1. Beginnen wir im Paradies. Die Ur-Erfahrung von Realität ist die der Ungeschiedenheit. Z.B. mit Nishida: Die Reine Erfahrung ist bezogen auf eine "Einheit, die das Universum umfaßt". Sie ist der Anfang der Welt, weil Anfang des Bewußtseins. Erkenntnis und Gegenstand sind eins. Gegenwartsbewußtsein des Tatsächlichen als solchem, ohne jegliche Bedeutung. Keine Unterscheidung von Innen (Traum) und Außen (Wahrnehmung). Die menscheitsgeschichtliche Erfahrung wiederholt sich im Werden jedes Einzelnen. "Das Bewußtsein des Neugeborenen ist eine unbestimmte verworrene Einheit, in der selbst hell und dunkel noch nicht geschieden sind. Aus dieser Einheit differenzieren sich verschiedenartige Bewußtseinszustände heraus." "Das Noumenon der Natur ist letztlich die Tatsache der unmittelbaren Erfahrung, in der Subjekt und Objekt noch nicht voneinander getrennt sind."
2. Die Spaltung, das erste Urteil (die Ur-Teilung) führt zu Selbstwahrnehmung und Wissen von der Natur. Z.B. mit Nishida: Subjekt und Objekt treten auseinander in Opposition. Das Subjekt ist somit primordial gespalten, da aus der Spaltung hervorgegangen. Das Objekt, das "Phainomenon bezeichnet den Zustand des Widerspruchs in der differenzierenden Entwicklung der Realität." Im Spannungsfeld von Noumenon und Phainomenon leben Geister, Götter, der eine Gott, die Metaphysik, der Nominalismus und der Realismus. Sie erfüllen immer auch die Funktion der Rückbindung an einen Ursprung, ob in Mythos oder Ur-Knall-Theorie. Das Subjekt begehrt nach Wiedervereinigung. Natur meint jetzt "den Rest, der bleibt, wenn von der konkreten Realität die subjektive Seite, d.h. aber die Einheitsfunktion abgezogen wurde... Die durch die sogenannte induktive Methode erschlossenen Naturgesetze enden bei der Hypothese, daß eines die Ursache eines anderen ist... über die Erklärung kann die Naturwissenschaft nicht hinauskommen, unabhängig davon, welche Fortschritte sie noch machen wird. Sie kann nur noch exakter und allgemeiner werden."
3. Ein objektiver Wahrheitsprozeß, aus dem sich das Subjekt abgespalten hat, steht am Ursprung der modernen Naturwissenschaft. Z.B. mit Robert Boyle (Latour): Die empirische Wissenschaft weiß Dinge, weil sie sie unter Umständen hervorbringen kann, die sie vollständig kontrolliert, aus denen also alles Zufällige und Subjektive beseitigt ist. Das Laborexperiment zwingt die Objekte selbst, unter wiederholbaren Bedingungen und unter Zeugenschaft qualifizierter Subjekte ihre inhärenten Gesetzmäßigkeiten zurschauzustellen. Die Rolle der anwesenden Menschen besteht lediglich darin, das inszenierte Augenfällige zu bekunden. Die Hauptdarsteller im Theater des Beweises sind nicht-menschliche Aktoren. Diese Aktoren, die der Empirismus in einem Netz aus standardisierten Praktiken hervorgebracht und mobilisiert hat, folgen allein ihren inhärenten Gesetzmäßigkeiten. Da diese erkennbar sind, können Subjekte nicht nur wissen, d.h. sehen, sondern auch wollen. Der Beweis der Analyse ist die Synthese. Was gewußt wird, kann gemacht werden.
4. Wir sehen doppelt. Wir sehen die Dinge, wie sie in unser Auge fallen, und wir sehen sie durch einen wuchernden Flaum von Zeichen. Symbole, Begriffe, Metaphern, um die Objekte einzufangen, die nach und nach aus dem Kontinuum der Natur herausisoliert werden. Sie sind die Möglichkeitsbedingung der Geschichte des Denkens von seinem Ur-Sprung an. Z.B. mit Flusser: Die Zeichen haben eine Abfolge von Universen von zunehmender Abstraktion und abnehmender Dimensionalität durchlaufen, "das der Skulptur- der zeitlosen Körper -, das der Bilder - der tiefenlosen Flächen -, das der Texte - der flächenlosen Linien - und das der Komputation - der linienlosen Punkte." Die jeweiligen Ursprünge sind markiert mit der Venus von Willendorf, den Höhlenmalereien von Lascaux, der Schrift von Ugarit, und den technischen Bildern der Fotographie, des Films, des TV und des Computers. Der Zeichenraum der modernen Wissenschaft ist der von Texten und Zahlen. Vorstellungsorgan des Zählens sind die Finger, durch die die calculi laufen. Für die linear geordneten Begriffe ist es das 'innere', theoretische Auge. Die eindimensionale Welt der Textzeile und des Gewebes aus ihr und mit ihr Logos, Wahrheit, Logik, Kausalität, Geschichte - die Gutenberg Galaxis.
5. Die Zeichen lösen sich von den Dingen und werden selbständig und selbstgefällig. Z.B. mit Kittler: Der Take off beginnt mit Leibniz. "Nie zuvor hatte jemand den systematischen Versuch gestartet, weder Dinge noch Worte noch Menschen, sondern nackte und stumme Zeichen zu manipulieren." Während die Zahlen noch für Gauß als Hebel an den Dingen funktionierten, beginnen sie kurz darauf ihr Eigenleben. August de Morgan schrieb über Eulers imaginäre Zahl i, ihre "Unmöglichkeit", also Unvorstellbarkeit, falle dahin, "sobald man es nur gewohnt wird, Symbole und Kombinationsgesetze zu akzeptieren, ohne ihnen irgend eine Bedeutung zu geben." Am Höhepunkt der Gutenberg Galaxis schrumpfen Zeichensysteme auf ihren kleinstmöglichen Umfang zusammen, der auf der einzigen Unterscheidung zwischen zwei Zeichen beruht, den Bits (basic indisoluble information units) der Boolschen Binärnotation, die die Wahrheitswerte der formalen Logik mit 0 und 1 anschreibt. Shannon wies 90 Jahre später nach, daß sich diese Wahrheitoperationen in An- und Aus-Zustände von elektrischen Bauteilen übersetzen lassen. Schließlich, z.B. mit Hodges, zeigte Gödel als Antwort auf Hilberts Frage nach Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit und Entscheidbarkeit der Mathematik nicht nur, daß es zahlentheortische Aussagen gibt, die weder bewiesen noch widerlegt werden können, sondern auch, daß all die Operationen des "Beweisens", diese "schachspielartigen" Regeln des logischen Schließens, ihrerseits arithmetischer Natur sind, "daß die Formeln seines Systems durch ganze Zahlen verschlüsselt werden konnten, so daß er ganze Zahlen erhielt, die Aussagen über ganze Zahlen darstellten." Seitdem dieser letzte Unterschied zwischen Zahlen und Operationen auf Zahlen verschwunden ist, sind mechanische, also sinnlose Verfahren für selbstbezügliche Aussagen möglich.
6. Im nächsten und letzten Schritt wird dieses mechanische Verfahren in einer selbstätigen Maschine implementiert. Turing nahm sich die von Gödel übriggelassene Hilbert-Frage vor, die nach Entscheidbarkeit, und erdachte auf den Wiesen von Granchester eine Maschine. Eine besondere Maschine, die wie er nachwies, jedes Phänomen und jeden Prozeß, der vollständig und unzweideutig beschrieben werden kann (was die Definition sowohl des Algorithmus/Automaten, wie die des intersubjektiv überprüfbaren Wissens der Wissenschaften ist) emuliert. Das Problem, neue Maschinen zu bauen, gleich von welcher Größe oder Komplexität, ist fürderhin ersetzt durch dasjenige, einen endlichen Satz von Anweisungen für die Universal-Maschine zu schreiben, der diese in die neue Maschine verwandelt. Am Nullpunkt der Zeichendimensionen findet in einer Art Ur-Knall eine, wie Flusser schreibt, revolutionäre Kehre von 180 Grad statt. Die Turing-Maschine ist der denkbar einfachste selbstätige Unterscheidungsautomat, der Systeme von jeder denkbaren Komplexität, u.a. das Wissen von der Natur, hervorbringt. Mehr noch fand ein von der Turing-Maschine informierter Blick auf die funktionalen Bestandteile des menschlichen Gehirns einen umfangreichen, aber dennoch endlichen Automaten vor, der somit prinzipiell von einer universalen Turing- Maschine emuliert werden kann. Modellbildung, logisches Schließen, Mustererkennung usw. - also das, was konventionell Denken hieß - ist in die Maschine verlegt.
7. Damit haben sich die Bedingungen unseres Denkens und Daseins grundlegend gewandelt. Wir existieren in einem Zeichen-Milieu, in dem Hypothesen lauffähig sind. Wie in Boyles Theater des Beweises scheinen darin Gegenstände in ihren Bestimmungszusammenhängen auf. Wissenschaftler betreiben Simulation und Scientific Visualization im Glauben, dem klassischen Wissenschaftsmodell zu folgen, eine grundsätzlich hypothetische Näherung an die subjektsunabhängige Welt versuchshaft in der Theoriebildung vorwegzunehmen und diese an Experimenten und Messungen zu überprüfen. Z.B. KR+cFs computer-gestützter Südpol: Die Antarktis ist ein Topos, der fast auschließlich durch Wissenschaft definiert wird. Doch die Wissenschaftler sagen, wenn sie dort hingehen würden, sähen sie nichts. Daher gibt es dort nur Automaten und Roboter, die Meßdaten über das Internet in die Labors speisen, mit denen sie dann beginnen zu simulieren. Das Produkt, das dabei entsteht, nennen KR+cF Computer Aided Nature (CAN). Die Wahrnehmung der Natur, die, ob in der Antarktis, der Welt der Quanten oder der der Sterne, die Grenzen des unvermittelt Wahrnehmbaren längst hinter sich gelassen hat, aber der überlieferten Auffassung zufolge Bedingung der Erkenntnis ist, wird einerseits von Meßinstrumenten, Scannern, Satelliten, Teleskopen übernommen, wobei, so die Annahmen, das Datenmodell je 'wahrheits-getreuer' ist, je dichter und flächendeckender die Abtastungen. Andererseits wird sie ersetzt durch Berechnung, durch selbstreferentielle Operationen auf dem bereits vorliegenden Datenraum. Damit hat der Realismus, ob naiv oder kritisch, endgültig den Boden unter den Füßen verloren. Simulationen sind keine Experimente; die artifizielle Sichtbarkeit zweiter Ordnung liefert nicht den Augenschein Boyles; die Bit-Zeichen sind nicht indikativisch, sondern imperativisch - Pro-Gramm ist Vor-Schrift; außerhalb der menschlichen Erkenntnisfähigkeit lauffähige, autonome Modelle sind keine Denkmodelle. Die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis, also die Wahrnehmbarkeit des Objekts sowie die Erkenntnisfähigkeit des Subjekts, sind in die Maschine übergegangen. Im Bit-Raum der abgetasteten und errechneten CAN bewegen sich - als erste rudimentäre Ansätze zur Realisierung von Turings Gehirn-Maschine - autonome Agenten (Knowbots). Vorgeblich stehen sie auf seiten der wissenschaftlichen Wahrheit, doch als epistemologische Doppelagenten, Chimären, zeichengeborene Wesen stehen sie immer schon auf seiten des reinen Codes.
8. Wenn wir von CAD/CAM sprechen, meinen wir eine vom Computer unterstütze, zweckorientierte Erzeugung, den Entwurf und die Fertigung von Artefakten. Was meint ein computer-gestütztes Dasein in einer computer-gestützten Natur? In der Matrix ist nichts da, was nicht geschrieben ist - oder sich geschrieben hat. Es gibt nicht den Hintergrund von Nicht-Zeichen, das Zufällige, das keiner designten Vermittlungsabsicht dient. Wo alles gemacht ist, gibt es keine unmotivierten Gegenstände. Z.B. mit Brenda Laurel: "Außer der Repräsentation gibt es nichts. Stellen Sie es sich als existentielles WYSIWYG vor." In einem reinen Zeichenraum ist die Frage nicht, was etwas ist, sondern was sein soll - die Frage nicht nach Wahrheit sondern nach Design. Modelle statt Begriffe, Magie statt Logos, Geschichten statt Geschichte, ästhetik statt Epistemologie (z.B. Flusser oder Feyerabend). Heute stehen wir an diesem Nullpunkt der Dimensionen, der Welt der Punkte, die "unmeßbar, ein Nichts, und zugleich unermeßlich, ein Alles" (Flusser) sind. "Das Universum der Punkte ist leer, weil es nichts enthält außer Möglichkeiten, und weil es lauter Möglichkeiten enthält, ist es ein volles Universum." Flusser leitet daraus die Forderung ab, daß wir lernen müssen "in der Kategorie 'Möglichkeit' zu denken, zu fühlen und zu handeln." Die Turing-Maschine, die jede Maschine sein kann, ist im genauen Sinne Flussers dieser Raum der allesumschließenden Möglichkeit.
9. Der Begriff der Zweiten Natur oder CAN meint heute die Turing Galaxis
mit ihren Speichern, Rechnern, Netzen. Auf der Ur-Teilung von Null und
Eins beruht diese Welt der instantanen Antwort, der ortlosen Götter,
des Allwissens. In ihr fällt die Welt wieder mit dem Wissen über
sie zusammen. Wiederum sind Erkenntnis und Gegenstand eins. "Einheit, die
das Universum umfa". Keine Unterscheidung von Innen (Traum) und Aun (Wahrnehmung).
Nach dem Durchlauf durch die Geschichte von Animismus bis Animation (Beseeltheit
der ersten und sekundäre Beseelung der zweiten Natur) ist das nach
Wiedervereinigung begehrende Subjekt in ein selbstgeschaffenes Paradies
zurückgekehrt. Die Forderung Flussers nach einem Denken, Fühlen
und Handeln in der Kategorie Möglichkeit lautet also, sich auf den
Computer einzulassen. Die Maschine, die Host und Server heißt
- also 'Gastgeber' und 'Diener' - ist nur zu bereitwillig, uns einzulassen.
Es ist an uns, uns von unseren Maschinen einladen und auftischen zu lassen,
uns in ihnen einzurichten.
Latour, Bruno, We have Never Been Modern, Cambridge 1993, Harvard Univ. Press
Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, Reclam
Hodges, Andrew, Alan Turing, Enigma, Berlin 1989, Kammer & Unverzagt
Flusser, Vilém, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bensheim und Düsseldorf 1993, Bollmann
Unverzagt, Christian, Das Verschwiegene Buch Meta-Realismus (unveröffentlicht)
Laurel, Brenda, Computer as Theater, Reading, Mass. etc. 1991, Addison- Wesley
Grassmuck, Volker, Vom Animismus zur Animation, Hamburg 1988, Junius