Volker Grassmuck & Christian Unverzagt * Das Müll-System * edition suhrkamp * Frankfurt/M. 1991 * ISBN 3-518-11652-5
 
Semiotik
 

Wenn das Wort »Endlager« an die Finalität der »Endlösung« gemahnt, so ist das eine vorsätzliche Irreführung. Atommüll wird nur - für seine Zeit kurzfristig - aus dem Verkehr gezogen. Die Atomzeit hat längere Rhythmen als alles, was wir uns unter Verkehr vorstellen können. Damit wird noch eine andere Art des Verschwindens möglich. Der Müll könnte vergessen werden. Dann besteht die Gefahr, daß zukünftige Intelligenzen beim Graben in der Erde zufällig auf ihn stoßen.

Sie könnten aber auch etwas ganz anderes finden. Nach der gleichen Methode wie Atom- und Giftmüll werden in Bergwerksstollen ja auch Kulturschätze versiegelt. Seit der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) werden Milliarden von Mikrofilmaufnahmen luftdicht und korrosionssicher geendlagert. In der Bundesrepublik sind es jährlich 15 Millionen Aufnahmen, die in das Bergwerk »Barbara« in der Nähe von Freiburg kommen.

Die Stollen müssen also für alle möglichen Nachfahren - vom Roboter bis zum Halbaffen - so gekennzeichnet werden, daß sie entscheiden können, ob es sich bei ihrem Inhalt um Kultur oder um Müll handelt.

Hier setzt die Semiotik an. Sie befaßt sich damit, wie die soziale Kommunikation mit Hilfe bestimmter Zeichen die scheinbar unüberwindliche Barriere »Zeit« transzendiert. Sie wird gefragt, ob es möglich sei, eine Zeichenbeziehung zu legen zwischen dem, was sich quasi nicht wandelt, dem Atommüll, und dem, was sich beständig wandelt, der menschlichen Kultur und Gesellschaft.

Das US-Energleministerium beauftragte 198o eine vom Bechtel-Konzern gebildete Arbeitsgruppe zur Verhinderung des Eindringens von Menschen in Atommüll-Endlager (Human Interference Task Force) damit, sich ein System auszudenken, um zukünftige Generationen von diesen Endlagern fernzuhalten. Die relativ willkürliche Zeitvorgabe waren die nächsten 1o ooo Jahre. Willkürlich deshalb, weil Plutonium 239 eine Halbwertzeit von 24 390 Jahren hat, Thorium 232 eine von über 1o Milliarden Jahren. Weitere Vorgabe: Das technische Problem, Atommüll 5oo bis 1ooo Meter unter der Erde so zu versiegeln, daß in dieser Zeit Lecks, geologische Störungen usw. ausgeschlossen sind, sei als gelöst zu betrachten. Die Aufgabe zielte also ausschließlich auf eine Übermittlung des Wissens um die Lage und Gefahr des Atommülls über einen Zeitraum hinweg, den wir nicht einmal rückblickend überschauen. Die ältesten überlieferten Aufzeichnungen, Sumerische Keilschrift-Tafeln, sind nur 5 5oo Jahre alt.

Die Tübinger Zeitschrift für Semiotik hat die vermessene Herausforderung aufgenommen und an verschiedene Wissenschaftler in aller Welt weitergegeben, darunter Thomas Sebeok, der auch an der Bechtel-Arbeitsgruppe teilgenommen hat, Stanislaw Lem, Francois Bastide, Paolo Fabbri und Philipp Sonntag. Mit den Vorschlägen, die auf diese müll-semiotische Fragestellung hin eingegangen sind, werde ich mich im folgenden befassen.

Dreierlei muß den künftigen intelligenten Wesen mitgeteilt werden: 1. daß es sich überhaupt um eine Nachricht handelt, die an sie gerichtet ist; 2. daß an einer bestimmten Stelle Stoffe lagern, die für höhere Bioformen tödlich sind, wenn sie sich ihnen ungeschützt aussetzen; 3. spezifische Informationen über die Art der Stoffe, der Einlagerung und ihren Zeitpunkt, da es nicht ausgeschlossen ist, daß mit kommenden Technologien auch Atommüll weiterverarbeitet werden kann.

Das Hauptproblem der Semiotiker besteht darin, daß der Output eines Kanals nie mit seinem Input übereinstimmt. Medien unterscheiden sich in ihrer Störungsanfälligkeit, aber vollständige Rauschfreiheit gibt es nicht. Information ist immer nur Selektion aus einem gegebenen Rauschen. Wie wir gesehen hatten, ist auch Musik nur modulierter Lärm und Literatur ausgewählter Wortmüll. Der Parasit sitzt in jedem System.

Hinzukommt, daß auch Zeichen ihre Halbwertzeiten haben. Der Rauschanteil der stillgestellten Nachricht, also der Informationsmüll, steigt in dem Maße, wie der Code sich verändert, in dem sie verfaßt ist. Die Entropie frißt den Informationsanteil auf bis zur völligen Unverständlichkeit.

Eine Technik zur Verminderung von Transmissionsfehlern ist Redundanz, die in den meisten der Tübinger Vorschläge für notwendig gehalten wird. Also eine breite Streuung von Zeichenträgern mit unterschiedlichen Eigenschaften, die an verschiedenen Stellen lagern. Ebenso eine Bandbreite von ikonisch, indexikalisch und symbolisch kodierten Zeichen. Sie erleichtert eine Übersetzung, auch wenn ein Teil des Codes verlorengegangen . ist, wie beim Rosetta-Stein. Außerdem richten sich verschiedene Versionen an unterschiedliche Adressaten. Von »Vorsicht! Lebensgefahr!« für den Laien bis zu detaillierter, technisch-chemischer Experten-Information.
 

 
Die Palette der vorgeschlagenen Zeichenträger und Medien ist groß. Dazu gehören Monumente, Keramik- und Goldplatten und die trojanischen Satelliten von Lern, die auf einer Erdumlaufbahn einige tausend Jahre lang Informationen auf die Erde senden. Andere Überlegungen gehen davon aus, die Strahlung selbst als Energiequelle für dauerhafte Signalerzeugung einzusetzen. Der Müll signalisierte also selber seine Müllhaftigkeit.

Idealerweise reproduziert sich die Botschaft zusammen mit ihrem Träger selbst. Da das eine Eigenschaft des Lebens ist, denken Bastide und Fabbri über lebende Strahlendetektoren nach. Das könnten z. B. genetisch manipulierte Katzen sein, die auf Radioaktivität mit Hautflecken reagieren. Sie würden die dem Menschen fehlenden Sinnesorgane für Strahlung ersetzen. Sie würden weiterhin Anlaß für spontan entstehende Sprichwörter, Märchen oder Mythen sein, die die Bedeutung dieser Strahlenkatzen im kollektiven Gedächtnis verankern.

Auch Lern schlägt eine biologische Kodierung in der DNS vor. Seine Überlegung ist, daß die Weitergabe der Erbinformation in der Evolution als das Perfekteste angesehen werden darf, »was uns überhaupt bekannt ist, weil ja der DNS-Kode in seinem Alphabet, seiner Struktur und seiner Semantik heute noch derselbe ist wie vor etwa 4 Milliarden Jahren«. Konkrete Entwicklungen in diese Richtungen erwartete er sich von der Gentechnologie. Die Einschreibung des Mülls in den Körper des Adressaten scheint mir die konsequenteste. Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis.

Ein größeres Problem als das Zeichenmaterial stellt die Art der Codierung dar. Während Pikto- und Ideogramme als quasi-universal, d. h. kulturübergreifend in natürlichen Umständen verankert, angesehen werden, sind symbolische Zeichen äußerst wandlungsanfällig. lkonische Nachrichten »stehen für« das Bezeichnete, Bilder, Piktogramme, Photos, in narrativer Form auch ComicStrips. Indexikalische Nachrichten weisen auf das Bezeichnete hin wie Pfeile. Beide sind nicht völlig vom Kontext unabhängig, aber die Umrißzeichnungen der südfranzösischen Höhlenmalerei sind auch nach 85oo Jahren noch als Menschen und Tiere zu erkennen.

Dagegen beruhen symbolische Nachrichten nicht auf einer Ähnlichkeit zum Bezeichneten, sondern arbiträr auf sozialen Konventionen. Wichtigster symbolischer Code ist die Sprache. Sie erlaubt sehr differenzierte Botschaften, verändert sich aber sehr schnell. Man nimmt für das Englische eine Konstanz von 81% des Grundwortschatzes über den Zeitraum von 1ooo Jahren an. In 1o ooo Jahren wird es also nur etwa 12% seines jetzigen Basisvokabulars enthalten.

Um die Botschaft dem ständigen Wandel des Codes und des Kontextes anzugleichen, denken die meisten Autoren an eine Kette von Relaisstationen. Vilmos Voigt von der Universität Budapest schlägt konzentrisch angeordnete Warntafeln in zunehmend neueren Sprachformen vor. jede enthielte in den wichtigsten Weltsprachen neben der Warnung die Meta-Meta-Nachricht, diese Tafel nach einer gewissen Zeit zu übersetzen und eine neue aufzustellen. Ein Leser aus der Zukunft könnte somit teleskopartig in die Geschichte der Sprachen zurückblicken. Dieser Kennzeichnungsvorschlag hat eine unvorstellbare Kontinuität der sozialen Trägerschaft der Transmission zur Voraussetzung. Andere Autoren machen sich Gedanken, wie diese zu erzeugen ist. Sebeok entwirft religiöse Institutionen, eine Atompriesterschaft mit jährlichen Ritualen. Sie würden Mythen initiieren, über heilige Gebiete, die zu meiden sind. Sie würden mit übernatürlichen Vergeltungsmaßnahmen bei Nichtbeachtung drohen und das technische Wissen als geheimes überliefern. David Givens von der University of Washington hält Muster von Dominanz und Unterordnung innerhalb der Spezies für fundamentale Prinzipien der sozialen Ordnung von Wirbeltieren. Mit anderen Worten: Eliten wird es immer geben und die Kommunikation mit der Zukunft wird eine zwischen Gruppen sein, die Macht ausüben.

Ebenfalls in den sozialen Bereich gehört die Anregung von Bastide und Fabbri, daß der Atommüll zahlreiche bekannte Dichter, Novellisten, Musiker, Maler und Bildhauer inspirieren möge. Denn vermutlich werden auch in Zukunft Kunstwerke weitergegeben, erhalten und kopiert werden.

Rückblickend muß festgehalten werden, daß alle Warnungen an die Nachwelt bislang nicht besonders erfolgreich waren. Sie machten im Gegenteil die Menschen neugierig. Die Herrscher von Ägypten, Syrien und Tibet hinterließen an ihren Grabmonumenten Bannflüche gegen diejenigen, die sie schänden würden. Die Geschichte des Grabraubes zeigt, daß alle Versuche, Eindringlinge, zu denen auch heutige Archäologen gehören, mit Mitteln der Kommunikation fernzuhalten, kläglich gescheitert sind. Die Warnung vor der Büchse der Pandora macht sie um so reizvoller.

Die Indianer Nordamerikas waren sehr wohl in der Lage, altes Wissen bis zu uns zu schicken, z. B. Mitteilungen über tabuisierte Gebiete, in denen es Uranvorkommen gibt. Die Warnungen in ihren Prophezeihungen werden als Folklore abgetan. Hier hat das Rauschen die Botschaft fast vollständig zersetzt. Der Parasit, dieses Krümelmonster der Kanäle, hat wieder einmal gesiegt. Und auch unser anderer ständiger Begleiter, der Müll, wird die Oberhand behalten. Vergraben und mit Bannzeichen belegen - welch kindisches Gebaren. Kein ornamentales Gekritzel wird verhindern, daß der Müll wiederkehrt. Nicht einmal eine Gesellschaft, die ihre Institutionen, Mythen, Wissenschaften, die DNS ihrer Lebewesen von Kopf bis Fuß auf Müll einstellt. Das Salz wird ihn ausspucken, Meteore werden ihn freilegen, aus den Meeren wird er wieder aufsteigen. Aber am sichersten wird der Mensch, der noch jede Untat begangen hat, zu der er in der Lage war, sich nicht von Obelisken und Märchen zurückhalten lassen.