslösung: »Man muß sich den Film anschauen können, aber nicht in einer Projektion, weil man da immer sagen muß: Wir haben doch vor einer Dreiviertelstunde gesehen, erinnern Sie sich ... Das bringt nichts. Man müßte das sehen und danach vielleicht eine andere Großaufnahme, aber zusammen. ... Und dabei müßte es doch die einfachste Sache von der Welt sein, da sich's nur um Bilder handelt, um ein Fotoalbum. Dieses Fotoalbum ist da, aber an die Mittel, um es durchzublättern, kommt man nicht ran. ... Ich habe eine Vorstellung von der Methode, aber nicht die Mittel.« [J.-L. Godard, Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, München - Wien: Hanser, 1981]

Wir kennen Godards Methode nicht, aber wir haben die Mittel, die er sich möglicherweise wünschte: den Computer als programmierbares Medium, der die Integration von Dokumenten unterschiedlicher medialer Qualität und die Auflösung der sequentiellen Form des Films technisch möglich macht. Am Computer ist es möglich, Filmsequenz neben Filmsequenz zu setzen und Film mit Text zu kombinieren. Das »Lesen eines Films« für den Cinéasten oder den Filmwissenschaftler erfährt so von den technischen Mitteln her Weiterungen. Vor deren Freisetzung für eine tatsächlich erweiterte Rezeption von Filmen steht jedoch die Aufgabe, neue Formen des Lesens und des Schreibens von Filmbüchern mittels des neuen technischen Mediums Computer zu entwickeln.

Ein solcher Versuch wurde anläßlich der Retrospektive des filmischen Werks Gordian Troellers unternommen. Nennen wir das Ergebnis bescheiden einen digitalen Filmkatalog, der Material zu den zwölf Filmen der Reihe »Frauen der Welt« enthält. Die Beschränkung auf diesen Ausschnitt aus Gordian Troellers Werk ist nicht inhaltlich bestimmt. Sie ist der Preis für die Menge an Speicherplatz, den Film in digitaler Form - Voraussetzung für seine Präsentation im Computer - noch benötigt: eine Beschränkung, die durch die zukünftige Verfügbarkeit billiger beschreibbarer Massenspeicher überflüssig wird.

Im digitalen Katalog sind Materialien zu den zwölf Filmen enthalten: Texte über die Filme, Standbilder, Filmsequenzen, Pressestimmen, Zuschauerreaktionen, Bestandteile der Biographie Gordian Troellers und seiner Mitarbeitenden ... Diese Materialien sind als Bausteine vorhanden, d.h. sie sind nicht von vornherein angeordnet. Der Lesende ordnet die Bestandteile, indem er oder sie einen individuellen Gang durch den Katalog unternimmt. Ausgangspunkt kann ein bestimmter Film sein, der über die Personen des technischen Stabs oder das Land, in dem er gedreht wurde, oder die Art der Kameraführung zu anderen Filmen führt. Ebenso ist es möglich, über einen Namen in den Katalog einzusteigen und von dort aus den jeweiligen Pfad anzulegen. Insofern ist der digitale Katalog eine Ausprägung des Blätterns und Suchens im papiernen Buch, jedoch erweitert durch die im Computer einfache und direkte Realisierung von Suchvorgängen und Indizierungsstrukturen. Neben der Integration von Bewegtbildern in den Textkorpus geht der digitale Katalog auch in dieser Realisierung einer netzartigen, individuell bestimmbaren Ordnung des Lesens über die Möglichkeiten eines gedruckten Filmkatalogs hinaus.

Schwachpunkt des Mediums Computer gegenüber dem Buch bleibt vorläufig die Lesbarkeit von Texten am Monitor. Das Lesen größerer Textpassagen am Bildschirm ist nur unter Zwang und niemals genußvoll möglich. So muß gegenwärtig ein notwendiger Bestandteil des digitalen Katalogs der Drucker sein, auf dem ein papiernes Dokument des Pfads durch den Katalog oder der eigenen Notizen, die während des Lesens entstanden sind, erstellt werden kann.

Ob wir, die Autoren des digitalen Katalogs, das technische Potential des neuen Mediums Computer bei diesem Katalog angemessen entfaltet haben, ob wir insbesondere dem filmischen Werk Gordian Troellers gerecht werden, bleibt auch und in erster Linie den Lesern überlassen. Für uns zeichnen sich jedoch über diesen konkreten Versuch des Schreibens mit dem Computer hinaus vielfältige Perspektiven des Einsatzes von Rechnern für die Arbeit mit und an Filmen, in Filmarchiven oder Produktionsstudios ab. Die Möglichkeit, digitales Filmmaterial beliebig oft und verlustfrei vervielfältigen zu können, ist dabei ein einfacher, wenn auch keineswegs unbedeutender Vorteil. Es steht fest, daß die Nutzung des Computers die Bedingungen der Rezeption von Filmen erweitern kann. Er bietet auch die technische Voraussetzung, den linearen Erzählgestus des Films zu verlassen. Ob dies beabsichtigt ist und in welcher Form sich dadurch die Ästhetik des Films verändert, bleibt eine offene Frage.