| Home | Back to List of Articles |
 
Zum Verhältnis von Kunst und Technologie
Interview mit Prof. ASADA Akira
geführt von Volker Grassmuck
am 12.11.89 im Akasaka Prince Hotel, Tokyo
in: IMAGO, fin de siècle in dutch contemporary art, Katalog der gleichnamigen Ausstellung in Amsterdam und Mediamatic Vol. 5. # 1 & 2, Amsterdam 1990
und
in: Konkursbuch Japan II, Tübingen 1990
 
 

Frage: Medien verändern Kunst. Literatur hat sich mit der Druckerpresse verändert. Film hat die visuellen Künste verändert und eine völlig neue hervorgebracht. In der Computergrafik (CG) scheinen die elektronischen Medien noch vor allem über sich selbst zu sprechen. Es sind die ersten zaghaften Schritte auf neues Terrain. Was für Fähigkeiten fügen sie dem Bestand an künstlerischen Ausdrucksmitteln, an Möglichkeiten des künstlerischen Kommentars über die Welt hinzu?

Asada: Ich muß sagen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt muß das wirkliche Interface, die wirkliche Interaktion zwischen Kunst und Technologie erst noch kommen. Im allgemeinen beuten die Künste Technologie aus, oder die Technologie beutet die Künstler aus, um ihre eigenen Fähigkeiten darzustellen, aber es ist keine echte Interaktion. Bislang ist es noch eine recht oberflächliche Beziehung, so weit ich das beobachte.

VG: Welche neuen Fähigkeiten bringen die neuen Technologien den Künstlern im Prinzip?

AA: Nun, auf theoretischer Grundlage werden Versuche gemacht, das System der Repräsentation zu kritisieren, die Art, Dinge vom Brennpunkt des subjektiven Auges aus darzustellen. Und dieses Repräsentationssystem auf der Grundlage der Dichotomie von Subjekt und Objekt und unter der Hegemonie des beobachtenden Auges des Subjekts, basiert vornehmlich auf der optischen Technologie. Und wenn Sie beispielsweise an die Situation im 17. Jahrhundert in Holland denken, da hatten Sie Maler wie Vermeer, aber zur gleichen Zeit war da Leuvenhoek und Christian Huygens, diejenigen, die die Grundlagen der Optik gelegt haben. Und selbst Spinoza baute eine Kamera unter Verwendung von Linsen. Es gab eine sehr enge Verbindung zwischen Leuten, die mit Kunst zu tun hatten und Optik und Linsenschleifen. Und ich glaube, es lag in dieser Konstellation von Kunst, Technologie und Philosophie, daß die Gemälde von Vermeer, die uns heute so poetisch und künstlerisch vorkommen, entstanden sind. Das ist die Art der Interaktion, die ich erwarte von der heutigen Technologie. Soweit ist es aber noch nicht. Aber potentiell muß eine große Veränderung kommen. Was Optik und diese perspektivischen Räume betrifft, hat die Kamera im 19. Jahrhundert das Paradigma der Camera obscura aus dem 17. Jahrhundert reproduziert und verstärkt. Natürlich gibt es einen großen Unterschied, das Problem der Reproduzierbarkeit. Aber dennoch, was das System der Repräsentation angeht -- man repräsentiert etwas vom eigenen subjektiven, perspektivischen Punkt aus -- gehören diese beiden Kameras zum gleichen Paradigma.

Und dann kam z.B. die CG. Und die CG repräsentiert nicht etwas, das dem System vorausgeht. Ich muß sagen, daß die, sagen wir, vulgäre Art von CG nichts anderes macht, als die gleiche Geschichte zu reproduzieren. Es gibt einige vorgefertigte Bilder, die man irgendwie auf dem Computerbildschirm repräsentieren muß. Aber im Prinzip existiert da kein wirkliches Modell, das Modell, das in einem optischen, chemischen Prozeß reproduziert werden kann. Es gibt nur den Datenfluß, digitale Daten gespeichert in einer Datenbank. Und außerdem die Programme in einer digitalen Sprache geschrieben -- das ist alles. Und natürlich sind die Bilder Simulakren, aber Simulakren ohne Ursprung, ohne gegenständliches Modell. Was bedeutet, das Subjekt seinerseits hat seine privilegierte Position verloren. Das ganze System dieser Dichotomie und der perspektivischen Vereinheitlichung verliert jetzt seine Bedeutung. Deshalb gibt es hier das Potential für eine große Veränderung, aber darüber wird, soweit ich sehen kann, noch nicht wirklich reflektiert in den Künsten und in der Philosophie der Kunst. Das ist das große Problem für mich.

VG: Mir ist aufgefallen, daß die Fraktalisierung in der elektronischen Kunst geradezu handgreiflich wird. Bilder wie dieses (...) aus einer interaktiven Videoinstallation sind fast die Regel, wenn es um die Abbildung des Menschen geht. Das gleiche passiert mit seiner Stimme oder seinem Körper, der vielleicht zu einem Musikinstrument wird. Aber den Dialog der Disziplinen, von dem Sie gesprochen haben, ist nicht in Sicht. Oder kann man von einer Arbeitsteilung sprechen: die französischen Philosophen als Denker und die Computerkünstler als Pragmatiker der Multimedia-Gesellschaft?

AA: Ja, das stimmt und ohne die wirkliche Tiefe der Veränderung zu erkennen. Das ist das Problem. Ein wirkliches Interface, eine wirkliche Interaktion ist jetzt vonnöten. Aber was die Fraktalisierung betrifft: ich glaube, man kann die drei Phasen beobachten: im, sagen wir, 17. Jahrhundert beobachtete man nur sein Bild im Spiegel. Das ist also eine duale Beziehung. Wenn man die rechte Hand hebt, hebt das Bild seine linke. Es ist also wie Südpol und Nordpol, nicht wahr. Es ist sehr dual. Und in dieser dualen Interaktion bildet sich das Subjekt. Das ist die berühmte Geschichte mit dem Spiegelbild usw. Es war der Ort der Dialektik zwischen Ich und Selbst (you and yourself). Es war ein Dialog mit seiner polaren Struktur. Aber dann kam das Zeitalter der Fotografie. Wenn man sich ein Foto ansieht, gibt es keine wirkliche Dualität in diesem Sinne. Die eigene Oberfläche ist erstarrt, es ist ein gefriergetrocknetes Bild der Oberfläche. Die Oberfläche ist noch nicht fraktalisiert, aber auf irgendeine Weise ist die eigene Identität erstarrt und kalt. Und außerdem kann dieses Bild unendlich oft reproduziert werden. Die eigene Identität ist aufgehoben (suspended) und in unendlicher Serie reproduziert. Es gibt keinen Raum, fast keinen Raum für eine Dialektik zwischen einem selbst und seinem Bild. Im Zeitalter des Spiegels konnte es ein Selbstportrait von Rembrandt, sagen wir, geben. Das ist das Ergebnis eines langen, akkumulativen Prozesses der Dialektik zwischen Ich und Selbst (you and yourself), der die eigene Identität bildet. Aber im Zeitalter der Fotografie kann man nur Serien, sagen wir die Warhol-artigen Serien der jeweiligen eigenen Bilder haben, die sich endlos widerholen ohne dialektische... sagen wir 'Steigerung'. Aber dann kam das Zeitalter der elektronischen Bilder, wie dasjenige, das Sie mir gezeigt haben. Dort werden selbst noch die erstarrten Bilder von einem selbst, wenn nicht dekonstruiert, so doch irgendwie zerstreut und aufgelöst zu -- in einem gewissen Sinne -- fraktalen Bildern, die im elektronischen Netzwerk schweben. Das ist die wirkliche, grundlegende Veränderung, die jetzt stattfindet. Und wie Sie sagten, habe ich den Eindruck, daß die Künstler diese Veränderung des Paradigmas nicht wirklich wahrnehmen. Irgendwie wiederholen sie das Paradigma des Spiegels oder in einigen Fällen die Warhol-artige Simulation. Das ist der status quo, wie ich ihn beobachte.

VG: Wir haben, zumindest in diesem Jahrhundert, immer in einer medialen Umwelt gelebt. Doch bislang mußten wir noch aktiv auf die Medien zugehen, zum Kiosk, um eine Zeitung zu kaufen, zum TV, um ihn einschalten. Aber mit neuen Geräten, mit intelligenten Gebäuden wie dem TRON-Haus z.B. werden wir vollständig von ihnen umgeben, meist ohne es zu wissen. Die Medien rücken uns auf den Leib.

AA: Ja, ich glaube, darin liegt eine grundlegende Veränderung. Im Extrem kann man sich eine Situation vorstellen, in der der Medienterminal in den eigenen Körper inkorporiert ist, z.B. in die Retina oder selbst ins Gehirn. Und ein Künstler namens Harada Daizaburo hat einen, wie er es nannte, Medienanzug geschaffen. Es ist eine alte Arbeit, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, deshalb ist es ziemlich primitiv. Sie besteht aus einem Helm, auf dem eine Kamera sitzt. Man kann die Außenwelt via Bildschirm und Kamera sehen, aber nur durch diesen Informationskreis und man kann Computerspiele oder CG an diesen Bildschirm unmittelbar vor den Augen anschließen. Im Extremfall kann man diese Bilder sogar inkorporieren, direkt in die Retina projizieren etc. In dieser Situation -- das ist ein Art Paradox -- werden die Medien sozusagen "Immedien", unmittelbar (immediacy). Es nicht mehr etwas, das die objektive Realität und die eigene innere Imagination vermittelt. Es ist die unmittelbare Schnittstelle der simulierten Bilder oder der Bilder, die die Kamera eingefangen hat und der eigenen inneren Vorstellung. Man könnte sagen, es ist ein Kurzschluß von Realität und sogenannter Imagination. Es gibt also sehr wohl grundlegende Veränderungen. Und natürlich liegt eine soziale Gefahr in dieser Situation, weil die Massenmedien jetzt eine so starke Hegemonie ausüben. Und trotzdem kann man sich heute noch gegen die Medien isolieren, durch den Abstand von sagen wir drei Metern vom Fernsehschirm. Aber dieser Abstand wird jetzt reduziert.

Ich glaube, was diese Inkorporierung betrifft, ist nicht die Kunst die Avantgarde, sondern die militärische oder medizinische Forschung. Auf dem militärischen Gebiet stellt sich z.B. das Problem, wie man das Cockpit eines Kampfflugzeugs gestalten kann. Wenn man hinaussehen und gleichzeitig die Anzeigeinstrumente im Innern ablesen muß, ruft das eine große Ineffizienz hervor. Deshalb entwirft man headup-displays mit holografischen Darstellungen des Geschwindigkeitsmessers usw., die den Blick nach draußen überlagern. Und im Extremfall werden diese Bilder auf das Helmvisier projiziert, usw. usw. Ich habe den Eindruck, daß die Welt-Avantgarde vom militärischen Gebiet in das Feld der Politik und der Kunst entlehnt worden ist, um 1945 herum. Aber heute ist die wirkliche Avantgarde wieder im militärischen Gebiet oder sogar in der Medizin, wo man jetzt mit einer Art von Projektion von Bildern auf die Körperoberfläche von Blinden experimentiert. Besonders in diesen Gebieten wird jetzt der Abstand zwischen den Medien-Terminals und einem selbst mit ungeheurer Geschwindigkeit reduziert, wenn nicht gegen Null, so doch hin zu einer simulierten Unmittelbarkeit. Was fast ein Widerspruch in sich ist, weil die Medien etwas Vermittelndes sind. Das Paradigma der Kommunikation zwischen zwei getrennten Subjekten, scheint mir ersetzt durch eine Art Ko-mutation. Das ist der Begriff eines französischen Theoretikers... oh, ich habe den Namen vergessen. Aber zwei Dinge mutieren gleichzeitig, das ist eine Ko-mutation. Also gibt es nicht mehr den Sender, die Botschaft und den Empfänger. Der Sender und der Empfänger sind jetzt gleichzeitig und unmittelbar miteinander verbunden. Das ist eine sehr interessante und gleichzeitig sehr beunruhigende Situation, aber darin sehe ich das eigentliche Potential für die große Veränderung. Es ist also nicht nur quantitativ, sondern qualitativ.

VG: Es ist oft festgestellt worden, daß das, was wir im Laden an Unterhaltungselektronik zu kaufen bekommen, seinen Ursprung in militärischen Entwicklungen hat, in Technologie, die auf militärische Bedürfnisse und Anforderungen hin entworfen worden ist. Ich habe mich immer gefragt, ob in den Haushalts-Massenmedien noch Spuren von militärischer Logik zurückgefunden werden können.

AA: Das ist eine sehr schwierige Frage. Aber z.B. der Wunsch, alles sehen zu können, zur gleichen Zeit, der Wunsch nach dem omnipräsenten Auge, dem nichts entgeht, dem niemand entkommen kann, kann zu seinem militärischen Ursprung zurückverfolgt werden. Ich bin nicht wirklich sicher, aber heute ist der Krieg keiner von wirklicher Kampfkraft. Es ist in erster Linie der Krieg der Informationssammlungs-Technologie. Wie man am Spionagesatelliten sehen kann. Deshalb ist der Krieg nicht einer von Sprengkraft, sondern in erster Linie ein Krieg der Bilder, in vieler Hinsicht. Wie kann man Informationen bekommen, wie kann man das Territorium des Gegners sehen, und gleichzeitig, wie man die eigenen Leute beeinflussen kann via Manipulation von Bildern. Dieses ganze Paradigma kommt, wenn nicht vollständig, so doch in wesentlichen Teilen aus der Militärforschung. Ich bin nicht ganz sicher, aber ich habe diesen Eindruck.

VG: Wenn also Künstler dies Technologien benutzen, affirmieren sie dann nicht nur etwas, das für kriegerisch Zwecke entwickelt worden ist; etwas, das ihnen vorgesetzt worden ist, und das sie dann für ästhetische Zwecke verwenden?

AA: Das kommt drauf an. Ich bin zufällig Freund eines deutschen Künstlers, Ingo Günther, der Satelliten-Technologie benutzt, besonders diese Art von Spionage-Satelliten, und sie für seine eigenen Zwecke manipuliert. Ich halte das für sehr interessant. Z.B. bei der Dokumenta 8 in Kassel präsentierte er "C3I" ("communication, control, command and intelligence") unter Verwendung von Satelliten-Bilder. Und das war eine recht eindrucksvolle Arbeit. In einem dunklen Raum gab es einen Marmortisch, auf den die Bilder von der Decke aus projiziert wurden. Die Bilder waren Satelliten-Aufnahmen von strategisch wichtigen Gegenden, wie Nicaragua oder Afghanistan, das war vor drei Jahren. Diese Bilder zitterten auf der Marmoroberfläche, die selber einen geographischen Eindruck machte. Und man hat auf diese Bilder hinuntergesehen, als sei man selber ein General auf dem Befehlsstand von star wars. Und man kann mit einer Handbewegung ein Land ausradieren. Es lag ein sehr ironisches Bewußtsein von der heutigen condition humaine darin, die an diesen militärischen Netzen von Beobachtung und Kontrolle beteiligt ist. Und dieses C3I, was militärischer Jargon ist, durchbricht er wiederum als "K4", das heißt "Kommunikation, Kommando, Kontrolle und Korruption". Es ist eine Korruption für den Künstler. Er ist sich der Position des Künstlers, der mit solchen Systemen zu tun hat, bewußt, als einer von möglicher Korruption. Weil es immer den Wunsch gibt, alles zu sehen, alles zu kontrollieren, was seinen Ursprung in militärischer Logik haben könnte.

In solchen Arbeiten kann ich zumindest ein kritisches Bewußtsein von der Situation erkennen, die Sie bezeichnet haben. In 90% der Fälle sind sich die Künstler dessen nicht bewußt. Vielleicht spielen sie mit sehr gefährlichem Spielzeug, ohne die möglichen Implikationen dieser Technologien zu bemerken. Aber dennoch kann man diese Technologien mit sehr kritischem Bewußtsein für sich ausschlachten. Und Günthers Arbeiten sind ästhetisch sehr, sehr ansprechend. Und er weiß, es ist eine sehr gefährliche Faszination. In diesem Kontext, und das ist natürlich nur ein Beispiel, kann ich das Potential für eine neue Art von künstlerischen Arbeiten sehen, die wirklich ernsthaft ist in einem sozialen, politischen und militärischen Kontext. Und zugleich ästhetisch sehr, sehr ... schön, muß ich sagen. Er hat auch mit Piraten-TV experimentiert, mit lokaler Ausstrahlung von Bildern. Und was die Satelliten betrifft, so hat er zusammen mit einem Freund Bilder dekodiert von Landsat, der die Erdoberfläche beobachtet. Und er sagte mir, daß es ziemlich einfach ist, Bilder aus dem Landsat-System zu dekodieren. Als sich 1986 der Chernobyl-Unfall ereignete, war Landsat zufällig über dieser Gegend über der Sowjetunion. Und irgendwie gelang es ihm, die Bilder zu dekodieren, bevor die Nachrichtenagenturen Fotos hatten. Und so wurde er zu einer Art Held in der globalen Welt des Journalismus, und viele Agenturen haben seine Bilder verwendet. Und wiederum liegt darin eine große Gefahr, weil diese Bilder mit einem Kommentar versehen sein sollten, der etwas über die möglichen Ambiguitäten oder mögliche Fehler sagen sollte. Aber die Bilder wurden hingestellt als die definitiven Bilder der Chernobyl-Krise und weltweit verbreitet. Ein unabhängiger Künstler, der nichts zu tun hat mit Journalismus oder Politik, wurde plötzlich zu einem erstklassigen Journalisten, der einen großen Einfluß haben könnte.

VG: Chernobyl war auch eine Informationskatastrophe. Die Sowjetunion hat keine Information herausgegeben, als alle Welt drauf wartete. Radioaktivität selbst ist ein Phänomen, das nur als Information über Maschinen und Experten zugänglich ist. Piraten oder Hacker sind ebenfalls solche Spezialisten .

AA: Ja, er war Schüler von Joseph Beuys. Er hat diese Vorstellung von radikaler Demokratie. Er hat mit diesem Piraten-artigen Zugang zum globalen Informationssystem experimentiert, was ich für sehr interessant halte.

VG: ... der natürlich auf die Existenz dieser System angewiesen ist. Es hat ja auch andere Versuche gegeben, z.B. mit Meßnetzen aus PCs der militärischen Großtechnologie eine kleine entgegenzusetzen.

AA: Diese Art, das System zu überschreiben, setzt das System voraus. Es ist ein Guerilla-Krieg innerhalb des Systems. Entsprechend gibt es immer Ambiguitäten und Zweifelhaftigkeit. Aber ich behaupte, wenn es nicht eine fast universale Bedingung der heutigen Gesellschaft ist, kann es doch keine bestimmte Grundlage geben, von der aus man etwas kritisieren kann, weil man fast immer schon im System drin ist. Und dennoch kann man weiterhin kritisieren, ohne festgelegten Standpunkt außerhalb des Systems. Vielleicht ist das eine universale Bedingung, von der man ausgehen muß. Und technologische Kunst ist da keine Ausnahme.

VG: Oswald Wiener hat die Operatoren der Medien als die wichtigsten Betreiber des Neuen Nihilismus bezeichnet. Das ist weder der melancholische Nihilismus des 19. Jahrhunderts in Deutschland noch der 'substantielle' Nihilismus im traditionellen japanischen Denken wie ihn z.B. Daisetzu Suzuki im Vorwort zum Nishida Kitars "Intelligibility and Nothingness" zum Ausdruck bringt: "Der Westen geht intellektuell von einer dualistischen Welt aus, wohingegen der Osten mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Leere steht, die eine Welt des konkreten Existenzialismus ist und nicht ein logischer Rahmen der Abstraktion."

AA: Ich sehe da eine Art Ambiguität. Als Nishida über den Ort des Nichts sprach war das eine sehr radikale Affirmation der Bodenlosigkeit oder, man könnte sagen, der 'Gelassenheit' des Menschen. Aber zur gleichen Zeit bot sich dieser Ort des Nichts an, fetischisiert zu werden als ein Ort, an dem man endlos spielen kann ohne menschliche, geschichtliche Bedeutung. Was die japanische Denktradition betrifft, so ist die Ambiguität von -- naja, 'reales Nichts' ist ein Widerspruch in sich, aber der tiefe Einblick in den Abgrund und die Fetischisierung der Bilder des leeren Feldes, die alles einhüllen können, in denen man endlos spielen kann, fast immer ein zentrales Problem. Und was die heutigen Medien und Medien-Kunst betrifft, muß ich sagen, trifft das letztere zu.

Ich erinnere mich, was Alexander Kojève in seiner Vorlesung über seine Hegel-Lesart in den 30er Jahren sagte. Er war ein sehr interessanter Mann. Er hielt diese Vorlesung über hegelianische Philosophie in Paris. Und er beeinflußte nicht nur Raymond Aron, Sartre, Merleau-Ponty, sondern auch Lacan, Bataille, Klossowski, einfach jeden, der später die sog. französische Theorie der Nachkriegszeit ausmachte. Er war eine Art Quelle, die aus Deutschland kam, natürlich. Er war aus Rußland emigriert, über Deutschland nach Paris.

In dieser Vorlesung sagte er, Geschichte ist eine Geschichte der Kämpfe. Wenn die Kämpfe zuende sind, endet die Geschichte und der Mensch tritt in den post-historischen Zustand ein. Nach dem 2. Weltkrieg glaubt er, der Kampf sei vorbei, die lange Reihe von Schlachten angefangen beim Napoleonischen Krieg bis zum 2. Weltkrieg hatten auf eine Weise die Universalisierung der westlichen Demokratie erreicht, die die endgültige Form der menschlichen Regierung darstellt, so Kojève. Danach hat er die Philosophie aufgegeben und wurde eine Art Bürokrat, der sich mit ökonomischer Regulierung beschäftigte. Nach der Philosophie stelle nur noch diese Art von Regelung oder Steuerung ein Problem dar. Und er reiste viel. Zuerst sah er in den Vereinigten Staaten den ersten Kandidaten für den post-historischen Zustand des Menschen, und das war, in seinen Worten, die ´amerikanische Animalität´. Der Mensch, der vom historischen Kampf mit Ideologien und Macht befreit war, kann wieder zum Tier werden, das sich sonnt und am Strand liegt und der bizarren, dummen Musik aus dem Radio zuhört und Coca Cola trinkt und Sandwiches ißt usw. usw. Das ist die erste Version des posthistorischen Zustands. Aber als er nach 1959 nach Japan kam, fand der den zweiten Kandidaten des post-historischen Modells des menschlichen Lebens, und das nannte er den japanischen Snobismus, snobism japonais. Ein Snob ist jemand, der z.B. in die Oper geht, nicht weil er Opern versteht und ihr Wesen liebt, sondern der wegen der reinen Erscheinung dort hingeht, um den Eindruck zu erwecken, jemand zu sein, der Oper als hohe Kunst zu schätzen weiß. Das heißt, etwas tun ohne Bezug auf dessen eigenen historischen, menschlichen Inhalt zu nehmen. Die Wiederholung der reinen Form, die leer ist, und die nur um so raffinierter und verfeinerter ist, weil sie leer ist. Das ist der Snobismus im Sinne Kojèves. Und er sah ihn in Japan, weil, Kojève zufolge, der Kampf in Japan bereits um 1600, am Ende des Feudalkrieges aufgehoben war. In der Edo-Zeit war der Kampf für mehr als zweieinhalb Jahrhunderte vollständig suspendiert, und man konnte die leere Form der Teezeremonie, des Blumenarrangements und sogar des Selbstmordes endlos wiederholen. Sogar der Selbstmord wurde zu einem Ritual zum Zwecke der reinen Emulation, der reinen Erscheinung. Kojève ist sehr radikal. Er behauptete, jeder Japaner könne im Prinzip Selbstmord begehen aus reinem Snobismus. Das ist eine sehr radikale Beobachtung, aber der Selbstmord von Mishima Yukio z.B. war ein sehr snobistischer. Also hat er wohl recht. Und was die Teezeremonie betrifft, so war sie im 16.Jahrhundert eine sehr ernsthafte, bedeutungsgeladene Angelegenheit. Ich bin darin nicht sehr bewandert, aber es war etwas sehr Ernsthaftes. Aber vielleicht schon im 17. Jahrhundert wurde sie zu einer reinen, snobistischen Form, die wiederholt werden mußte ohne Bezug zu einem tieferen Inhalt. Und sie war nur umso kultivierter, weil sie von jedem Inhalt entleert war. Es ist ein reiner Nihilismus, die Wiederholung der leeren Form als solcher in immer verfeinerterer Weise. Vielleicht waren die Teezeremonie und die anderen Künste im 16. Jahrhundert noch bezogen auf einen Einblick in die Bodenlosigkeit des menschlichen Seins. Aber bereits im 17. Jahrhundert hatten wir einen sehr elaborierten Nihilismus der Wiederholung von reinen Formen, von reinen Signifikanten, könnte man sagen. Und das ist über mehr als drei, vier Jahrhunderte wiederholt worden. Das ist eine lange Geschichte. Wir haben eine Tradition von Zen-Buddhismus und zugleich haben wir eine Tradition von Kojèveianischem Snobismus, die eine sehr stark verfeinerte Form von Nihilismus ist. Und diese beiden sind sehr eng miteinander verwandt. Es sind beinah die beiden Seiten des gleichen Blattes. Deshalb ist das sehr vieldeutig und ungewiß.

Aber um auf Kojève zurückzukommen: Er behauptete, daß der japanische Snobismus für ihn sehr reizvoll war. In jedem Falle ist für Kojève der Post-Historismus sehr, sehr langweilig. Alles, was wir machen müssen, sind sehr simple, grundlegende wirtschaftliche Regelungen und snobistische Spiele mit leeren Signifikanten. Deshalb wird es sehr langweilig. Aber er glaubt, daß der japanische Snobismus weniger langweilig war, als die amerikanische Animalität. Das ist der europäische Standpunkt. Er glaubt, daß die Japanisierung der Welt kommen würde -- am Ende der 50er Jahre. Das war also wirklich ein sehr radikaler Blickwinkel. Aber in einem Sinne ist die Welt nicht die Welt, die japanisiert wird. Was die französische Theorie betrifft, z.B. wurde für Roland Barthes das Spiel der leeren Signifikanten in Japan bar jeden Inhalts ermöglicht durch das leere Zentrum, den Kaiserpalast in Tokyo. Das ist die Wiederholung des Kojèveianischen Snobismus'. Oder wenn man sich Jean Baudrillards Theorie der Simulakren ohne Modelle ansieht, so wiederholt auch er den Kojèveianischen Mythos von Japan als reinem Ort des Nihilismus. Deshalb: ja, es gibt eine starke nihilistische Tendenz in den Medien und bei den Leuten, die die Medien und die Simulakren kontrollieren. Und im japanischen Kontext ist sie eng verwandt mit dem japanischen Snobismus im Sinne Kojèves.

VG: Ich frage mich, ob es nicht im Innersten der Computer-Medien eine verwandte Form gibt. Das Zentrum des Computers ist leer, und es werden Welten auf diesem Nichts gebaut. Der Computer bringt auch diese repetitive Bewegung, die Variationen in Musik oder CG hervor. Die Verbindung zwischen dieser Medienschicht und der Schicht des traditionellen Nihilismus in Japan, existiert die noch?

AA: Ja, das glaube ich schon, auch wenn sich die Leute dessen nicht bewußt sind. Ich glaube, obwohl es einen großen Abstand zwischen diesen Schichten zu geben scheint, durchdringt die Grundstruktur alle Schichten. Das ist mein Eindruck. Ich bin nicht ganz sicher, ob der tiefe Einblick in das Nichts einen Einfluß auf den Betrieb der Medien oder die Medien-Kunst hat, aber was diesen Blumenarrangement-artigen Nihilismus betrifft, gibt es offensichtlich eine enge Verbindung zwischen diesen traditionellen Haltungen und gegenwärtigen Phänomenen. Das ist meine Ansicht.

VG: In der Ausstellung über interaktive Kunst ["Wonderland of Science-Art. Invitation to Interactive Art", produziert von Sakane Itsuo, Kanagawa, Juni-August 1989] waren viele Kinder. Man konnte gut beobachten, daß dieser Nihilismus aus der Maschine kein theoretisches Konstrukt ist, keine besonders verfeinerte Art, kulturelle Formen zu praktizieren, sondern etwas, das so material und offensichtlich geworden ist, daß selbst Kinder es intuitiv erfassen können.

AA: Auch in diesem Kontext habe ich ein ambivalentes Gefühl. Ja, 90% der Arbeiten sind ziemlich kindisch. Sie sind genausowenig Kunstwerke, wie das Spielzeug für Kinder, sehr bunt, eingängig und anziehend, und das ist alles. Dennoch existiert das Potential für wirklich ernsthafte Arbeiten, wenn man die Grundvoraussetzungen in Betracht zieht. Ich bin zugleich pessimistisch und optimistisch, was das angeht. Aber ich muß sagen, daß in jedem Fall eine Art Infantilisierung mit der Hochtechnologie einhergeht. Wir können natürlich über moderne und postmoderne Technologie sprechen. Aber sagen wir, wenn man vor 20 Jahren Fotos machen wollte, mußte man den Mechanismus kennen. Aber heute ist alles automatisch, man muß nur noch auf den Knopf drücken und die Maschine tut alles für einen. Vor 20, 30 Jahren waren die Maschinen nicht wirklich black boxes. Sie waren grau, und man konnte hineinkucken, und manchmal mußte man sie reparieren. Manchmal mußte man seine eigenen Absichten den Beschränkungen der Maschine anpassen. Aber heute werden die Maschinen zu gigantischen black boxes, von denen man fast vollständig abhängig ist. Man drückt auf den Knopf, und hier kommt das Ergebnis. Man braucht den Mechanismus nicht zu kennen und man kann ihn auch gar nicht kennen. Wenn z.B. ein Fotoapparat kaputtgegangen ist, geht man damit in den Laden, aber selbst der Techniker kann ihn nicht reparieren. Er nimmt nur den Schaltkreis heraus und ersetzt ihn. Das ist das black box-Phänomen. Mit der nicht-perfekten grey box-Technologie haben die Leute, genau so wie Marx dachte, etwas über den Prozeß gelernt, sie haben die Natur über vermittelnde Mechanik kennengelernt. Aber weil jetzt die Maschinen so perfekt sind, ist die Chance etwas zu lernen verloren gegangen. Man kann sich auf die Maschinen verlassen, ohne wirklich zu wissen, wie sie funktionieren. Vielleicht wissen es noch die Techniker. Z.B. die Leute, die Kameras entwerfen, kennen eine gewisse Struktur, aber auch da drin gibt es wieder ein black box, und mit der beschäftigen sich nur IC-oder LSI-IC-Ingenieure.

Ich glaube, der Science Fiction erfaßt diese Art von Dingen ganz intuitiv. Z.B. in Orwells "1984" -- in der Dystopie von 1948, die "1984" ist -- wurde die Stadt vom Big Brother kontrolliert, was eine paternalistische Figur ist, die von einem fordert, seine Bedürfnisse aufzugeben, um zu arbeiten und zu disziplinieren. Aber im heutigen SF ist die zentrale Figur fast immer maternal. Der Zentral-Computer heißt fast immer 'Mutter', ein ´Mutter-Computer´, der ein ´Mutter-Schiff´ kontrolliert oder eine ´Mutter-Stadt´. Natürlich gibt es eine etymologische Beziehung zwischen ´Mutter-Computer und ´Host-Terminals´, aber dennoch sehe ich da eine subtile Konnotation. Die Mutter ist nicht wie Big Brother. Sie behütet ihre Kinder. Sie umarmt ihre Kinder, und sobald die Kinder sich über etwas beklagen, ist sie da, um Süßigkeiten auszuteilen. Die Kinder können sich vollständig auf sie verlassen.

VG: Der Computer als eine Art elektronischer Wiege bewirkt diese Infantilisierung?

AA: Ja, sogar der elektronische Mutterschoß des Muttercomputers. Das ist natürliche eine Übertreibung der wirklichen Situation, die intuitiv z.B. von SF-Autoren erfaßt wird. Das ist das eine. Ich habe über die Kamera gesprochen. Man kann aber auch die TV-Spiele nehmen. Der Computer wird zu einer sehr geduldigen Mutter. In Wirklichkeit ist die Mutter beschäftigt, Essen zu bereiten usw., deshalb kann sie sich nicht 24 Stunden lang um ihre Kinder kümmern. Sie muß weggehen. Deshalb müssen die Kinder lernen, selbständig etwas zu machen. Aber heute werden die Computer zu einer Mutter, die so geduldig ist, daß sie sich 24 Stunden um sie kümmern kann. Der unablässige Fluß von bunten Bildern, mit denen die Kinder spielen können, ist das Ideal der Computer-Spiele.

Ich habe in den Computer-Spielen eine psychoanalytisch sehr archaische Art von Bildlichkeit gesehen. Und die Geschichte ist fast immer mythisch. Man muß viele Gefahren bestehen, um eine Prinzessin zu retten. Das ist kein Roman, sondern eine Romanze, eine mythische Geschichte, beinah eine Odyssee. Einige sehen darin einen Widerspruch -- die Hochtechnologie zusammen mit sehr archaischer Mythologie. Aber ich denke, es ist kompatibel, weil die Technologie heute zu einer Mutter wird, die gegenüber den Kindern sehr nachsichtig und sanft ist. Natürlich übertreibe ich, und es ist nur ein kleines Symptom, aber wenn man dieses Symptom extrahiert, kann man diese Art von spielerischem und angenehmem Dystopia erkennen, in dem man sogar das Bewußtsein davon verloren hat, darin eingeschlossen zu sein. Das ist der gefährliche Aspekt, den ich voraussehe in dieser Art von Infantilisierung, die die Technologie vorantreibt. In dem Sinne bin ich also pessimistisch.

VG: Es ist sehr interessant, daß Sie mythologische Strukturen anführen. Ich habe den Eindruck, daß an vielen Stellen, wo Leute aus der Literatur oder der Philosophie über die mediale Situation nachdenken, wieder Gottheiten und Geister und Gespenster auftauchen. Das wäre eine Art neuer Animismus.

AA: Ah, ja.

VG: Könnte es so sein, daß wir von einem Animismus ausgegangen sind, mit einer Vielzahl von beängstigenden Gottheiten und Geistwesen, mit denen wir uns arrangieren mußten; daß die Menschheit dann durch eine Phase von Rationalität gegangen ist, in der das Subjekt alle Formen der vernunftmäßigen Interaktion mit Naturkräften, die sich rational erklären lassen, an sich gezogen hat; und jetzt am Ende steigen -- nicht von außen, sondern aus der menschen-gemachten Struktur der Technik und Medien selbst -- wieder Geister auf. Also eine Animation, nicht im technischen Sinne des Wortes, sondern als menschengemachte Form von Animismus?

AA: Ja, ich habe auch diesen Eindruck.

VG: Z.B. in Wiliam Gibsons Cyberspace tauchen alle möglichen von diesen Geistern auf.

AA: Ja, und es ist nicht die katholische oder protestantische Form von Gott, sondern z.B. Voodoo. Es ist sehr primitiv, weil es hi-tech ist. Ja, vielleicht haben Sie recht. Ich selbst glaube, daß es eine Art zirkulären Kurzschluß gibt zwischen hi-tech und einem oft sehr primitiven Animismus. Das System wird so omnipräsent, so kompliziert, so gigantisch, daß es beinah unweigerlich reifiziert wird als allgegenwärtige Gottheit, wenn nicht Gott. Ich glaube nicht, daß die moderne Kritik ihren Gegenstand verloren hat. Vielleicht kann man nicht mehr von der Befreiung des Menschen 'als Gattung' sprechen. Aber man kann diese Art der Reifikation und Re-Mystifizierung des Systems zu etwas wie einem galaktischen Mutterschoß oder einer Gottheit kritisieren. Und das ist genau die Aufgabe des Künstlers, soweit ich das sehen kann. Die wirklichen Künstler können mit diesen Bilder nicht spielen. Sie können damit spielen, aber zur gleichen Zeit kritisieren sie es von innen heraus. Im Fall von Ingo Günther z.B. sehe ich diese Doppelstruktur. Sein Raum ist sehr mythisch. Er ist dunkel, wie eine Platonische Höhle, in der man diesen Marmorwürfel sieht, über dem man steht wie ein griechischer Gott, der auf die menschlichen Kriegshandlungen herabblickt und der in der Lage ist, mit einer Handbewegung ein Land auszuradieren. Aber dennoch gibt es von Seiten des Künstler ein sehr ironisches Bewußtsein und eine Selbstkritik. Es ist in Ordnung, sich von den Möglichkeiten bezaubern zu lassen. Und zur gleichen Zeit braucht man und sollte man nicht sein Bewußtsein aufzugeben. Das ist ein sehr schwieriger Doppelstandard, aber ohne den verliert ein Kunstwerk seinen Status als Kunst und verwandelt sich in ein Spielzeug oder ein rituelles Instrument. Ich sehe die starke Tendenz, wenn nicht reaktionär zu werden, so doch zum Mythos zurückzukehren via hi-tech. Das ist genau die Bedingung, die das wirklich ernsthafte, kritische, künstlerische Werk heute unentbehrlich macht. Das ist der Grund, weshalb ich sagte, ich bin zugleich pessimistisch und optimistisch.

VG: Sie sagten, daß Kritik nur aus dem Innern des Systems möglich sei. Eine Kunst, die kritisch auf die condition humaine reflektieren will, auf das Verhältnis des Menschen zu seiner natürlichen, ökologischen Umwelt und zu seiner technischen, medialen Umwelt, woher könnte die ihre Kriterien beziehen, welchen Standpunkt der Kritik könnte sie einnehmen?

AA: Nun, wie ich sagte, bin ich nicht sicher, wo die absolute Grundlage der Kritik liegt. Aber eines ist, daß die Vision von organischer Totalität immer suspekt ist. Die Vision von einem ökologisch harmonischen System ist immer in gewisser Weise trügerisch. Und wenn man die Theorie beiseite läßt, kann der Künstler Mißtrauen empfinden gegenüber dieser Betrachtungsweise. Vielleicht ist das ein intuitives Gefühl von Diskrepanz oder Bruch oder Spaltung usw. Und manchmal haben sie unrecht. Ich glaube, diese intuitive Abgestoßenheit von dieser Vision der organischen Totalität könnte ein Ausgangspunkt sein, von dem der Künstler, wenn nicht kritisieren, so doch sich distanzieren kann von dem Mythos des elektronischen Mutterschosses. Diese Art von Mißtrauen gegenüber der organischen Totalität ist ein Sinn für Geschichte. Die organische Totalität wird als etwas Natürliches angesehen, etwas, das allem vorausgeht, das dem menschlichen Eingriff vorausgeht, aber das lebendig ist, weil die Natur oft das Ergebnis vorangegangener Technologie ist, z.B. der Landwirtschaft. Die Japaner denken immer an die Natur. Aber das ist die Natur, die sie gemacht haben, z.B. im letzten Jahrhundert, die Reisfelder, die Wälder usw. Wenn man der organischen Totalität mißtraut und sie kritisiert, muß man über die Geschichte sprechen. Die Natur ist historisch. Ich glaube, das ist sehr wichtig.

Und was die Kunst und die Semiotik betrifft, ist diese Unterscheidung vielleicht die von Symbol und Allegorie, wie sie z.B. von Walter Benjamin charakterisiert wird. Symbol ist ein Zeichen, das -- symbolise und symbolisée -- das symbolisiert und symbolisiert wird, das über innere Ähnlichkeit bezogen ist. Es ist ein natürliches Zeichen, das vivant et vecu ist. Das ist Mythos und symbolische Kosmologie, symbolische Totalität. Ein symbolischer Organismus ist beinah immer eine Art von Illusion. Gegen die lobt Benjamin auf paradoxe Weise die Allegorie. Weil die Allegorie ein totes Zeichen ist. Und in der Allegorie sind Bezeichnetes und Bezeichnendes willkürlich verbunden durch Konvention. Und Konvention ist immer historisch. Z.B. wurde das Alte Testament als Allegorie des Neuen Testaments angesehen. Der Exodus als Allegorie des toten Christus, der wiederaufersteht. Aber das ist eine künstliche und darübergelegte Interpretation und als solche, vom symbolischen Standpunkt aus gesehen, sehr willkürlich und sekundär und parasitär. Aber als vielschichtige Ruine der toten Zeichen kann die Allegorie, nach Benjamin, über die Geschichte sprechen. Geschichte als Ruine. Ich glaube, diese Art von geschichtlichem Bewußtsein ist vonnöten, auch auf dem Gebiet der Technologie. Hier hat man die Neigung, fast ausschließlich von der harmonischen Totalität zu sprechen, die man durch die neue Technologie erlangen kann, von der neuen Vision. Und die ist fast immer illusorisch. Ich kann nicht auseinanderhalten, was technologisches Symbol und was technologische Allegorie ist, aber dennoch kann es diesen subtilen Unterschiede in der Haltung eines Künstlers geben. Aber er ist sehr subtil, und kein vorbestimmter Unterschied kann wahrgenommen werden. Ich glaube dennoch, das ist entscheidend.

VG: Im Westen führt die Tradition der Subjektphilosophie dazu, daß die Denker sich von Computern und besonders von der künstlichen Intelligenz bedroht fühlen. In Japan gibt es diese Verlustangst nicht. Sind die Japaner besser auf das vorbereitet, was kommt?

AA: Nun,... Vielleicht ist Japan zu gut vorbereitet, im schlechten Sinne, durch die oberflächliche Wiederholung von leeren Zeichen z.B., so daß es sich der Oberfläche der neuen Technologie anpassen kann. Aber was die tiefgreifende Veränderung, die ich angedeutet habe, betrifft, bin ich nicht so optimistisch. Sagen wir, sie passen sich neuer Technologie zu leicht an, um die wirklichen Widersprüche, die wirkliche subtile décollage zwischen Mensch und Technologie zu sehen. Ich unterstütze keineswegs die Subjektphilosophie in ihrer klassischen Form und die Kritik, die sich auf sie beruft, aber dennoch, das Bewußtsein dieser Kluft, dieses fast unabänderlichen Abstands könnte ein Ausgangspunkt sein, um etwas wirklich Ernsthaftes zu entwickeln. Was Japan betrifft, bin ich wiederum sehr gespalten. Aber ja, manchmal denke ich, in Japan kann man interessante, ernstzunehmende Arbeiten machen. Auch in Deutschland oder in Frankreich z.B. dringt die Hochtechnologie mit sehr erstaunlicher Geschwindigkeit vor. Vielleicht ist der Unterschied nicht so groß, wie man sich vorstellt.

VG: Mit der Globalisierung des Verkehrs der Waren, Menschen und Informationen kommt die Vision von einer vereinheitlichten Welt auf uns zu. Sind dann die kulturellen Unterschiede nicht die einzige Ressource, die uns vor Homogenisierung bewahren kann? Und wenn dieser Weg in die Katastrophe führt, welcher Art auch immer -- es muß kein Weltkrieg sein, der in diesen Tagen wieder unwahrscheinlicher wird -- wäre Diversifikation die einzige Chance, daß es keine globale Katastrophe wird?

AA: Ja, ich denke schon, daß die Unterschiede der Kulturen eine der wichtigsten Ressourcen sind, die wir haben und die jetzt am Rande der Homogenisierung stehen. Aber ich glaube, wenn man von den Unterschieden der Kulturen spricht, muß man vorsichtig sein mit der Definition von Kultur. Was ist kulturelle Identität? Ist das die kulturelle Identität von Asien, Japan, Tokyo usw.? Selbst innerhalb von Japan gibt es viele Traditionen, von denen einige unvereinbar sind, einige kommen aus Korea, aus Taiwan usw. Natürlich ist es wichtig diese kulturellen Unterschiede zu bewahren und weiter zu entwickeln, aber ich glaube nicht an eine allgemeine Definition der kulturellen Identität von Japan oder Asien. Wenn man das gesagt hat, ja, die kulturellen Unterschiede sind ziemlich wichtig. Kürzlich habe ich einen Künstler getroffen, Miajima Tatsuo, der in einem dunklen Raum aus einer Reihe von roten Leuchtdioden Formen, einen Kreis oder ein Dreieck, gestaltet. Es sind Hunderte von kleinen roten Zahlen, von denen einige in sehr hoher Geschwindigkeit zählen. Auch das ist wieder eine Allegorie von, sagen wir, dem star wars-Kontrollraum. Aber zugleich ist es wie ein Meditationsraum des Zen-Buddhismus oder der Teezeremonie in seiner wesentlichsten Form. Ich habe es als sehr japanisch empfunden. Nicht im schlechten Sinne, aber in einem positiven Sinne. Wenn nicht japanisch, so doch sehr orientalisch. Diese Art von Unterschied könnte reflektiert werden in den Kunstwerken, in den Mustern der Medien. Das könnte ein Potential für wirklich neue Werke sein.

Auf der einen Seite haben wir eine sehr vulgäre Art von Japanisierung, eine vulgäre Art von Snobismus. Die populären Programme im Fernsehen z.B. sind sehr, sehr japanisch. Selbst in den Werbefilmen muß es unsinnig sein, es muß eine Parodie von einem selbst sein. Deshalb nähert es sich an das leere Spiel der Signifikanten an. Es ist in einem gewissen Sinne sehr snobistisch mit dem Wort Kojèves. Aber zugleich können ernsthafte Kunstwerke gemacht werden mit einer fundamentalen japanischen oder orientalischen oder zen-artigen Einsicht. Ja, in der Richtung sehe ich einen hoffentlich fruchtbaren Weg, Technologie zu präsentieren, der Hand in Hand geht mit der Kultur der Differenz.

VG: Wir haben schon fast anderthalb Stunden miteinander gesprochen und ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, mir dieses Interview zu geben.

AA: Nein, nein, es war mir ein Vergnügen. Ich war nicht ganz vorbereitet. Ich habe improvisiert auf eine bizarre Weise.