Dies ist ein Abdruck des Redemanuskripts eines Vortrags vom 5.12.97 anläßlich des Symposiums "Wissenschaft und Internet" in Berlin. Er ist nicht abschließend korrekturgelesen.

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Zukunft des Wissens - Zukunft des Lernens

Wolfgang Coy



1. Verfügbarkeit des Wissens

"Die Kunst der Künste, die Wissenschaft der Wissenschaften", als die Werner Rolevinck 1488 die Kunst des Buchdrucks preist, hat einen klaren Zweck: allgemeinen Zugang zu Wissen und Weisheit. Ich zitiere aus dem Fasciulus Temporum: "Dank der Schnelligkeit, mit der sie gehandhabt wird, ist sie ein begehrenswerter Schatz an Weisheit und Wissen, nach dem sich alle Menschen aus natürlichem Trieb sehnen, der gewissermaßen aus tiefem, finsterem Versteck hervorspringt und diese Welt, die im Argen liegt, gleichermaßen bereichert und erleuchtet. Die ungeheure Menge von Büchern, die einst in Athen oder Paris, an anderen gelehrten Städten oder in geistlichen Bibliotheken nur ganz wenigen Gelehrten offenstand, breitet sich dank dieser Kunst nun überall aus, in jedem Stand und Volk, in jeder Nation und Sprache...".

Und Leonardo da Vinci formuliert die Vision präzise in seinem Tagebuch: "Ein jeder lernet das Lesen darum, daß er Gottes Wort und etlicher gottgelehrter Männer Auslegung darüber selbst lesen und desto besser darin urteilen kann."

So ganz einfach ist die Interpretation der "Schrift" und der "Schriften" denn doch nicht, und so regt sich 1485, nach einer Bedenkzeit von drei Dezennien nach der Erfindung des Henne Gensfleisch, der Mainzer Bischof Berthold von Henneberg: "Denn wer wird den Laien und ungelehrten Menschen und dem weiblichen Geschlecht, in deren Hände die Bücher der heiligen Wissenschaft fallen, das Verständnis verleihen, den wahren Sinn herauszufinden?" Die ordnungspolitische Lösung dieses Zugangskonflikts und für das Problem der Qualitätssicherung sehen der Bischof und seine Juristen bei den Experten. Es wird angeordnet "daß man keine Werke, welcher Art sie seien, welche Wissenschaft, Kunst oder Erkenntnis sie auch immer betreffen, aus der griechischen, lateinischen oder einer anderen Sprache in die deutsche Volkssprache übersetze oder übersetzte Werke, unter welcher Abänderung oder welchem Titel auch immer, verbreite oder erwerbe, öffentlich oder heimlich, unmittelbar oder mittelbar, sofern nicht die zu drukkenden Werke jeweils vor dem Druck, die gedruckten vor dem Vertrieb durch eigens dazu bestellte Doktoren und Magister der Universität in unserer Stadt Mainz bzw. durch solche in unserer Stadt Erfurt, durchgesehen und mit einem Sichtvermerk zum Druck oder Vertrieb freigegeben worden sind..."

Die heilige Schrift und ihre Exegese wird also der Zensur zugeführt. Der Kampf gegen die kirchliche Zensur prägt im historischen Fortgang das Selbstverständnis der Wissenschaften und der Lehre. Es wird zum Zusammenprall zweier kultureller Linien, zweier Weltverständnisse, die sich in langem Streit in einem komplexen Geflecht politischer und rechtlicher Austarierungen niederschlagen.

Es ist weniger die Neuinterpretation der Bibel durch die Reformatoren, als die Lektüre des anderen Textes, des "Buches der Natur" durch die neuzeitlichen Naturphilosophen und Naturwissenschaftler, die die Entwicklung zur Moderne vorantreiben. Das Buch der Natur sei in mathematischer Sprache geschrieben, vermerkt Galileo Galilei, und "seine Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die der Mensch nichts davon verstehen kann." François Viète erweitert den Zeichensatz um die algebraischen Gleichungen und René Descartes entwickelt daraus eine allgemeine reduktionistische Methode, deren Fundament die Arithmetik und die Geometrie bilden: "Fürwahr, aus alledem folgt nicht zwar, daß man allein Arithmetik und Geometrie betreiben soll, aber doch, daß die, welche den rechten Weg zur Wahrheit suchen, sich mit keinem Gegenstand beschäftigen dürfen, von dem sie nicht eine den arithmetischen und geometrischen Beweisen gleichwertige Gewißheit zu erlangen imstande sind."

Solchen Kriterien gehorcht nicht viel vom alten Wissen. Mit Descartes beginnt eine Neuordnung des Wissens, die einen ersten Abschluß in der Aufklärung und deren Bibel, der großen Französischen Enzyklopädie, findet. Aufklärung und in deren Gefolge die erste Alphabetisierung der europäischen Bevölkerung durch die Einführung allgemeiner Schulpflicht, werden zum ideologischen Gerüst moderner demokratischer Staaten. Drei Ziele will die aufklärerische Ausbildung erreichen:

Die allgemeine Lesbarkeit des Gesetzes mit der Folge, daß "Unkenntnis nicht vor Strafe schützt",

die Lesbarkeit der Welt - als Technik mit vorhersagbarem Erfolg und, zum Ersatz der gestürzten Interpretationshoheit der Kirche:

die Einsicht in die "Vernunft", ob als Göttin in Paris, als allgemeines Sittengesetz in uns und in Königsberg oder als Einsicht in die Notwendigkeit in Berlin.

Doch der von Kant beschworenen"Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" kann von keiner Ausbildung garantiert werden. Hier sind schwerwiegendere Bestimmungen wirksam: Gelebte politische Alltagskultur, nicht erlerntes Wissen. Und so arbeiten wir Nachzügler auch heute noch am "Projekt Aufklärung".

Die Ordnung des Wissen ist freilich andere Wege gegangen. Die Etablierung der Wissenschaften als Leitideologie demokratischer Gesellschaft geht einher mit zunehmender technischer und industrieller Verwertung; einer Industrialisierung des Wissens, dessen vorläufigen Höhepunkt wir nun mit Einführung der offenen globalen Rechnernetze erleben.

Überall und gleichzeitig wird das verwertbare Wissen angeboten. Freilich auch in jeglicher Form, von jeglicher Art und in jeglicher Güte. Die Qualität des Wissens, auf dessen Pflege von der Enzyklopädie bis zu den Curricula der Landesschulämter soviel Wert gelegt wird, ist im Internet plötzlich unkontrolliert und überall erhältlich. Wissen ist, von seinen Hütern unbemerkt, zur Ware geworden. Was würde der Mainzer Bischof Berthold von Henneberg uns heute raten? Er hat seine Nachfolger - im Innen- und Justizministerium, in militärischen Kreisen, in wissenschaftlichen Zirkeln, in geneigten Redaktionen.

Aber: Berthold von Henneberg hat die Reformation nicht verhindert. Auch diesmal sprechen gewichtigere Gründe für die Öffnung und Verteilung des Wissens als gegen sie. Die Macht des technisch und ökonomisch Machbaren wird sich als faktische Macht des Marktes erweisen. Industrialisierung des Wissens bringt freilich eine unübersehbare Verschiebung der Gewichte mit sich. Jenseits des orientierenden Charakters der Bildung ist der Wunsch nach technischer und ökonomischer Umsetzung des Wissens in den Vordergrund getreten. Dies bewirkt eine Dominanz des operationalen Verfügungswissens, die im Internet zum weltweit verfügbaren, aber keineswegs zum leicht interpretierbaren Wissens wird. Die über lange Dauer entwikkelte Ordnung des Wissens muß neu erdacht werden.

2. Zukunft des Lernens

Produktion und Distribution des Wissens sind logisch getrennte Vorgänge. Die Humboldtsche Universitätsreform hat eine, zweifellos stark von der Aufklärung und den Zielen der französische Revolution beeinflußte, Re-Definition der Ausbildung und des Lernens als Bildung formuliert, in der Produktion und Distribution, Forschung und Lehre als Einheit beschworen wurden. Dies war perfekt auf die studentische Population zur Zeit der Befreiungskriege zugeschnitten. "Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Prinzipien..." schreibt Wilhelm von Humboldt. Angesichts der Tatsache, daß heute 40% der Jugendlichen eine akademische Ausbildung anstreben, sind die Humboldtschen Vorstellungen von Einsamkeit und Freihei, die im konservativen Lager gern berschworen wird, wohl so illusorisch wie seine meisterliche Idee der forschenden Lehre und der lehrenden Forschung, die einst zum Gründungsinventar der Reformuniversitäten der Siebziger gehörte. Lernen und Ausbildung verfolgen da, wo ein Studium für die meisten Jugendlichen der normale Weg zum Beruf geworden ist, widersprüchliche und differenzierte Ziele:

Der Idee der Humboldtschen Universität, an der der preußische Staat "durch geistige Kräfte ersetzen (soll), was er an physischen verloren hat", steht als heutige Praxis die Vermittlung berufsqualifizierenden und immer öfter auch berufsbezogenen Fachwissens zur Seite. Prüfungen sollen der Qualitätssicherung dienen und die Ausgangslage für eine berufliche Karriere schaffen. Allein: die künftigen Arbeitgeber unterziehen den Prüfungsbeleg einer immer kritischeren Kontrolle - und es ist allen Beteiligten bekannt, daß Brief und Siegel einer Universität auch nur eine Etappe im lebenslangen Lernprozeß markiert. Die Prüfung ist also keine dauerhafte Qualitätsaussage mehr.

Die klassischen akademischen Ziele, staatsloyale Bildung und gesicherte Qualität beim Abschluß des Studiums, scheinen heute weder hinreichend noch erreichbar. Auch das neue Ziel Berufsfähigkeit wird nicht erreicht - und sperrt sich gegen die ideologisch noch immer ersehnte Einheit von Forschung und Lehre. Gesucht ist also eine angemessene Anpassung des Wissenserwerbs an die Herausforderungen der Welt offener, globaler Digitaler Medien. Die Universität wird dies nicht leisten können - und ich glaube, sie wird es auch nicht wollen.

Dies ist nicht allein Schuld der akademischen Ausbildung, auch wenn diese immer wieder reformiert wird und reformiert werden soll. Es ist ein Ergebnis moderner Berufsbilder, die unter stetem Anpassungsdruck stehen.

Lernen kann deshalb keine staatlich verordnete Jugendbewegung mehr sein. Gefordert ist selbstverantwortetes lebenslanges Lernen nach Anforderungen und Wünschen der Beteiligten. Wir müssen ernst machen mit der Vorstellung, daß Schule und Universität das Lernen lehren sollen - und das heißt: nicht mehr als die schlichten Grundlagen später zu erwerbenden Fachwissens legen. Damit wächst dem Bildungsaspekt eine neue Bedeutung zu: Schule muß bewußt sozialisieren - mit dem Schwerpunkt auf Eigenverantwortung für sich und die Gemeinschaft. Die fortwährende fachliche Spezialisierung soll außerhalb von Schule und Hochschule erfolgen. Der Zeitpunkt fachlicher Vertiefung soll dem bedarf entsprechen. Lernen auf Vorrat muß sich vor allem auf die Grundlagen, Methode und Technik beziehen.

Auch die in vielen, besonders den staatlichen, Organisationen hoch gehaltene Vorstellung der Qualitätssicherung in den Lehrjahren wird damit relativiert. Dies entspricht freilich längst der beruflichen Praxis. Daß Techniker und Wissenschaftlerinnen ständig neu lernen müssen, geschieht quasi per definition. Doch welcher Journalist arbeitet heute noch wie vor zwanzig oder auch nur vor fünf Jahren? Welche kaufmännische Angestellte kommt heute ohne Computer, Fax oder E-Mail aus? Selbst im Bundestag werden die Digitalen Medien immer intensiver genutzt. Man schreibt nicht mehr an seinen Abgeordneten, man faxt oder mailt - wenn man nicht zu den Wenigen gehört, die die richtige Handynummer kennen. Die Bedeutung externer Weiterbildung im Beruf kann also gar nicht unterschätzt werden. Wenig überraschend hat auch hier die Freiheit einen Preis: Lernen wird mehr und mehr eine selbst zu verantwortete Aufgabe. Was die Gesellschaft freilich ihren Anfängern in Schule und Hochschule vermitteln muß, sind die Fertigkeiten des selbst verantworteten Lernens. Sie wird keine Garantie für Erfolg geben können, aber sie kann und soll den Lernprozeß im späteren Leben auch nicht gängeln oder abprüfen. Verantwortung für das eigene Leben kann ein Lernziel in frühen Jahren, aber keine betreute Veranstaltung mit Brief Siegel bis zum dreißigsten Lebenjahr sein. Die Bewertung beruflicher Qualifikation hat letztlich am Arbeitsplatz und im Alltag zu erfolgen.

Dies zu akzeptieren, und ich glaube, daß dies eine essentiell demokratische Forderung ist, muß nun aber zwei Folgen haben: deutlich kürzere Initialisierungsphasen des Lernens, z.B. durch Wegfall des dreizehnten Schuljahrs und durch ein minimales Grundstudium etwa mit dem Standardabschluß eines Bakkalaureats und lebenslanges Lernen, befähigt durch eine geeignete anfängliche Ausbildung, unterstützt in beruflichen und außerberuflichen Strukturen.

Sicher wird es weiterhin die Ausbildung zum Beruf des Forschers oder der Forscherin geben, auch zu komplexen Berufsbildern wie dem des Arztes, aber dies sind eher untypische Berufsbilder unter vielen anderen und nicht die einzigen. Eine klare Trennung von wissenschaftlicher Produktion als Beruf und erfolgreicher akademischer Ausbildung scheint mir dringend geboten. Es ist absurd, leistungsfähigen und arbeitswilligen Jugendlichen eine Lebensplanung mit einer Ausbildung zum Hochschulnachwuchs aufzuzwingen &endash; und ihnen anschließend vorzuwerfen, daß sie zu viel Zeit an der Universität verbrachten.

Neue Technologien des Lernens mögen in einem solchen Rearrangement nützlich sein. Neue Formen des Angebots sind unverzichtbar. Angebote werden nicht allein im staatlichen Sektor liegen und sie werden nicht nur lokal bereit stehen. Die staatlich geprüfte Rundum-Bildung stößt an ihre Grenzen.

Das lädt zu Experimenten ein - und es wird eine steile Lernkurve für die Gesellschaft darstellen. Deutschland kann in dieser Frage eine Exportnation werden, wenn denn Lernen, Bildung und Ausbildung ernsthaft zur Diskussion gestellt werden - und wenn wir bessere Lösungen finden als die weitere Umwandlung der unter Druck geratenen Hochschulen in eine flächendeckende Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

3. Globale Widersprüche

Die Universitäten geraten angesichts der schnellen Entwicklung an die Grenzen ihres bisherigen Selbstverständnisses, an die Grenzen ihrer gewachsenen Wissensordnung. Wilhelm von Humboldt definierte vier große Wissensfreiheiten der Wissenschaften:

die Trennung von Wissen und Eigentum, mit der wissenschaftliche Erkenntnis zu herrenlosem Wissen erklärt wird,

die Trennung von Ideen und Interessen, mit der die Suche nach Wahrheit unabhängig vom Eigeninteresse einzelner Forscher verfolgt werden soll die Trennung von Theorie und Praxis, die zur Alimentation der staatlichen Forschungsgruppen führt und die Trennung von Wissenswelt und Staat, die der Universität autonomes Handeln in ihrem Bereich gegenüber Staat und Kirche verspricht.

All dieses hat nie uneingeschränkt gegolten und es gilt auch heute nicht. Es wäre überdies zu fragen, ob diese Humboldtschen Ideale, die der preußischen Wirklichkeit entgegen gedacht waren, in einem demokratischen Staat überhaupt sinnvoll sind. Aber dies ist nun einmal unsere implizite und explizite Wissensordnung - bis hinauf zum Art. 5(3) GG, der Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre verspricht.

Andere Länder und Regionen haben andere Vorstellungen entwickelt. Im Netz treffen diese mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander. Wissen kann in einer neuen, global orientierten Wissensordnung völlig unterschiedlich bewertet werden: Als öffentliches - herrenloses - Gut, als das es im Kontext der Universitätswissenschaften in europäischen Ländern gilt, oder als Ware, wie es den Medienkonzernen in Hollywood und anderswo vorschwebt, oder aber als "kulturelles Erbe der Menschheit", wie es die Unesco bewertet. Mit der Globalisierung werden die national unterschiedlichen Auffassungen zur Wissensordnung in eine transnationale Konkurrenz und Konvergenz gezwungen. Sie wird derzeit überwiegend durch die Interessen und Entscheidungen international operierender Medienkonzerne geformt.

Neue Wissensstrukturen und Wissensorganisation werden nicht ohne Einfluß auf die Inhalte bleiben. Schon die stark erleichterte Produktion und der Wegfall der Filter durch Verlage und Druckkosten lassen eine Flut veröffentlichten Wissens zu, das früher (oft auch: besser) privates Wissen geblieben wäre. In der Universitätsbibliothek erwarten wir nur wissenschaftliches Wissen mit logischer Begründung und klar abgestecktem Geltungsbereich. Im Netz hingegen finden wir, wie in einer Bahnhofsbuchhandlung, Wissen jeglicher Art und jeglicher Güte - in globalem Maßstab.

Weltweiter Zugriff und Austausch legt die kulturelle Vielfalt des Wissens offen. Differenzen und Antagonismen werden überall sichtbar. Die missionarische Phase eurozentrischer Aufklärung geht zu Ende. Mancher mag dies als Bedrohung empfinden und es istnicht zu verheimlichen, daß jede Kultur unter den Bedingungen offener, globaler Netze notgedrungen immer mehr Fremdes als Eigenes vorfinden wird. Dies gilt selbst für Kalifornien. Ich finde es bemerkenswert, daß auch die immer wieder mahnend beschworene Dominanz der englischen Sprache im Internet in den letzten Jahren relativiert ist - man schaue sich nur die Web-Pages süd- und lateinamerikanischer oder französischer, aber auch asiatischer Einrichtungen an.

Öffnung der eigenen Kultur für das Fremde kann aber auch als Bereicherung empfunden werden. Die jetzige Situation scheint mir vergleichbar mit dem Fall der Zunftgrenzen im Zuge der Steinschen Reformen von 1807. Die Sicherheit der Zunft verschwand, aber selbst die geschützten Gesellen empfanden angesichts einer Zunftordnung, die überwiegend als Zwangsjacke und Gängelband wirkte, deren Zerschlagung als Befreiung. Die neue Freiheit war allerdings auch die Freiheit, seine Arbeitskraft als Ware anbieten zu müssen. Eine Herausforderung, der wir gesellschaftlich bis heute nur mangelhaft begegnen.

Rationalität als zweckgerichtete Tätigkeit ist zur großen gesellschaftlichen Triebfeder geworden. Wissenschaft und Technik haben dazu die Meinungsführerschaft übernommen. Sie sind zum bestimmenden Glaubenssystem unserer Gesellschaft geworden, das nun auf die seltsamsten Arten in das gesellschaftliche Selbstverständnis eindringt. Die Ordnung des Wissens legt zuviel Wert auf die Ordnung und zu wenig Wert auf die Bewertung des Wissens.

Wir sollten Lehre und Schule in diesem Prozeß zurücknehmen zugunsten einer fortwährenden, lebenslangen Chance des Wissenserwerbs. Andere Formen der Vermittlung, Fort- und Weiterbildungsangebote als Kurse, als Zeitschriften, als Bücher, in den Medien, in Digitalen Speichern und als Netzangebote können an die Stelle des nicht länger haltbaren Modelles einer initialen Ausbildung in den ersten drei Lebensjahrzehnten treten. Der Einsatz dieses nach Bedarf und Neigung Erlernten muß von den konkreten Anforderungen und Wünschen der einzelnen Menschen geleitet sein, nicht von Curricula mit immer detaillierterer und umfassenderer Bildungsplanung. Die Vermittlung dieses Wissens, nicht mehr als staatlich sanktionierte Lehre, sondern in wählbaren und bewertbaren Angeboten, wird zur neuen Aufgabe. Denn mit dem Rekurs auf eine staatlich überwachte, wissenschaftliche Bildungs- und Lebensplanung leiden beide Seiten: Die Wissenschaft als Produktionsprozeß und die Gesellschaft als Zielgruppe der Scientifizierung, die ja keineswegs den inneren Kriterien des Diskurssystems Wissenschaft gehorchen kann oder will. So scheint es mir symptomatisch, daß das Wort "korrekt"immer seltener für ein akzeptiertes wissenschaftliches Ergebnis oder ein passendes technisches Element verwendet wird, sondern für die normative Setzung politischer Meinungen. Statt einer immer weitergehenden Verwissenschaftlichung der Argumentation scheint mir eine Besinnung auf praktische Vernunft nötig - und sinnvoll. Angesichts der transnationalen, kulturellen und politischen Öffnungen ist eine solche Forderung freilich billig, denn sie ist unausweichlich. In der offenen, vernetzten Weltgemeinschaft wird es keine Einheit des Wissens mehr geben können, schon gar keine Einheit zwischen zweckrationalem und orientierendem Wissen.

Diese Widersprüche zu vereinbaren, ist eine Aufgabe, die nur in den Köpfen der Menschen gelingen kann. Vernunft muß dem Glaubenssystem Wissenschaft eine angemessene Rolle zuordnen, indem sie es immer auf Neue kritisch nach seiner Brauchbarkeit für das Leben bewertet. Die Befähigung zu einer solchen kritischen Bewertung scheint mir das wichtigste Lernziel in einer offenen, transnationalen Gesellschaft - eine Lehre, die nicht allein in der Schule oder Hochschule vermittelt werden kann, sondern die eine wahrhaft lebenslange Aufgabe ist. Dann ist es vielleicht noch nicht spät für eine Einheit der Vernunft, die freilich täglich neu zu erzeugen ist.

 


Adresse des Verfassers:

Prof. Dr. Wolfgang Coy
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