Volker Grassmuck
ILA Schwerpunkt: Gemeingüter, März 2009
Seit zwei Stunden sind wir unterwegs vom Zentrum in den Süden von São Paulo. Unser Ziel ist eine Eckkneipe im Stadtteil Campo Limpo, in der sich jeden Montag Literaturbegeisterte zum „Sarau do Binho“1 treffen. Vom Liebesgedicht bis zur politischen Anklage, von der Ballade bis zum Rap – die Bühne steht allen offen. Das etwa fünfzigköpfige Publikum aller Hautfarben folgt den Darbietungen mit großer Aufmerksamkeit. Oft schließen sich leidenschaftliche Debatten an. Zwischendurch verkaufen einige der anwesenden Dichter ihre liebevoll gestalteten, selbstverlegten Werke. Die Menschen in der Peripherie sind, wie der Stadtgeograph Milton Santos herausgearbeitet hat, von der urbanen Infrastruktur São Paulos abgeschnitten. Hier gibt es keine Krankenhäuser, Parks, Museen, kaum Schulen. Schon der Preis für den Busfahrschein ins Zentrum ist eine Hürde, und selbst wenn sie ihn sich leisten könnten, was sollten sie dort, in der Stadt der Reichen? Die wirtschaftliche Metropole Brasiliens enthält diesen Menschen fast alles vor, doch eines kann ihnen niemand nehmen: ihre Sprache, ihre Musik, den Willen sich auszudrücken. Saraus sind traditionelle Feste, auf denen jeder etwas zum Besten gibt. Seit zwei Jahren hat Binho, der sich mit poetisch-politischen Interventionen in den Stadtraum und die Wahlkämpfe einen Namen gemacht hat, mit seinem literarischen Sarau einen besonderen Ort geschaffen und eine Bewegung gestartet. Etwa dreißig ähnliche Saraus gibt es inzwischen hier im Süden von São Paulo, weitere in anderen Teilen der Peripherie und in anderen Städten Brasiliens. Unter dem Titel „Expedición Donde Miras“ gehen Gruppen von Literaten zu Fuß durchs Land und schließlich, so das Ziel, durch die Peripherien in ganz Lateinamerika, um Menschen überall anzuregen, ihre Sprache zu finden. Kultur ist kein Luxus, sondern lebensnotwendig. Innovation, so die allbekannte aber selten beherzigte Erkenntnis aus Netzwerk- und Innovationsforschung, findet an den Rändern statt. Baile Funk aus den Favelas von Rio de Janeiro, Tecnobrega2 aus Belém im Bundesstaat Pará an der Amazonasmündung – also aus der sozialen Peripherie der geographischen Peripherie Brasiliens –, oder das Modellabel „Daspu“3 von Prostituierten in Rio de Janeiro sind inzwischen von der globalen Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Auch der Samba, heute Inbegriff Brasiliens, stammt aus der Peripherie und war anfangs im Mainstream verpönt.4 Eingeladen zu dieser Entdeckungsreise im Juni 2008 hat mich Pablo Ortellado von der Forschungsgruppe zu öffentlicher Politik für Zugang zu Information der Universität São Paulo.5 Er ist Mitgründer des akademischen Netzwerks Coletivo Epidemia,6 das sich gleichfalls für Open Access, freie Software und die Wissensfreiheiten in der laufenden Urheberrechtsreform einsetzt. Auf dem gerade zu ende gegangenen Weltsozialforum in Belém stellte Epidemia ein Manifest unter dem Titel „Freie Kultur ist keine Ware“ zur Diskussion. Nicht zuletzt ist Pablo auch eine zentrale Person beim brasilianischen Indymedia.7 Mit von der Partie ist Claudio Prado, den Pablo mit Binho ins Gespräch bringen möchte. Claudio ist enger Freund und Berater des damals noch amtierenden Kulturministers Gilberto Gil und maßgeblich für die Maßnahmen des Ministeriums im Bereich der digitalen Kultur. Die weitreichenste darunter ist das Programm „Pontos de Cultura“.8 Mehr als 800 kulturelle Initiativen im ganzen Land sind inzwischen als Kulturpunkte anerkannt und erhalten einen Etat von 185.000 R$ (rund 61.000 €) für die Anschaffung von Computer- und Medienhardware sowie freie Software, mit denen sie ihre Arbeit multimedial dokumentieren und im Internet sichtbar machen können.9 „Digitale Inklusion“ ist das Schlüsselwort. Sie zielt vor allem auf die soziale und geographische Peripherie und auf die ganze Vielfalt von kulturellen Ausdrucksformen. Darunter sind Gruppen, die sich mit Musik, Tanz, Theater, Film, Capoeira, Kunsthandwerk, Feminismus, der Einbeziehung indigener Völker, dem Erhalt der sozio-kulturellen Vielfalt, Internetzugang, freien Radios, der Alphabetisierung und der Jugend- und Erwachsenenbildung beschäftigen.10 Die Kulturpunkte tauschen sich in einem Online-Netzwerk und auf bundesweiten Treffen11 aus. Den Umgang mit freier Software und Medienkompetenz bringen die erfahreneren Gruppen den Neulingen bei. Claudio Prado, der nie einen offiziellen Posten im Ministerium bekleidet hat, ist ein begnadeter Netzwerker. Er hat den Freigeist der 68er Generation zusammengebracht mit der digitalen Revolution der 90er und der schwerfälligen Kultur einer Ministerialbürokratie. Die Basis seiner Aktivitäten liegt in der vielfältigen Szene des Medienaktivismus, der freien Software und des Hardware-Recyclings,12 der radikalen Kunst, des Feminismus und der Hausbesetzer.13 Zugleich ist es ihm gelungen, viele der zentralen Themen in der Öffentlichkeit zu verankern und mit den beschränkten Mitteln – das Kulturministerium verfügt über weniger als ein Prozent des nationalen Haushalts – bleibende Strukturen zu schaffen. Der Sarau do Binho ist noch kein Ponto de Cultura, aber ein naheliegender Kandidat. In Binhos Bar treffen wir eine weitere Schlüsselfigur der freien Kultur, Sérgio Amadeu da Silveira.14 Der Soziologe und Politikwissenschaftler hat ab 2001 als Koordinator der elektronischen Strategie der Stadtverwaltung von São Paulo die Telecentro-Bewegung gestartet. An kostenlos zugänglichen Arbeitsplatz- und Internetrechnern in der ganzen Stadt haben zur Hochzeit 85.000 Menschen regelmäßig freie Software genutzt. Unter der Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva wurde Sérgio dann zum Direktor des Nationalen Instituts für Informationstechnologie (ITI15) berufen, mit dem Auftrag eine bundesweite Strategie für den Einsatz von freier Software zu entwickeln. Nach anfänglichem Enthusiasmus wurden die Schwierigkeiten deutlich. Zwischen einer trägen Bürokratie und der Einflussnahme durch Softwareunternehmen, allen voran Microsoft, wurden viele Anstrengungen aufgerieben. Die Telecentros in São Paulo überlebten zwar den konservativen Regierungswechsel in der Stadt,16 doch bald lief auf den Rechnern nicht mehr GNU/Linux und andere freie Software, sondern MS-Windows. Sérgio Analyse: Es fehlt an Leuten, die freie Software-Systeme warten und den Einsatz unterstützen können. Seine Konsequenz: Nachdem er sich frustriert aus dem ITI zurückgezogen hatte, startete er eine Bewegung, die zehntausend junge Menschen im Umgang mit freier Software ausbilden soll, die dann ihr Wissen weitergeben können. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die Regierung Lula hält trotz Anlaufschwierigkeiten an der Migration zu freier Software fest. Sie ist in Brasilien fest etabliert, in der Community, in der Wirtschaft und im öffentlichen Sektor.17 Woran es aber auch keinen Zweifel geben kann: Die freie Kultur wird von unten getrieben, und sie speist sich aus Innovationen in der Peripherie. Wissensallmenden werden von Allmendgemeinschaften entwickelt und gepflegt. Im besten Fall können sie unterstützt werden durch Infrastrukturen, wie sie das Pontos de Cultura-Programm bereitstellt, die Rahmenbedingungen für freie Software, die Präsident Lula abgesteckt hat oder das Creative Commons-Projekt, dessen freie Lizenzen von vielen Kreativen eingesetzt werden.18 Ein Glücksfall ist es, wenn sich Bewegungen von unten in Entscheidungen auf höchster Ebene übersetzen. So geschehen im Fall der Development Agenda, die auf Initiative von Brasilien und Argentinien 2004 in die UN-Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) eingebracht wurde und verspricht, die globalen Rahmenbedingungen für Urheberrecht und damit für kulturelles Schaffen fairer zu gestalten.19 Auf der Rückfahrt vom Sarau do Binho frage ich Claudio Prado nach den seit langem angekündigten Plänen Gils, sich vom Ministeramt zurückzuziehen. Er gibt sich optimistisch. Selbst wenn Gil aus der Regierung ausscheide, sei gesichert, dass seine Politik fortgesetzt werde. Claudio berichtet von einem bevorstehenden Treffen Gils mit dem künftigen US-Präsidenten Barack Obama. Und seine Augen beginnen von einer neuen Vision zu funkeln: einer pan-amerikanischen Allianz unter afro-amerikanischer Führung. Die Begeisterung springt sofort über. Niemand von uns kann die Vision ausbuchstabieren, doch während wir schweigend durch die Nacht fahren, entsteht vor dem inneren Augen eines jeden von uns das Bild einer Achse des Guten, einer Welt, die digital, offen, frei und kooperativ ist.
2 Lemos, Ronaldo, Oona Castro et al., The Paraense Tecnobrega Open Business Model, Rio de Janeiro 2008, http://www.overmundo.com.br/banco/the-tecnobrega-business-model-arising-from-belem-do-para 4 Hermano Vianna, The Mystery of Samba: Popular Music and National Identity in Brazil, The University of North Carolina Press 1999 9 Einige der Produktionen sind hier: http://www.estudiolivre.org 10 Eine Landkarte aller Kulturpunkte: http://www.cultura.gov.br/sys/skins/cultura_viva_capa/sistematizacao_fim.php 13 Eine wichtige Selbstdokumentation dieser Szene ist vor Kurzem in Buchform erschienen: Ricardo Rosas & Giseli Vasconcelos (Hrsg.), Digitofagia: net_cultura 1.0, Radical Livros, Sao Paulo 2006/8, http://www.voyantes.net/downloads/060810digitofagia_complete.pdf 16 Über 5.000 gibt es heute im ganzen Land, s. http://www.onid.org.br 17 How the Free Software Movement Is Winning the War in Brazil, 20 May 2008, http://brazzil.com/articles/192-may-2008/10066-free-software-brazil.html 18 Interview mit Ronaldo Lemos, Projektleiter von CreativeCommons Brazil: http://www.kruufm.com/29-open-views-ronaldo-lemos-lead-creativecommons-brazil |