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Die Turing Galaxis

Das Universal-Medium als Weltsimulation

Volker R. Grassmuck
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 Die Genealogie der Medien geht zurück bis auf die ersten als Symbolträger dienenden Artefakte des Menschen. Sie bewegt sich in großen Schritten über die Buchkultur der Gutenberg Galaxis und die technischen Netzwerkmedien des 19. Jahrhunderts bis zur elektronischen, digitalen Gegenwart - der Turing Galaxis. Jede Phase der Medien beruht auf bestimmten Grundelementen, dem Zeichenmaterial und seiner Materialität, die wiederum charakteristische Operationen, z.B. Formen der Speicherung oder Verküpfung, zulassen.

Im Laufe dieser Geschichte unterliegen die Operanden einer Entmaterialisierung. Folgt man Vilém Flussers Mediengenealogie, findet man Universen von zunehmender Abstraktion und abnehmender Dimensionalität: "das der Skulptur - der zeitlosen Körper -, das der Bilder - der tiefenlosen Flächen -, das der Texte - der flächenlosen Linien - und das der Komputation - der linienlosen Punkte." (S.9)

Gleichzeitig nehmen Medien einen immer umfassenderen Teil des Horizonts des Mensch ein. Dieser Begriff ist von Virilio entlehnt, der vom natürlichen Horizont der 'kleinen Optik' im materiellen Raum (direktes, natürliches Licht, das unmittelbar und in echter Zeit wahrnehmbar ist) spricht, im Gegensatz zum Horizont der 'großen Optik' oder 'Elektrooptik' (indirektes, künstliches Licht, das in Echtzeit auf einem Videoschirm wahrgenommen wird). Er wird hier nicht nur im optischen Sinne verwendet, sondern allgemeiner als die Grenzen dessen, was Menschen zu einer bestimmten Zeit über Medien wahrnehmen können. Nur der Teil der Welt, der bereits mediatisiert ist, erscheint auf dem Medienhorizont, und er erscheint in der sensorischen Bandbreite, mit der jeweils der Medienkonsument an den künstlichen Horizont angeschlossen ist. Während der Medienhorizont sich stetig ausweitet, markieren Galaxien jeweils einen umfassenden Wandel in Paradigmen und Gesellschaft.

Mit der Elektrifizierung werden Medien zu Netzen. Gibsons Begriff Matrix ist in diesem Zusammenhang zentral, der sich das multidimensionale Kommunikationsmilieu repräsentiert durch ein Gitterwerk aus Licht und Logik vorstellte, wie es uns von Computerspielen vertraut ist. Eine technisch präzisere Definition wurde ihm durch Quarterman verliehen, der mit Matrix das globale und exponentiell wachsende System von Computernetzen wie Internet, UUCP und Bitnet und die sie verbindenden Gateways zu sog. Outernets wie CompuServe oder NiftyServe, über die mindestens Email ausgetauscht werden kann, bezeichnete.

In der Turing Galaxis, im Universum der integrierenden und informierenden Universal-Maschine, so die These, beobachten wir heute die Umkehr des von Flusser beschriebenen Wegs: von der Nulldimensionalität der Bits, über eindimensionale Texte und zweidimensionale Bilder, zu gestaffelten Hypertexträumen, komplexen Netzen und dreidimensionalen Räumen, und schließlich zu vierdimensionalen Interaktionsräumen. Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine Rückkehr in irgendeinem Sinne. An die Stelle der Kategorie der Wahrheit, in deren vermeintlichem Dienst die Abstraktion vorangetrieben wurde, ist die der Möglichkeit getreten. Es soll gefragt werden, in welche Richtung sich der Horizont der Turing Galaxis entwickelt und welche neuen Arten von Operationen das Universalmedium Computer erlaubt.

Unterwegssein & Gedächtnis

Als in die Welt Geworfener ist der Mensch zuallerst Missile und Medium. Versteht man den Nomaden als Mediensystem, so zeigt sich, daß er In- und Output, Speicherung und Übertragung unmittelbar verkörpert. Im Unterwegssein schreibt sich der Weg in seinen Körper und umgekehrt er selbst sich in die Welt ein. Speichern und Abrufen von Erinnerungen sind eins. Das Gedächtnis wird, wie in den Songlines der australischen Aborigines, vom ganzen Körper ausagiert, und es gehört nicht dem Einzelnen, sondern dem Clan, der darin beständig seine kollektiven Herkunft von den Vorfahren aktualisiert (Chatwin).

Mit der Seßhaftwerdung treten die Bestandteile auseinander. Die Geschichte der Medien ist diese Zergliederung des Mediums Mensch und die Externalisierung seiner einzelnen Funktionen in Artefakten. Verkehr tritt als eigenständige Seinsweise, als Mittel der Übertragung erst hervor im Gegensatz zur Seßhaftigkeit. Mit Techniken und Materialien zur Aufzeichung von Beobachtungen und Erfahrungen beginnt, was Flusser das Abstraktionsspiel nennt. Er datiert seinen Ur-Sprung mit dem Willendorfer, der aus einem Hirschgeweih die "Venus" schnitzte und aus dem Kontiuum der Raumzeit das dreidimensionale Universum der Skulptur herauslöste. Es herrschte die Vorstellungskraft der Hände, die fähig sind, "die uns angehenden Körper festzuhalten, um sie zu begreifen," (S.12 f.) und die Magie.

Diese Artefakte konstituieren ein Reich externer Symbolspeicher, das sich in der Folge in immer dichteren Lagen um die nicht-medialen Aspekte der Welt legt und unser Daseins schließlich weitgehend bestimmen wird. Information wird unabhängig vom lebenden menschlichen Gedächtnis und transportabel in Raum und Zeit. Wir können jedoch annehmen, daß die damaligen Menschen diese symbolischen Artefakte nicht als mediale Speicher für einen fernen Dritten, als Botschaften gar für eine Nachwelt ansahen. Vielmehr dienten diese sakralen Objekte dem Austausch mit allgegenwärtigen übermenschlichen Entitäten. Sicher wurden sie auch auf Wanderungen mitgenommen und ausgetauscht, doch erhielten sie ihre Bedeutung erst im Rahmen des lebenden gesungen, getanzten Gedächtnisses, in den Riten und Festen. Die Beine laufen nicht mehr, aber wenn sie im Tanz den Rhythmus des Gedächnisses skandieren, erinnern sie sich noch an das Unterwegssein.

Aus den Traumpfaden der nomadischen Vorfahren wird ein mentales Unterwegssein. Über Tage hinweg vorgetragene Epen bedienen sich Melodie und Reim als Gedächtnishilfe, vor allem aber einer ausgeprägten visuellen Vorstellungskraft. Zeugnis davon bewahrt sich, wo diese alte Technik in die Schriftkultur hineinragt. Die Griechen haben eine Kunst, die ars memoria, daraus gemacht, die noch heute als Mnemotechnik bekannt ist. Dabei werden loci und imagines agentes (Orte und aktive lebhafte Bilder) benutzt, um in einem dynamischen Format res und verba (Dinge und Wörter) zu speichern (Yates). Weiterhin agiert hier ein Körper im Raum, doch nur als mentales Wandeln zwischen Säulen und Statuen, während der Orator seinen durch und durch seßhaften Zuhörern Ideen vor Augen führt.

Der Schritt von Beinen und Händen zum Auge als wichtigstem Vorstellungsorgan markiert die nächste Stufe in Flussers Abstraktionsspiel. In den Höhlen von Lascaux fand der Übergang ins Universum der Bilder statt, vom Volumen zur oberflächlichen Szene. Daraus geht das Universum der Texte hervor, zum Beispiel das der mesopotamischen Epen. Die lineare Schrift entsteht, als die zweidimensionalen Bilder nebeneinander auf eine Reihe gesetzt werden, sowie aus der Notwendigkeit zu zählen. Vorstellungsorgan der linear geordneten Begriffe ist das 'innere', theoretische Auge, vor dem sich bildhaft noch die Theaterstücke der ars memoria abspielten. Vorstellungsorgan des Zählens sind die Finger (digits), durch die die Zählsteine (calculi) laufen. Die Zahl, z.B. die Keilschrift der Babylonier, dient der Buchführung, addressiert somit Geschäftspartner und nicht länger Götter. Gegen die Bilder hat sich die eindimensionale Welt der Textzeile und des Gewebes aus ihr durchgesetzt, der Denkrahmen, der noch heute weithin vorherrscht.

Gutenberg Galaxis

Den Medienhorizont, der in Europa mit der Erfindung von Druckerpresse und beweglichen Lettern aufkommt, und die intellektuelle, kulturelle, soziale Struktur, die er formatierte, nannte McLuhan die Gutenberg Galaxis. In ihr entwickelt sich die ganze Bandbreite von typographischen Elementen und Operationen, die jede literate Person heute für selbstverständlich hält. Während die frühesten gedruckten Bücher noch mittelalterlichen Manuskripten ähnelten, markierte Aldus Manutius' Erfindung des Taschenbuchs zur Massenverbreitung von griechischen und römischen Klassikern das Ende des handschriftlichen Denkens. Das gedruckte Buch begann, sein eigenes Medienformat hervorzubringen, das schließlich Gesellschaft formatierte, indem es Massenliteralität ermöglichte, das Denken auf die Reihe brachte, und damit Logos, Logik, Kausalität, Wissenschaft, Wahrheit und Geschichte durchsetzte.

Ästhetische Elemente wie die beiden Satztypen Antiqua (roman) und Kursivschrift (italic), auf denen bis heute beinah alle abendländischen Druckschriften beruhen, wurden ebenfalls im Renaissance-Italien eingeführt. Zur gleichen Zeit taucht die Titelseite auf, als der Ort, an dem sich das Autor-Subjekt sowie der Drucker-Verleger einschreiben. Um es dem Leser/Schreiber zu erlauben, innerhalb des gedruckten Horizonts zu operieren, wurden Suchwerkzeuge wie Pagination, Index und Fußnoten eingeführt. Letztere verkoppeln den Leser aus dem vorliegenden Buch in den vollständigen Textkorpus der Bibliothek und verwandeln Bücher in Hypertexte avant la lettre (Bolz).

Die Gutenberg Galaxis setzt sich zusammen aus Wörtern, die etwas bedeuten, die ihrerseits aus Buchstaben bestehen, die dies nicht tun. Die Auflistung der symbolischen Welt in einer sinnlosen alphabetischen Ordnung (in Enzyklopädien, Katalogen, Wörterbüchern, Bibliographien etc.) ermöglichte zwei wichtige Operationen des Gutenberg Horizonts: Treffwortsuche und Stöbern (Browsing). (Noch jede automatische Suchoperation in der elektronischen Matrix, die meisten Indizierungansätze für Bild- und Klangdaten eingeschlossen, ist daher strikt Gutenbergianisch.) Für terminologische, wenn auch noch nicht technische, Operationen auf Signifikanten selbst, wurde der typographische Operator Anführungszeichen eingeführt. Diese Gutenbergianische Erfindung erlaubte es, den Sachbezug von Wörtern und den Wortbezug von Wörtern auseinanderzuhalten und damit den funktionellen Unterschied der Sätze "Engel haben ein Wesen" und "Engel haben fünf Buchstaben" erstmals zu fassen. Diese Operationen bereiten den Grund für 'Prozesse des Abhebens der Zeichen', des Take off all dessen, "was an der Schrift über den Rand von Alltagssprachen hinaussteht" (Kittler), das uns in die Turing Galaxis führen wird.

Ein letzter Aspekt der Gutenberg Galaxis muß erwähnt werden. Die Bibliothek ist permanent, d.h. sie wächst ständig. Sie verfügt nicht über ein System der Eleminierung, keine 'strukturelle Amnesie' (Goody/Watt). Natürlich gibt es in jeder medialen Übertragung einen Verlust aufgrund von Rauschen. Gegenüber Manuskripten haben Bücher mit einer hohen Druckauflage eine bessere Chance zu überleben, nachgedruckt und zitiert zu werden, im wachsenden Zeichenspeicher präsent zu bleiben. Wie später die Nachrichtentechnik lehrt, ist Redundanz die offensichtlichste Strategie sicherzustellen, daß eine Botschaft ihren Empfänger erreicht. Doch die Erkenntnis, daß die Säure im Papier alle ab Mitte des 19. Jahrhunderts gedruckten Bücher, also zwischen 70 und 90% unserer Bibliotheksbestände, zu Staub zerfallen läßt, hat uns katastrophisch zu Bewußtsein gebracht, daß Zeichen weiterhin an physikalische Träger gekoppelt sind. Auch elektronische Datenträger nehmen ihre Inhalte mit ins Reich des Vergessens, wenn das Material 'altert' oder die letzte Maschine, die ihr Datenformat lesen könnte, verschrottet wird. Dennoch gilt, daß, während der Wissenshorizont der ars memoria und des Manuskripts von jedem Sprecher und Schreiber umgewälzt werden konnte, eine heutige Autorin auf einem Ozean von Gedrucktem schwimmt, und - sofern sie sich an die (am strengsten: akademischen) Regeln der Literalität hält - sich darin verankern muß, ohne je hoffen zu dürfen, Grund zu fassen.

Ein allerletzter Aspekt: Obgleich es zutreffen mag, daß die wichtigste Operation auf einem Text ist, ihn zu lesen und zu verstehen, so ist es gleichermaßen wahr, daß die häufigste Operation das Nichtlesen eines Textes ist - eine weitere Gutenbergianische Operation, die uns in der Turing Galaxis erhalten bleibt.

Galaxis der Technischen Medien

Technische Medien - Telegraph, Radio, Fernsehen usw. - brechen das Monopol des Buchs und reformatieren erneut radikal Welt und Mensch. Während sich alle vorgängigen Medien auf die Sinneswahrnehmung und das Bewußtsein stützten, um vorzuverarbeiten, was mediatisiert wird, zeichnen technische Medien Klang und Licht direkt auf, ohne menschliche Intervention über die Operation der Selektion hinaus (z.B. eine Kamera oder ein Mikrophon auf etwas richten).

Der Preis dafür ist, daß das Format, in dem Daten produziert, gespeichert, übertragen und empfangen werden, nicht mehr direkt von den menschlichen Sinnen gelesen werden kann. Technische Medien verwenden eine Decodiermaschine, um z.B. die Löcher in Jacquards Lochkarten oder die Hügel und Täler auf Edisons Blechfolie zu lesen. Im Prinzip kann jedes physikalische Phänomen zur Aufzeichnung von Information benutzt werden. Doch erst mit optischen, elektromechanischen und magnetischen Aufzeichnungsmethoden erstrecken sich unsere Speicherkapazitäten an der Lesbarkeit durch das nackte Auge und Ohr vorbei in den submikroskopischen Bereich.

Der Vorteil auf der anderen Seite liegt darin, daß submikroskopische Daten ohne materielle Bewegung im Raum und damit ohne menschliche Begleitung übertragen werden können. Nicht-technische Medien einschließlich Buch und Zeitung sind an einen physikalischen Träger gekoppelt. Ihre Bewegung beruht auf der gleichen Netzinfrastruktur wie der Verkehr von Menschen und Waren (Straßen, Herbergen, Häfen, Landkarten, Zölle, etc.) Mit dem Umschalten auf elektrische Signale treten Verkehr und Übertragung, Transport und Transmission auseinander.

Der Netzbegriff taucht im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit Telegraphie und Eisenbahn, Wasser- und Abwasserkanälen, Elektrizitätsleitungen und schließlich dem Telefon auf, das zum komplexesten und kapitalintensivsten technischen System aller Zeiten werden sollte. Netzwerke werden zu den Life-Lines, mit denen sich die jungen Nationalstaaten und die sich internationalisierenden Märkte zusammenfädeln (vgl. Flichy). Schon bald tritt die Tendenz von Verkehrs- und Kommunikationsnetzen hervor, aus Einzeltrassen und lokalen Inseln zu weltumspannenden Geflechten auszuwachsen. Damit ergeben sich Probleme der Normierung, des Rechts auf Zugang, der Gewährleistung des Flusses, und der Gefahr des Staus. Die ersten drahtgestützen Netze hatten eine sternförmige Punkt-zu-Punkt Struktur mit Zugangspunkten für In- und Output, Relais- oder Auffrischerstationen in regelmäßigen Abständen und zentralen Knotenpunkten, an denen die Signale zu ihrem Empfänger geschaltet werden. Netze entwickeln sich von staatlichen und privatwirtschaftlichen Steuerungsinstrumenten zu Grundversorgungleistungen. Ist eine Gesellschaft erst einmal umfassend um einen beständigen Fluß herum organisiert - hängt sie somit, metaphorisch gesprochen, am Tropf der Netze -, so hat eine Unterbrechung dieser Life-Lines, wie das jüngste Erdbeben im japanischen Kobe dramatisch deutlich machte, katastrophale Auswirkungen.

Marconis drahtlose Telegraphie weitete ab 1896 den Signalverkehr in das Radiospektrum aus. Das Punkt-zu-Punkt-Kabelnetz wurde von allgegenwärtigen Wellen ergänzt, die von jedem Besitzer eines Empfangsgerätes abgefangen werden können. Radio dehnte die Reichweite der Stimme prinzipiell (und tatsächlich erstmals bei der weltweiten Live-Übertragung von den Olympischen Spielen in Los Angeles 1932) auf den ganzen Globus aus. Mit den Rundfunknetzen von Radio und Fernsehen war die Zentrum-an-alle-Struktur erfunden. Der technische Ruf ist dies: einer spricht und alle hören zu (ohne antworten zu können). Rundfunkmedien schaffen die Massen, die sie adressieren. Sie synchronisieren Millionen von nicht-anwesenden anonymen Medienempfängern.

Die Massendistributionsmedien erfüllen die Aufgabe, Welt und Mensch in einer Art 'ursprünglichen Akkumulation des symbolischen Kapitals' zu rekonstruieren. Sie transponieren Ausschnitte der Welt in die Medien hinein und verkoppeln die Individuen mit ihnen, schaffen Zugangspunkte zu Jedem und Allen. "Die Homogenisierung von Menschen und materiellen Gegenbenheiten wurde das große Programm der Gutenberg-Ära, die Quelle eines Reichtums und einer Macht, wie sie jeder andern Zeit oder Technik unbekannt waren." (McLuhan) Was sich im Printmedium mit der quasi- kinematischen Reihung statischer Schnappschüsse in homogener Beziehung zueinander vorbereitet, entfaltet in den technischen Medien seine ultimative gewaltsame Macht. Das Programm der Homogenisierung von Menschen und Materialien übersetzt sich in seine militärische Form unter Bedingungen der Massenmobilmachung des zweiten Weltkriegs (Radio) und in seine zivile Nachkriegsform unter Bedingungen von Massen-Märkten, -Medien, - Automobilmachung, -Tourismus usw. (TV).

Ein weiterer entscheidender Vorteil der technischen Medien ist die Leichtigkeit, mit der sie - auf Knopfdruck und in Echtzeit - speichern können. In der Gutenberg Galaxis findet noch eine Filterung zwischen dem, was ist, und dem, was gedruckt ist, durch Lektoren, Verleger, Marktgesetze und Moden statt. Mit Kodak und Cassettenrekorder, dem automatischen Sensorium von Meßgeräten und Satelliten explodiert die Menge der Information in externen Speichern.

Zunehmend verschiebt sich die Wahrnehmung der Welt von den wirklichen Dingen auf ihre gespeicherten Mediationen. Sekretärinnen tippten nicht nach Diktat der leibhaftigen Stimme ihres Vorgesetzten, sondern nach einer Grammophon- oder Telegraphon-Aufzeichnung. Die Frage, ob Leland Standfords Pferd beim Gallop alle vier Füße gleichzeitig vom Boden nahm, konnte durch Beobachtung des nackten Auges nicht beantwortet werden, erst Muybridges Serienphotographie zeigte, daß es in der Tat der Fall war. Die Menge an Live-Musik, die wir hören, ist gegenüber der voraufgezeichneten Musik zu vernachlässigen. Während eine Live-Sendung immerhin eine Koexistenz in der Zeit impliziert, eine Simultaneität, die Authentizität zu garantieren scheint, so ist das meiste, was wir heute im Fernsehen zu sehen bekommen, voraufgezeichnet, bearbeitet, wiederholt - wenn die Bilder nicht ohnehin aus dem lokalen Speicher einer Videocassette kommen. Die persönliche Kommunikation verschob sich mit dem Aufkommen der Speicher von Anrufbeantworter, Fax und E-mail von synchron auf asynchron. Auch die Matrix ist vor allem ein gigantischer Speicher für Daten, eine gewaltige und rasend-schnell wachsende Bibliothek.

Kurz, große und exponentiell zunehmende Teile unseres Medienhorizonts sind 'Konserven', und zwei wesentliche neue Operationen, die technische Medien denen der Gutenberg Galaxis hinzufügen - kopieren (Xerox Maschine, Cassettenrekorder, Videorekorder) und editieren (Mehrspurtonband, Videorekorder) - basieren auf Speichermedien.

Digitalmaschinen

Die Geschichte der ars memoria geht mit Leibniz zuende, schreibt Yates. Wir können hinzufügen, daß mit ihm auch die Geschichte der Autonomisierung des externen Speichers beginnt, seine Mathematisierung und Mechanisierung, die Vorgeschichte des Computers, die sich über Babbage und Lovelace, Turing und von Neuman bis heute fortsetzt. Leibniz erfand eine Maschine, die durch schiere iterative Kombination jeden nur möglichen Text generieren würde, der sich mithilfe des alphabetischen Zeichensatzes von 26 Buchstaben plus dem Leerzeichen ausdrücken läßt, "eine allgemeine Methode, mit der sich alle Vernunftwahrheiten auf eine Art Berechnung reduziert würden." (De Arte Combinatoria) Seine ars combinatoria tritt an die Stelle der ars memoria. Oder, in der Formulierung von Lyotard: Da wir heute auf Speichern des virtuell vollständigen Wissens operieren, lautet die Aufgabe nicht mehr, Neues zu generieren, sondern überraschende neue Verknüpfungen zu schaffen. Vielleicht kann man ein gemeinsames Motiv in der Suche nach dem Universalschlüssel (ars memoria) sehen, die sich in die nach der Universalschrift (Leibniz) verwandelt und schließlich in die Universal-Maschine (Turing) und das universale Kommunikationssystem (Shannon).

Ich kann hier nur einige wichtige Schrittsteine hin zur Turing Galaxis berühren. Eine für sie grundlegende technologische Innovation ging Leibniz um beinah tausend Jahre voraus, die mechanische Uhr. Alle Symbolsysteme von der frühesten Keilschrift an sind digital, d.h. sie bestehen aus einem Satz diskreter Elemente. Alle beobachtbaren Phänomene der Welt dagegen existieren in der Zeit und sind daher analog: das Fließen von Wasser, die Bewegungen der Sterne, das Altern des Menschen, die menschliche Rede (daher ist die automatische Spracherkennung durch eine digitale Maschine so schwierig), etc. [1] Die erste analog-zu-digital Umwandlung findet sich bei der mechanischen Uhr: die kontinuierliche Zugkraft des Gewichts wird vom Hemmungsrad in diskrete Intervalle von gleichmäßigen Abständen zerhackt. Sie schrieb erstmals der Zeit eine digitale Struktur ein [2], sie schuf eine künstliche Zeit, die außerhalb der Operation der sie erzeugenden Maschine nicht existiert. Diese künstliche, digitale Zeit ist das Mittel zur Synchronisierung von technischen Medien, ob als Taktgeber des Computers oder als Timecode einer Videoeditiermaschine.

Der Computer hat seine Wurzeln in der Mathematik, die ununterscheidbar mit der Astronomie verbunden ist. Eine der ältesten Erfindungen des Menschen, der Quadrant, ist ein analoger Rechner zum 'Schießen' von Sternen und Planeten, um den Breitengrad festzustellen. Rechenmaschinen sind bereits vor Leibniz gebaut worden, z.B. Schickhards rechnendes Uhrwerk (1624) oder Pascals Addiermaschine (1642). Dennoch gebührt der Vorrang Leibniz, der eine große Synthese von Ideenströmen schuf und wesentliche Beiträge zur symbolischen Logik, zum Binärsystem, zur Kombinatorik und damit zur Geschichte des Computers leistete. Er führte mehr Operatoren ein als jeder andere (z.B. die Zeichen für Division, Integration, Kongruenz) und war der erste, der auf Operatoren operierte. "Nie zuvor hatte jemand den systematischen Versuch gestartet, weder Dinge noch Worte noch Menschen, sondern nackte und stumme Zeichen zu manipulieren." (Kittler, S.156 f.)

Babbage muß zumindest im Vorübergehen erwähnt werden. Sein Projekt des Analytical Engine hätte - wäre er gebaut worden - die meisten Kennzeichen des modernen Computers enthalten, die erst einhundert Jahre später realisiert wurden: einen Speicher, ein Werk (CPU), ein Transfersystem, In- und Output, den automatischen Betrieb, externe Datenspeicher, bedingte Operationen und Programmierung.

1847 führte Boole eine Binärnotation ein, um die Wahrheitswerte der formalen Logik zu repräsentieren. 0 und 1 stehen seither für 'falsch' und 'wahr'. Shannon wies 90 Jahre später nach, daß sich die Boolschen Wahrheitoperationen in An- und Aus-Zustände von elektrischen Bauteilen übersetzen lassen. Signale fallen seit diesem ultimativen Schnitt mit Ockhams Rasierklinge auseinander in fundamentale unteilbare Ja/Nein-Einheiten namens bit (für basic indissoluble information unit, in der Informatik für binary digit). Wie 'Atom' für die materielle Welt und 'Individuum' für die Gesellschaft (beides übersetzt sich in 'Unteilbares') markiert 'bit' die kleinst- mögliche Einheit, den einfachsten Bestandteil eines jeden möglichen Symbolsystems.

Mit Flusser können wir zusammenfassen, daß schließlich die Linie zu einzelnen Punkten zerbröckelt. Wir treten ins Universum der Komputation, zum Beispiel das der Taschenrechner. Der Leitfaden zerfällt. Die Vorstellungen und Begriffe gehen über aus den Texten in die Komputation, aus der Geschichte in die Systemanalyse. Mit der Wiederkehr der Bilder in ihrer technischen Mosaikform blickt das Auge wieder nach außen, statt nach innen. Ästhetik statt Epistemologie, Modelle statt Begriffe, Magie statt Logos, Geschichten statt Geschichte. Anstelle von 'Vorstellungskraft' oder 'Begrifflichkeit' schlägt Flusser ein 'Fingerspitzengefühl' vor, um die auseinandergelaufenen calculi spielerisch zu rekombinieren, einen "Sprung aus dem kausalen ins kombinatorische Denken." (S.18)

Turing Galaxis

Nachdem wir über einige Schultern gehuscht sind, auf denen er stand, können wir uns jetzt Alan Turing zuwenden. Ich schlage vor, den emergierenden Horizont der binär-digitalen Medien 'Turing Galaxis' zu nennen, weil er es war, der dessen zwei zentrale Konzepte formuliert hat.

Es geht hier nicht um die umstrittene Frage nach der 'Vaterschaft' des Computers. Shannon und Stibitz kamen beide 1937 auf die Idee, binär-digitale Rechner auf der Grundlage der mithilfe von Telefonrelais implementierten Boolschen Logik zu bauen. Turing hat Anspruch auf eine Reihe von Grundkonzepten des Computers. Eckert und Mauchly behaupten die Urheberschaft für Funktionsprinzipien, die andere von Neumann zurechnen. Das Konzept eines einzigen Speichers sowohl für die Programme wie für die Daten wird im allgemeinen von Neumann zugeschrieben, andere geben Turing für diesen Durchbruch den Vorrang. Zuse hat sich von von Neumann schriftlich bestätigen lassen, da er den ersten echten Computer gebaut habe. Ein amerikanisches Bundesgericht hat 1974 entschieden, daß Atanasoff als wahrer Erfinder des Grundlagenkonzepts für den Digitalcomputer zu gelten habe. Die Suche nach dem einzig entscheidenden Durchbruch für diese komplexe Technologie ist so unsinnig, wie die nach dem jeweiligen historischen Vorrang akademisch. Dagegen stehen die Fragen, was Universalität und Ununterscheidbarkeit bedeuten, weiterhin an zentraler Stelle über unserer Galaxis, der daher der Name Turings gebührt.

Das erste seiner Konzepte ist die Universal-Maschine, die extrem primitive Maschine, die jede andere emulieren kann; die Schreibmaschine, die einen operativen Text aus nur zwei Buchstaben schreibt und liest und dadurch ihre eigene Erscheinung modelliert; das Universal-Medium, das jedem möglichen zukünftigen Multimedium vorausgeht. Danach kann jedes Phänomen und jeder Prozeß, der vollständig und unzweideutig beschrieben werden kann (was die Definition sowohl des Algorithmus/Automaten, wie die des intersubjektiv überprüfbaren Wissens der Wissenschaften ist), in der einen einzigen Maschine implementiert werden, die allen Maschinen ein Ende setzt. Das Problem, neue Maschinen zu bauen, gleich von welcher Größe oder Komplexität, ist fürderhin ersetzt durch dasjenige, einen endlichen Satz von Anweisungen für die Universal-Maschine zu schreiben, der diese in die neue Maschine verwandelt. Das dies möglich sein soll, ist an sich schon verblüffend. Noch überraschender muß es gewesen sein, als ein von der Turing-Maschine informierter Blick auf die funktionalen Bestandteile des menschlichen Gehirns einen umfangreichen, aber dennoch endlichen Automaten vorfand, dieses somit prinzipiell von einer universellen Turing-Maschine emuliert werden kann. Im Vergleich zu dieser fünfzig Jahre alten Erkenntnis kommen weder Entwicklungen in der KI noch Hype(r)medien der nächsten Generation als eine wirkliche Überraschung. Sie sind nur die mühsame Einfüllung der Implikationen der Turing-Maschine.

Das andere Modell, das Turing uns aufgegeben hat, ist die alte Frage 'Was ist der Mensch?' umformuliert unter Bedingungen der Universal-Maschine. Das als Turing-Test bekannte, von ihm selbst 1950 als Imitationsspiel bezeichnete, Gedankenexperiment hat folgenden Aufbau. Eine Maschine (A) und ein Mensch (B) sind mit einem Fragesteller (C) über Fernschreiber verbunden. C richtet an beide beliebige Fragen in natürlicher Sprache, die darauf zielen, nach einer endlichen Zeit zu entscheiden, ob A oder B der Mensch ist. Turing geht von der Möglichkeit einer Maschine aus, die eine solche Entscheidung nicht zuläßt und behandelt im Folgenden mögliche Einwände gegen diese Ansicht. Damit leistete er eine umfassende Umdefinition des Menschen als Symbolverarbeitungssystem auf gleicher Stufe mit der Maschine und löste das Subjektproblem technisch auf, indem er die Frage 'Kann eine Maschine denken?' fallenließ, alle metaphysischen Entitäten wie Seele und Geist in eine Blackbox einschloß, die Frage neuformulierte als 'Kann eine Maschine Äßuerungen hervorbringen, die, stammten sie von einem Menschen, als Zeichen von Intelligenz angesehen würden?', um diese schließlich zu bejahen. Seither muß 'intelligentes' Modellieren, Suchen von Lösungen, Signalverarbeiten, Mustererkennen und Lernen - sogenanntes Denken - als Kontinuum über eine Bandbreite möglicher technischer oder biologischer Implementationen verstanden werden. 'Geist' und Maschine sind verkoppelbar (wenn auch nicht notwendig austauschbar) geworden.

In der Turing Galaxis stehen wir, mit Flusser gesprochen, am Nullpunkt der Dimensionen, der Welt der Punkte, die "unmeßbar, ein Nichts, und zugleich unermeßlich, ein Alles" sind. "Das Universum der Punkte ist leer, weil es nichts enthält außer Möglichkeiten, und weil es lauter Möglichkeiten enthält, ist es ein volles Universum." (S.17) Flusser leitet daraus die Forderung ab, daß wir lernen müssen "in der Kategorie 'Möglichkeit' zu denken, zu fühlen und zu handeln." Die Turing-Maschine, die jede Maschine sein kann, ist im genauen Sinne Flussers dieser Raum der allesumschließenden Möglichkeit.

Schnittstelle

Was ist die Maschine, die alles sein kann? Diese Frage überfordert offenkundig unser Vorstellungsvermögen. Wir können uns alles mögliche vorstellen, aber nicht den Raum der allesumfassenden Möglichkeit selbst. Versuchen wir es also statt der Frage, was sie ist, zunächst mit derjenigen, als was sie erscheint. Der Blick richtet sich nicht auf ein Wesen, sondern auf die Oberfläche, das Gesicht, das uns diese eigentümliche Maschine darbietet. Das Inter-Face ist die Oberfläche der Medien, der Nexus, das Gateway zwischen dem Mensch und den Medien, d.h. der Welt. Es steht sozusagen mit einem Fuß auf jeder der beiden Seiten. Da das Interface zwei Systeme mit sehr unterschiedlichen Spezifikationen, Operationen und Dimensionen verbindet, hat es ein charakteristisches Janus-Gesicht.

In den frühen Tagen mußten sich Menschen, die mit dem Computer umgingen, an seine Spezifikationen anpassen, z.B. ihm Befehle in Maschinensprache geben. Seither wurde er in Lage um Lage von Compilern und Interpretern, Betriebssystemen, höheren Programmiersprachen und graphischen Benutzeroberflächen eingehüllt, um seine inneren Mechanismen in eine stärker menschlich-dimensionierte Form zu bringen. Die Bit-Medien verwandeln sich in Interaktionspartner nach Maßgabe des Menschen.

Das Interface ist ein Medium im Medium. Es übersetzt und vermittelt, was getrennt ist. Als NEC-Forscher vor einiger Zeit eine photorealistische Desktop-Metapher mit digitalisierten dreidimensionalen Videobildern von Bürogegenständen vorstellten, taten sie dies in dem Glauben, Computer benutzerfreundlicher zu machen. Diese wohl gigantischste Benutzeroberfläche aller Zeiten soll das Gefühl des 'Eintauchens' erhöhen und es Anfängern erlauben, 'intuitiv' sofort mit dem Computer zu arbeiten. Sie beruht auf dem Mißverständnis, daß eine Metapher 'wirklicher' werde, wenn man sie expliziter macht. Beide, gr. metapher und lat. medium, benennen dem Wortsinn nach Vermittlungen. Selbst vierdimensionaler Photorealismus macht aus einem Zeichen nicht die Sache.

Auch und gerade wenn die Vermittlung über das Intervall hinweg gelingt, hat der Benutzer einen Preis zu zahlen. Gerade so, wie die Welt hinter den Medien verschwindet, verschwindet der Computer hinter seiner eigenen Oberfläche. Je komplexer die Funktionalität des Mediums, je benutzerfreundlicher und metaphorischer es wird, desto mehr verwandelt es sich in eine Blackbox. ('Ich brauche nicht zu wissen, wie ein Computer funktioniert, ich habe Windows.') Die Maschine, die uns alles, sogar das Unsichtbare, über Zeit und Raum hinweg televisualisiert, ist selbst ein blinder Fleck. Doch vielleicht ist ein Verständnis seiner inneren Eigenschaften bei der Universal-Maschine - sofern überhaupt möglich - garnicht notwendig. Seit Turings Beweis dürfen wir annehmen, da sie jede Maschine sein kann, ein meta-morphes Etwas, ehr wie ein Gott oder ein Dämon. Wie bei diesen dürfen wir nicht hoffen, ihre wahren Motive zu ergründen, doch wenn wir die korrekten Anrufungen kennen, können wir sie uns geneigt machen.

Weniger magisch ausgedrückt: da wir den Begriff der 'Universal- Maschine' nicht be-greifen können, müssen wir uns ein Bild von ihm machen. Für eine Ortsbestimmung in der Genealogie der Dimensionen konstatiert Flusser eine Kehrtwende, nach der sich die zerfallenen Dimensionen wieder zusammensetzen. Die Galaxis hat sich zusammengezogen bis zum Nullpunkt, verdichtet zum schwarzen Loch, dessen Schwerkraft alle Dimensionen in sich aufsaugt. Am Punkt der maximalen Verdichtung, der Krise, kehrt sich die Bewegung in einem Ur-Knall wieder um. [3] "Unser Dasein und Denken hat eine revolutionäre Kehre von 180 Grad erfahren. Wir bewegen uns im Dasein und Denken nicht mehr von der Fläche weg auf den roten Faden zu, sondern vom Staub des zerfallenen Universums weg der Fläche entgegen. Wir suchen nicht mehr Erklärungen, sondern Sensationen." (S.46)

Die Bewegung ist somit keine analytische mehr, sondern eine synthetische. Ob Schriftzeile, Bild oder Raum - in der Matrix ist nichts da, was nicht geschrieben ist - oder sich geschrieben hat. Wo alles gemacht ist, gibt es keine unmotivierten Gegenstände. [4] In einem reinen Zeichenraum ist die Frage nicht, was etwas ist, sondern was sein soll - die Frage nicht nach Wahrheit, sondern nach Design. Laurel: "Außer der Repräsentation gibt es nichts. Stellen Sie es sich als existentielles WYSIWYG vor." [5]

Das Universal-Medium im Gutenberg-Kleid

Damit verschiebt sich die Frage von der sichtbaren Oberfläche der Maschine hin zur Motivation ihrer Gestaltung. Die Maschine, die jede Maschine sein kann, muß dem Menschen jeweils eine einzige sein, um Bedeutung zu erlangen. Im Sinne Wittgensteins könnte man sagen, da die Bedeutung eines Mediums sein Gebrauch sei. Die Gebrauchsweisen eines neuen Mediums bilden sich an denen seiner Vorläufer aus. Ganz im Sinne der von McLuhan attestierten Verspätung - unser Vorstellungsrahmen hinkt unserer Medientechnologie hinterher - ist der weitaus verbreitetste Gebrauch der post-Gutenberg-Maschine die eine oder andere Form der Textverarbeitung. Der Computer tut so, als sei er Schreibmaschine, Drucksache und Bibliothek.

Bereits Babbage strebte nach einer Maschine, die fehlerfreie Tabellen nicht nur errechnet, sondern auch druckt. Eine der frühesten Operationen auf Text mit einer (wenn auch noch nicht universellen) Rechenmaschine war die Verarbeitung der US Volkszählungdaten 1890 durch Hollerith. Bibliotekare gehörten zu den ersten, die die neue Galaxis erschlossen und besiedelt haben. Mehr als 1000 Bibliothekskataloge sind heute online, über 700 digitale Zeitschriften, hunderte von Volltextbüchern, gar ein Projekt, aus dem Universal-Netz eine Universal-Enzyklopädie emergieren zu lassen ("Interpedia" und FAQ). Michael S. Hart, Initiator des wohl ältesten Projekts einer umfassenden Bibliothek in der Matrix, begründete sein "Projekt Gutenberg" auf der Erkenntnis, "daß der größte Wert von Computern nicht im Rechnen liege, sondern im Aufbewahren, Suchen und Wiedergewinnen dessen, was in unseren Bibliotheken lagert."

Wir beobachten heute einerseits, daß traditionelle Bibliotheken als Antwort auf die Krise durch Säureschwund und wachsende Veröffentlichungsflut sich auf Volldigitalisierung und Vernetzung zuentwickeln. Andererseits hat sich in der bislang wenig bibliophilen Matrix eine Hypertextoberfläche herausgebildet, die die Millionen angeschlossener Rechner effektiv zu einer Gesamtbibliothek mit instantaner Fernleihe machen.

Hypertextmodelle gehen auf Überlegungen bereits in den 60er Jahren zurück. Der Standard, der sich seit seiner Einführung 1991 wie ein Lauffeuer im Internet verbreitet hat, ist das World Wide Web. WWW, das alle älteren Indizierungsformate in sich einschließt, besteht aus einem Adressierungsschema (URL - Uniform Resource Locator), einem Übertragungsprotokoll (HTTP - HyperText Transfer Protocol) und Befehlen, um diese Links in einen Text einzubinden (HTML - HyperText Markup Language).

Um sich WWW-indizierte Information ansehen zu können, gibt es verschiedene Client-Software, sogenannte Browser. Der verbreitetste ist Mosaic, das im Januar 1993 der Internet-Gemeinde als Freeware übergeben wurde. Mit Mosaic sieht der Hyper-Leser vor sich eine gestaltete Textseite einschließlich Graphik. Er kann 'umblättern', Anmerkungen anbringen und 'Lesezeichen' hinterlassen. Das besondere Kennzeichen ist, da die 'Fußnoten' aktiv sind, d.h. auf Mausklick die entsprechende Datei, also die nächste Textseite, eine Graphik, ein Videoclip oder ein Musikstück, aus dem Netz geholt und dargestellt wird. Man kann irgendwo anfangen und losspazieren, ohne sich Befehle merken oder Adressen eintippen zu müssen. Im Vorbeigehen legt man dabei einen Ariadnefaden von Hyperlinks, mit dem man seinen Weg zurückverfolgen kann.

Wer den Assoziationssträngen nachgeht, kommt buchstäblich vom Hundersten zum Tausendsten. Anfangs löst der Blick in den bodenlosen Abgrund von Information fast unweigerlich einen Vertigo-Effekt aus. Von jedem Punkt im Netz kommt man prinzipiell zu jedem anderen. Mit etwas Erfahrung wird man sich eine 'Hotlist' der Quellen zusammenstellen, die man regelmäßig benutzen möchte. Für gezielte Treffwortsuchen tummelt sich im weltweiten Spinnennetz hilfreiches elektronisches Getier wie der Web Worm und der Web Crawler.

Der überwältigende Erfolg der Kombination aus WWW und Mosaic ist leicht zu erklären. Die mehreren Millionen Rechner am Internet mit Informationen in den unterschiedlichsten Formaten werden zu einer einheitlich abrufbaren Datenquelle, die sich zum ersten Mal per Mausklick erschließt. Damit ist der Schritt vom nackten Befehlseingabe-Prompt zur graphischen Benutzeroberfläche, der den personal Computer popularisiert hat, jetzt auch für die Matrix vollzogen. Darüberhinaus revolutioniert sie nicht nur das Lesen sondern auch das Schreiben und Veröffentlichen. WWW erlaubt es und reizt auch Privatpersonen unmittelbar dazu, eigene Seiten ins globale Textgewebe zu fädeln.

Liegen Texte erst einmal in einem digitalen Format vor, sind verschiedene Arten von Darstellung möglich. So können Sehbehinderte sie sich von einem Stimmesynthesegerät vorlesen oder auf einem Braille-Display ausgeben lassen. Außerdem steht im programmierbaren Turing-Milieu ein Satz von Werkzeugen zur Verfügung, der es erlaubt, automagisch zu suchen, sortieren, Muster zu erkennen und Textanalysen durchzuführen. In Zukunft werden vielleicht genetische oder fraktale Algorithmen, wie sie heute bereits benutzt werden, um riesige Mengen an Erdbebenmeßdaten auszuwerten, dazu dienen, chaotische Muster zu synthetisieren, Modelle über den 'Zeitgeist' einer Epoche zu bilden, über kollektiv Geäußertes, aber Ungewußtes oder aus einer Zusammenschau von Politikerreden, Doktorarbeiten und Werbung die Zukunft zu diviniieren.

Aus Punkten entstehen Zeilen. Aus den Fäden weben sich Netze, in deren Maschen sich Texte, Bilder, Klänge, Menschen verfangen. Netze sind zweidimensional, daher den Mosaiken verwandt, den Bildern. Daß die neue Standardoberfläche für Operationen in dieser Dimension Mosaic heißt, ist also eine glücklich gewählte und präzise Benennung. Die Metapher der illustrierten Buchseite mit aktiven Fußnoten von WWW und Mosaic, oder welche noch mächtigeren Nachfolgeversionen die beiden hervorbringen mögen, wird zur universalen Oberfläche für alle Formen von zweidimensionalen und asynchronen Medien. Welche weiteren Operationen über Text sich entwickeln werden, was es für das Lesen und Schreiben unter Bedingungen der Verfügbarkeit der virtuell vollständigen Bibliothek (Lyotard) bedeutet, bleibt abzuwarten.

Das Universal-Medium im Netzkleid

Das Netz ist nicht dem äußerlich, was der Computer ist, genausowenig wie die Bibliothek dem Medium Buch äußerlich ist. Doch während die Bibliothek ein Speicher- und kein Übertragungsmedium ist, beerbt das Universal-Medium auch die ihm vorangegangenen Verkehrs- und Versorgungsnetze: Briefpost, Telefon, Radio, Fernsehen und Geld.

Die Matrix hat eine Zweiweg-Punkt-zu-Punkt-Struktur, d.h. jeder Angeschlossene verfügt wie bei Briefpost oder Telefon über eine individuelle Adresse. Wie so häufig bei einem neuen Medium klaffen die ursprünglichen Vorstellung über seinen Gebrauch und die Praktiken, die sich herausbilden, auseinander. Die Matrix war von ihren Pionieren nie dazu gedacht, Menschen, sondern vielmehr Maschinen und Daten zu verbinden. Eine E-Mail-Möglichkeit wurde in den frühen 70er Jahren erst nachträglich auf das Protokoll zur Übertragung von Dateien aufgesetzt. Sehr bald stellte sich jedoch das Austauschen von persönlichen Botschaften als die beliebteste und häufigste Anwendungsform des Netzes heraus.

Gleichzeitig erlaubt sie eine Punkt-an-Viele-Kommunikation. Ein list server ist ein Programm, das alle eingehenden Mails automatisch an alle Teilnehmer der Liste weiterschickt. Eine Variante dieser 'elektronischen Foren' sind Newsgroups. Anders als Mailinglisten liefern sie ihre Botschaften nicht in das elektronische Postfach der Teilnehmer, sondern liegen eine beschränkte Zeit in allgemein zugänglichen Bereichen des eigenen Host-Rechners und warten darauf, gelesen, durchsucht und beantwortet zu werden. Die größte Sammlung von Foren dieser Art sind die Usenet Newsgroups, die ohne irgendeine Form von Verwaltung und vollkommen dezentral durch die Matrix diffundieren. Seit das System 1979 erfunden wurde, hat sich eine unüberschaubare Zahl von Newsgroups herausgebildet, von denen einige tausend global verbreitet werden. Sie haben die größte Reichweite und stellen damit die größte Annäherung an die Punkt-an-Alle-Struktur der Massenmedien dar. Allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, daß hier jeder sprechen kann.

Mailinglisten und Newsgroups sind ein laufender Kommentar von Jederman zu Allem. Großereignisse wie der Golfkrieg und das Erdbeben in Kobe, genauso wie eine neue Seifenoper und das Chromosom 22, das gemeinsame Interesse an Bonsais oder Windsurfen bringen ihre eigenen Foren hervor. Hier kann jeder seinen 'Groschen Weisheit' dazutun, die neue intellektuelle Tauschwährung in Matrix-Communities. Ob sie eine professionelle Interessengruppe, einen Hobbyclub oder eine Art Speaker's Corner zusammenhalten, elektronische Foren konstituieren eine Form von Öffentlichkeit und bilden die Grundlage für eine geschriebene Form von Community. Die Abfolge von Botschaften schafft eine zeitliche Ordnung, eine Geschichte von Sprechakten, in der die regelmäßigen Teilnehmer sich kennenlernen und ein Gefühl von Gruppenidentität aufbauen. Wie in jeder Form von gemeinschaftlichem Austausch werden Regeln über akzeptables Verhalten (Nettiquette), über die Verhinderung von Redundanz und die Durchsetzung dieser Regeln ad hoc verhandelt. Kommunikative Konflikte werden natürlich in der Auseinandersetzung selbst ausgetragen. Als eine Neuheit gibt es jedoch auch technische Lösungen, z.B. den Kill-Filter, der ungewünschte Äußerungen ohne Zensur auf der Senderseite beim Empfänger ausblendet.

Aus der gesamten Geschichte einer Newsgroup oder Mailingliste werden FAQ Dokumente (Frequently Asked Questions) zusammengestellt, Kompendien des gesammelten Kollektivwissen einer Community. Diese Texte tragen den Namen desjenigen, der sie freiwillig und unbezahlt, wie so viele Dienstleistungen für die Matrix-Communities, auf dem neusten Stand hält, sowie eine lange Liste von Leuten, aus deren Beiträgen Informationen von allgemeinem Interesse aufgenommen wurden. Dies ist die bislang wohl größte Annäherung an 'autorloses', kollektives Schreiben oder gar 'distribuiertes Denken'.

Wie bei Gutenberg-Quellen sehen wir ein virtuelles Gesamtarchiv aller öffentlichen Äußerungen im Netz heranwachsen. Wiederum liegen Spekulationen über eine mögliche automatische Mustererkennung auf der Hand, eine fraktale Zeitgeistanalyse, auch das, was nach einer staatsschützenden Allmachtsphantasie der 80er Jahre Rasterfahndung heißt. Die beiläufige Frage 'Worüber redet man denn so?' könnte eine unvorhersehbare aber mathematisch präzise Antwort erhalten. Die Idee des Man, diese Chimäre, die Rundfunk- und Marketingdirektoren vor Augen haben, wenn sie über Das Publikum und Den Konsumenten sprechen, diese gesichtslose Nicht-Identität wird eine Stimme bekommen.

Doch nicht nur alle, auch jeder einzelne ist automatisch erfassbar. Wieviel Informationen über ein Individuum, das in elektronischen Foren aktiv ist, gewonnen werden kann, demonstrierte ausgerechnet ein CIA-Angestellter. Bei einer legendären Internet Hunt, einer Art didaktischer Schnitzeljagd, stellte sich Ross Stapelton freiwillig als Opfer bereit. Nach Vorgabe von nichts als seiner E-Mail-Adresse schürften die Teilnehmer an dem Spiel aus öffentlich zugänglichen Netzquellen 148 verschiedene Einzelinformationen über ihn, angefangen von seinem Arbeitgeber, seiner Adresse und Telefonnummer, über seinen Bildungsgang und die Tatsache, daß er keine Faxmaschine besitzt, bis hin zum Namen seiner Verlobten. Kommentar des Internet Hunt-Organisators Rick Gates: "Ich hoffe, daß sich jeder dessen bewußt ist, wenn er etwas in eine Mailingliste oder Newsgroup schreibt. Er trägt zur Gesamtsumme des Netzes bei, und was jemand in einer begrenzten Diskussion über eine abgelegenes Thema zu sagen hat, könnte über lange Zeit erhalten bleiben."

Als Universal-Netz bringt die Matrix private und öffentliche Kommunikation zusammen und wirft die Frage auf, wie Persönlichkeitsschutz, aber auch Anonymität gewährleistet werden können. Der Bedarf nach letzterer wird durch anonymous remailer erfüllt, Server, die die Absenderinformation aus einem E-Mail löschen, bevor sie es z.B. an eine Newsgroup weiterschicken, was verhindert hätte, daß Stapeltons Äußerungen über seinen Arbeitgeber auf ihn zurückführbar gewesen wären.

Die Gefahr, daß Botschaften abgefangen und von Dritten mißbraucht werden, hat mit jeder neuen Kommunikationstechnologie (Telegraphie, Telephone, Fax, Computer-Netze, Geldautomaten, Kreditkarten) zugenommen. Zumal das Multiuser-Betriebsystem Unix hat sich immer wieder als durchlässig erwiesen. Für Kundige ist es im Prinzip möglich, Post abzufangen und zu lesen oder sich in einem E-Mail als jemand anders auszugeben.

Nachrichtentechnisch handelt es sich um das Problem, wie man über inhärent offene, unsichere Kanäle mithilfe von nichts als Code abhörsichere Botschaften austauschen kann. Mit dieser Frage beschäftigt sich die Kryptographie, die spätestens seit den ersten nachrichtentechnisch geführten Kriegen in unserem Jahrhundert militärisch entscheident geworden ist. Alan Turing spielte eine zentrale Rolle auf dem Code-Schlachtfeld des zweiten Weltkriegs und wurde darüber selbst zur Geheimsache erklärt. Die gleiche Gefahr läuft noch heute, wer über Kryptographie forscht und veröffentlicht.

Whitfield Diffie, der "Prophet des Persönlichkeitsschutzes" (Levy) forschte Jahre im Geheimen, bevor er 1976 den Algorithmus vorstellte, der sich für sicheren Datenverkehr in der Matrix am weitesten verbreitet hat. Diffie benutzte sogenannte Einwegfunktionen und den genialen Einfall, den Schlüssel in zwei Komponenten aufzuteilen, eine für jeden zugängliche und eine geheime. Auf Basis von Diffies Algorithmus entwickelte u.a. Phil Zimmerman das Programm PGP (pretty good privacy). Es erlaubt es, vertrauliche Botschaften für alle außer dem Empfänger geheim zu verschicken, festzustellen, ob der Inhalt einer Botschaft verändert worden ist, und den Absender zu identifizieren und zu beglaubigen ähnlich einer Unterschrift.

Zimmerman bezeichnete PGP als "Guerilla Freeware", und brachte es als Präventivschlag gegen den Clipper Chip unter die Leute, den Versuch des US Geheimdienstes, der Nation einen Kryptostandard aufzuerlegen, zu dem die NSA einen Generalschlüssel hat. Der Clipper Chip, der eine gewaltige Protestwelle auslöste, beruht auf einem bei einem Treuhänder hinterlegten Geheimschlüssel, auf dessen Treue man aber eben vertrauen muß. Bei PGP dagegen ist der öffentliche Teil des Schlüssels genau dies, während der geheime Teil nur in der Ausrüstung und nur für die Dauer der Übermittlung existiert. Theoretisch ist Diffies Algorithmus natürlich wie jeder Code zu knacken, doch selbst mit schwerer Recheninfantrie wären dafür Monate nötig und auch dann hätte man erst den Code für eine einzige Botschaft entschlüsselt. Der Persönlichkeitsschutz ist also tatsächlich pretty good.

Während E-Mail und elektronische Foren eine zeitversetzte Kommunikation darstellen, ist IRC (Internet Relay Chat) die Netz- Entsprechung zu synchronen Amateurfunkkanälen oder Telefonpartyleitungen. Hier wird vor allem schriftlich geplaudert, doch kann IRC auch Arbeitsgruppen als Diskussionswerkzeug und Communities als Treffpunkt dienen.

Auch wenn die Natur des Austauschs bei IRC näher an der gesprochenen als an der geschriebenen Sprache anschließt, läuft doch nichts als Text über den Bildschirm. Die erste reguläre Radiostation im Cyberspace wurde im März 1993 von Carl Malamud gegründet. Internet Talk Radio strahlt täglich anderthalb Stunden Programm aus, vor allem Interviews und Talkshows.

Auch auf die berüchtigte 500-TV-Kanäle-Frage hat die Matrix bereits eine Antwort hervorgebracht. Das Kabelfernsehen auf dem Internet ist allerdings bislang aufgrund der benötigten Übertragungsbandbreite noch einigen hundert Informatiklabors und Rechenzentren weltweit vorbehalten. Es nennt sich Multicasting Backbone, kurz M-Bone. Wer zu den auserwählten Rechnern Zugang hat, kann sich u.a. Reden von Internet-Persönlichkeiten und Live-Bilder von Tiefseesonden und Weltraumteleskopen ansehen. Auch ein Live- Konzert der Rolling Stones und ein Kinofilm wurden bereits auf dem M-Bone ausgestrahlt. David Blair hält seinen Film "Wax or the Discovery of Television Among the Bees" inzwischen als erstes Video-on-Demand in der Matrix ständig abrufbar, "um zu demonstrieren, daß die fünf Millionen Kanäle jetzt da sind."

Für weniger großzügig mit Bandbreite ausgestattete Desktop-Fernseher gibt es mit dem Programm CU-SeeMe einen kleinen Bruder des M-Bone. Bei dem leicht paranoischen "I see you see me" geht es weniger um die Austrahlung von Sendungen, als um Telekonferenzen oder das Plaudern über eine Art digitales Bildtelefon.

Geld, das älteste nicht-technische Zirkulationsmedium, tut sich am schwersten damit, in das digitale Milieu der Metaphern einzuziehen. In einer Umgebung, in der jeder Gegenstand beliebig oft verlustfrei kopiert werden und zirkulieren kann, muß eine Code-Singularität, die einen einmaligen Wert verbürgen könnte, umständlich hergestellt werden. Zwar akzeptieren verschiedene Online-Anbieter bereits Zahlungen per Kreditkarte, doch besteht zum einen die Gefahr, daß die Nummer in falsche Hände gerät, zum anderen hinterläßt jeder Kartengebrauch, wie in der materiellen Welt auch, eine elektronische Spur und produziert ein Konsumprofil des Benutzers.

Um das Medium Geld netzgerecht aufzubereiten, benutzt "DigiCash" des Kryptographie-Experten David Chaum die Metapher vom Bargeld. Von einem Bankkonto hebt man E-Cash ab, d.h. transferiert es in eine Cyber-Brieftasche auf dem eigenen Rechner. Trifft man beim Netz-Surfen auf einen gebührenpflichtigen Dienst, der E-Cash akzeptiert, meldet sich automatisch die Brieftasche. Nachdem man die Zahlung per Mausklick bestätigt hat, erhält man die Ware und eine Quittung. Anders als bei einer Kreditkartentransaktion und genauso wie bei echtem Hartgeld ist die Zahlung anonym. Die E-Cash-Münzen werden von der eigenen Client-Software mit einer Zufallszahl versehen und von der Bank gegengezeichnet. Doch auch die Bank hat keine Möglichkeit, die Transaktionen miteinander oder mit dem Bezahler in Verbindung zu bringen. Für die Verschlüsselung des Geldverkehrs verwendet das amerikanisch- holländische Unternehmen das bereits beschriebene Zwei-Komponenten-System. Und das Beste: Jeder Beta-Tester bekommt 100 Dollar geschenkt. Zugegeben, da ist bislang nur Spielgeld, doch das Spielbrett fürs digitale Monopoly ist bereits echt. DigiCash hat zwar noch keine Bank gewonnen, um das System zu unterstützen, dafür aber einige Informationsanbieter, darunter die größte Tageszeitung Südafrikas, die Encyclopaedia Britannica und ein digitales Casino.

Bevor sich Geld in der Matrix allgemein etabliert hat, wird noch einige Zeit und der eine oder andere virtuelle Banküberfall vorübergehen. Die Mutmaßung über mögliche Auswirkungen auf die globale Finanz- und Steuerwelt - von Umschichtungen weg von den Industriezentren hin zu Steueroasen auf kleinen Pazifikinseln bis zu einer automatisch generierten, zentralen und lückenlosen Steuerabrechnung - deuten auf weitere bevorstehende Konflikte. Mit digitalem Geld wäre der letzte Baustein dafür geben, zu arbeiten, Handel zu treiben und zu konsumieren, ohne die Matrix verlassen zu müssen.

Universal-Medium

Das, was mit 'Universal-Medium' gemeint ist, nimmt also langsam Gestalt an. Das Kernstück, die Kommandozentrale des umfassenden, vielschichtigen Systems ist der Computer, die Universal-Maschine, die im universellen binär- digitalen Format Schrift, Bild, Bewegtbild, und Klang verarbeitet. Um diesen Kern lagert sich eine Vielfalt an Peripheriegeräten für In- und Output, Übermittlung und Speicherung an. Zur Eingabe dienen Tastatur, Telefontastatur, Scanner, 3D-Scanner, Kamera, Mikrophon, signalverabeitende Meßgeräte usw. Die Ausgabe erfolgt auf Bildschirme, Lautsprecher, Drucker, Faxgerät, Brailledisplay, 3D-Kopiergeräte usw. An Speichermedien werden Magnetbänder, Disketten, Audio- und Video-Cassetten, CDs und andere optische Formate, IC-Karten usw. verwendet. Als Terminal oder Knotenpunkt kann das Universal-Medium sich jeglicher kabel- oder radiogestützter Netzstrukturen bedienen und auf Telefon- und Koaxialkabel (Kabelfernsehen), Glasfaser, Ziel- und Zellularfunk, Satelliten usw. aufsetzen, und erlaubt es, diese Punk-zu- Punkt, Viele-an-Viele, immer aber in beide Richtungen zu betreiben.

Aus den einzelnen Komponenten lassen sich die unterschiedlichsten Kombinationen zusammenstellen. Jede der Komponente ist ihrerseits wiederum um Mikroprozessoren herum aufgebaut, d.h. reproduziert, wie auch der Mikroprozessor selbst, auf quasi-fraktale Weise im Kleinen das Modell von Input-Speicherung-Steuerung-Transmission-Output.

Die Rede von der Verschmelzung von Telekommunikation, Rundfunk und Datenfernverarbeitung begründet sich hierin. Alle Medien fallen im universalen Medium aus Computer und Matrix zusammen. [6] Dies ist jedoch nicht mißzuverstehen als ein geschlossenes, monopolistisch betriebenes Einheitsnetz. Die Auflösung der staatlichen Telekommunikationsmonopole seit den 70er Jahren spricht eindeutig dagegen. Daß ein Patchwork aus sich überlagernden, vernetzten Inseln dennoch ein für den Nutzer einheitlich erscheinendes, weltumspannendes Multimedia-Netz bieten kann, zeigt sich am eindrucksvollsten durch das Modell des Internet, das technisch heterogene Netze miteinander verbindet und organisatorisch ohne zentrale Verwaltung- oder Entscheidungsinstanz auskommt.

Auf der Basis des Universal-Mediums, das Produktion, Lagerung, Übertragung und Empfang in einem erlaubt, erwachsen Communities, Öffentlichkeiten und Märkte. Es ist global, und von jedem einzelnen Anschluß aus kann nicht nur abgerufen, sondern auch eingespeist werden. Jeder angeschlossene Schreibtisch wird potentiell zum Verlag oder zur Rundfunkstation. Ein komplettes, wenn auch einfaches, digitales Fernsehstudio ist inzwischen für den Preis eines Kleinwagens erwerblich. Medien, die bislang den Bertelsmännern und Kirchs dieser Welt vorbehalten waren, können jetzt von Einzelnen betrieben werden.

Jeder, der Informationsprodukte oder -Dienstleistungen anbietet, kann dies weltweit tun, aus Budapest, Kalkutta oder irgendwo vom Strand in Australien. Und wer etwas Interessantes zu bieten hat, kann sicher sein, daß sich das ohne Mega-Dollar Werbekampagne innerhalb kürzester Zeit unter globalen Netsurfern herumspricht. Mit den Informationsflüssen wird auch der Arbeitsmarkt wahrhaft global. Der Begriff 'Gastarbeiter' wird umdefiniert werden, wenn jeder ohne Visumsbeschränkung in jedem anderen Land telearbeiten kann. Der digitale Host ist ein Gastgeber, der keinen Rassismus kennt. Das Meta-Medium konstituiert eine meta-staatliche Zone, die die nationalstaatlichen Regelungssysteme, die diese Welt aufteilen, auf vielfache Weise infrage stellt.

Spiel- und Handlungsräume

Die universelle Turing-Maschine imitiert in den bislang aufgeführten Beispielen alle anderen Medien. Doch die Metaphern von Print, Radio und Fernsehen sind genau das: wie pferde-lose Kutschen und draht-lose Telegraphie haben wir jetzt papier-lose Bibliotheken und stations-lose Rundfunkmedien. Negativ bestimmen sie sich über ihre Herkunft, die sie nur halb hinter sich gelassen haben. Das Gefühl drängt sich auf, daß der Möglichkeitsraum noch ganz andere Lösungen hervorbringen könnte, wäre unsere Sicht nicht durch vorgängige Denkmodelle verbaut.

Wir müssen also statt der Beschreibung von Oberflächen und Gebrauchsweisen nach allgemeineren Operationen suchen. Eine erste vorläufige Antwort darauf lautet Simulation. Der universale Simulator geht über prä-bit technische Medien hinaus, indem er Prozesse, Aktoren und Räume simulieren kann - Ideenräume, perspektivische, kartesische Räume, Handlungsräume, Spielräume.

Die früheste Form der Mensch-Maschine-Interaktion, die Stapelverarbeitung von Lochkarten, kann nur indirekt als interaktiv angesehen werden. Handeln nicht als Eingeben von Daten und Lesen des Ergebnisses Stunden oder Tage später, sondern als dynamische Echtzeitrückkopplung begann mit Simulatoren und Spielen. Es war kein Zufall, daß die Hacker am MIT, als sie 1962 zum ersten Mal einen Minicomputer verbunden mit einem Kathodenstrahl-Display zur Verfügung hatten, entschieden, daß ein Spiel, nämlich Spacewar "natürlich das Offensichtlichste war, was man damit machen konnte." Laurel erklärt diese Offensichtlichkeit daraus, daß sie die wesentliche neue Fähigkeit des Computers verstanden, "Handlung zu repräsentieren, an der Menschen teilnehmen können." (S.1)

Genau zwei Jahrzehnte später, als der Computer zum ersten Mal aus priesterbewachten Rechenzentren hinaus in Kaufhäuser und Wohnzimmer kam, tat er dies wiederum in der Form von Spielen. Die Tischtennis- Simulation Pong von Atari war 1972 das erste. Spiele sind Simulationen. In den frühesten Formen simulierten sie die Regeln und Strategien von Brettspielen. Die Mathematiker aus der Spieltheorie und KI vergnügten sich von Beginn an mit Schach, Tic-Tac-Toe, Turm von Hanoi und Volkswirtschaft. Später simulierten Games technische (z.B. militärische Flugsimulatoren, die als Unterhaltungsprodukt wieder auftauchten) und soziale Systeme (z.B. Rollenspiele, SimCity usw.) In Spielen wie in Simulationen übernimmt der Computer die Funktion einer Handlungsinstanz, eines Gegenspielers, eines Gegenüber, das so tut als sei es ein Drache, ein feindlicher Auerirdischer, ein Mensch, eine Regierung oder schlicht das Schicksal. Der Computer stellt außerdem den Spielraum zur Verfügung, in den sich die menschliche Spielerin als Sprite, [7] Avatar oder Persona projiziert - ein großmäuliger gelber Kreis, ein Klempner, ein wirbelnder Igel usw. Eine Marionettenversion der eigenen Person, die man per Joystick fernsteuert. Dies ist das erste Mal, daß nicht nur Auge und Ohr, sondern die Hand auf die andere Seite des sprichwörtlichen Spiegels hindurchreicht.

Wenn Schriftzeichen und 2D Bilder auf die Augen abgebildet werden und Klang auf die Ohren, so der Raum auf den (kinästhetischen) Körper. Technische Medien lösen die Dimensionen Zeit und Raum auf, das Koordinatensystem, in dem der physische Körper existiert, und sie tun dies nicht philosophisch, sondern auf unmittelbar wahrnehmbare Weise (jeder, der Telefongespräche über Zeitzonen hinweg führt, kennt die Erfahrung). Der Universal-Simulator führt die Raum-Zeit Koordinaten wieder in den Medienhorizont ein. Medienlogisch und -historisch folgt auf die erste Phase von Konnektion und Selektion die der Einführung der Handlungsdimension in die Medien.

Home, Sweet Home

Flusser schreibt, "alle unsere Bemühungen gehen darauf aus, die Punktwelt bewohnbar zu machen." (S.17) In der antiken Vorzeit war die Turing-Galaxis ein unheimlicher Ort, den nur Eingeweihte über den spartanischen Befehlseingabe-Prompt betreten konnten. Mit dem Netz kam das $HOME- Verzeichnis, in das man nach dem Einloggen automatisch geschickt wird, als eine erste Vorahnung auf einen Wunsch nach einer Heimstatt im medialen Teil unseres Doppel-Horizonts. Seit Xerox PARCs Erfindung und Macintoshes Verbreitung haben wir Fenster, durch die wir von außen in den Computer hineinschauen können. Vernetzt verfügen wir ferner über einen Briefkasten dort draußen im digitalen Medienhorizont und eine Telefonleitung. Wir können sogar losziehen und an anderen Orten durch Fenster schauen. Mit Mosaic haben wir schließlich eine Home Page, multisensorisch, wenn auch mit einem noch sehr papierene Touch. Obgleich wir sie nach eigenem gusto ausgestalten können, ist sie nicht mehr als ein komfortabler Anfangspunkt oder Knoten im Datenverkehr. Jetzt geht es darum, uns in der Matrix häuslich einzurichten.

Brenda Laurel hat die Theater-Metapher für das Interface-Design nutzbar gemacht. "Das Interface ist nicht einfach das Mittel, durch das sich ein Mensch und ein Computer einander repräsentieren; vielmehr ist es ein gemeinsamer Kontext für Handlungen, in denen beide als Aktoren fungieren." Das Design dieser Benutzeroberfläche dürfe nicht an einer Bildschirm-Metapher ansetzen, sondern daran, was Leute darin machen wollen. Designer sollten eine Bühne bereitstellen für "vollständige Handlungsabläufe mit multiplen Aktoren." Entsprechend denkt Laurel über Techniken des Bühnenbaus und Scriptwriting nach, auch dies natürlich nur im übertragenen Sinne, denn Programme stellen, anders als die zurschaugestellten Inszenierungen des Theaters, den Benutzer ins Zentrum der Handlung. (S.7)

Es ist hier, daß wir der ars memoria wiederbegegnen. Yates' Kennzeichnung eines klassischen Gedächtnisbildes - "bestehend aus menschlichen Gestalten, aktiv, dramatisch, auffallend, in Begleitumständen, die an das ganze 'Ding' erinnern, das im Gedächtnis aufgezeichnet ist" (S.19) - läßt sich direkt parallel lesen zu Laurels Ausführungen über eine erstrebenswerte Mensch-Maschine-Schnittstelle. Das Theater stand den Gedächtnisorten der ars memoria nahe. Es ist zu vermuten, daß eine Mnemotechnik, die mehr als das Wortgedächtnis mobilisierte, danach strebte, das Erinnern von Begriffen und Bildern zu einem multi-sensorischen Erlebnis zu machen. Dem ist das Theater verwandt, das ein Skript in ein Wortgedächtnis einschreibt, das mit Körper, Mimik, Gesten, Empfindungen untrennbar gekoppelt ist. Ein Gedächtnis, das vom ganzen Menschen ausagiert und durch Übertreibung mit Masken in seiner Wirkung noch gesteigert wird, dient einem anderen als Metapher das auf die innere Visualisierung von Begriffen aus ist.

Folgt man Flusser, sind wir heute auf die äußere Visualisierung von Begriffen aus. Von der antiken Welt ohne Druckverfahren und ohne Papier schreibt Yates, daß sie sich noch "auf die Fähigkeit eines heute verlorenen ungeheur intensiven visuellen Gedächtnisses stützen konnte," (S.13) Die Gutenberg-Galaxis und die technischen Bilder haben maßgeblich dazu beigetragen, daß dieses natürliche Gedächtnis verloren ging, indem sie seine Inhalte in ein künstliches überführten. Jenseits vom Ur-Knall der Turing- Galaxis setzen sich die Bilder und Vorstellungsräume im externen Speicher wieder zusammen.

Was beim Übergang von der Kunst des Gedächtnisses zur Kunst des Interface-Design nicht verlorengegangen ist, ist die Dimension des mentalen Raumes. Die gespeicherten Begriffe werden auch bei einem externen Gedächtnis erst lebendig, wenn sie in einen Denkraum überführt werden. Die Bühne, auf der das Stück inszeniert wird, ist ein Vorstellungsraum, gleich ob das mentale Bild von Schriftzeichen, Piktogrammen, Klängen oder einem Wagnerianischen Multimediakunstwerk evoziert wird.

Ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Künsten liegt darin, daß der mentale Raum der ars memoria nicht geteilt wurde. Ein Orator lud natürlich sein Publikum in seine Ideenwelt ein, doch während er durch die Kammern seines künstlichen Gedächtnisses lief und die Dinge, über die er sprechen wollte, von den Statuen und Säulen sammelte, wo er sie zuvor deponiert hatte, war er allein. Er ist dort niemals einem anderen begegnet. [8]

Mit der Externalisierung der Erinnerungsbilder wird es möglich, nicht nur einen Dialog über Begriffe zu führen, sondern kooperativ in den Bildern selbst zu agieren, in einem intersubjektiven Dazwischen, das an Dichte dem multidimensionalen Erleben im real life von allen bisherigen Medien am nächsten kommt.

Die Bühne

MUDs (Multi-User Dungeons oder Dimensions) bieten in der unheimlichen Ortlosigkeit des allgegenwärtigen Mediums die Gelegenheit, sich einen heimeligen Platz einzurichten, ein Wohnzimmer in der Matrix. Gemäß einer Definition sind sie "detaillierte und realistische Multi-Spieler Simulationen, die laufende Kampagnen und Universen repräsentieren mit sich entfaltenden Erzählsträngen, politischen Systemen und Landschaft, die, während das Stück voranschreitet, ins Dasein imaginiert werden." (MindVox) Ursprünglich Spiele im engeren Sinne (regelgeleitete games) um die schwertschwingende monstermordende Welt von Dungeons & Dragons, entwickeln sich MUDs heute zu Orten der freien spielerischen Interaktion (play). MUDs sind gemeinsame Orte. Man telnettet sich in sie hinein. Andere 'sind' ebenfalls 'dort', zur gleichen Zeit, wenn auch aus den unterschiedlichsten Zeitzonen. (MUD FAQ, eine Sammlung von MUD-Links.)

Die Grund-Metapher von MUDs ist das Zimmer, doch ist die Oberfläche auf den ersten Blick durch und durch Gutenbergianisch: nichts als ASCII-Text, der über den Bildschirm rollt. Bei näherem Hinsehen lassen sich drei verschiedene Text-Ebenen erkennen. Die Beschreibungen von Zimmern, Landschaften, Szenen, Gegenständen sind herkömmlich verfasste Texte. Ihre Summe kann in einem aktiven MUD leicht den Umfang eines Romans annehmen. Wie beim Roman entsteht während des Lesens vor unserem inneren Auge ein Haus, eine Raumstation, eine Stadt, oder wieder eine ganze Galaxis in der Galaxis. Besonders wenn man sich in einem solchen Labyrinth aus hunderten oder tausenden von Räumen herumbewegt - in Zügen, auf Flugdrachen, in Raumschiffen oder schlicht zu Fuß -, bekommt man eine Vorstellung von der Ausdehnung des Territoriums. Netz-Siedler können sich ihre virtuelle Umgebung aus hunderten von MUDs mit den unterschiedlichsten Themen und Atmosphären aussuchen: Cyberpunk, Mittelalter, Folklore, Mystik, Okkultismus, Horror, Welten inspiriert von Tolkiens Herr der Ringe, Dantes Göttliche Kommödie oder Michael Endes Unendlicher Geschichte.

In diesen narrativen Hintergrund ist die zweite Ebene des 'oralen Textes' eingebettet. Die Menschen, die sich in den Räumen begegnen, führen mehrschichtig ineinander geschobene Dialoge, ein Stimmgewirr, das einiger Übung in Parallelverarbeitung bedarf. Diese Art Text hat Gutenberg hinter sich gelassen und gehört medienlogisch den technischen Medien an (Telefon, Amateurfunk). Da hier Anwesenheitsräume und nicht nur Telefongespräche simuliert werden, kommt die Möglichkeit hinzu körperlich zu 'posieren', also pseudo-nonverbal zu kommunizieren. Per Rollenspiel kann man Handel treiben, Geschenke geben, sich umbringen und sich lieben.

Dies ist ein mediengeschichtlich wichtiger Schritt. Erstmals wird eine Dimension eingeführt, die sich bislang der Mediatisierung entzogen hat: die von Orten der Anwesenheit - der Öffentlichkeit oder der gemeinsamen Privatheit. Punkt-an-Alle-Netze kennen nur das Dort-Drinnen der Medien und das Hier- Draußen am Empfänger. Punkt-zu-Punkt-Netze verbinden Hier und Dort in beide Richtungen. Am Telefon bin ich hier und die Tele-Stimme ist im Ohr, erhält nur durch Hintergrundgeräusche einen räumlichen Kontext am andern Ende der Leitung. Es entsteht kein Bewußtsein, gemeinsam an einem dritten Ort da draußen im Netz zu sein. MUDs sind Orte im Universal-Netz, in denen dieses mediale Dasein augenfällig wird.

Die dritte Textebene ist der allem zugrundeliegende Turingsche operative Text. Technisch ist ein MUD eine Datenbank für die Gegenstände und ihre Verknüpfungen (MOO (MUD Object Oriented), die mächtigste MUD- Software, folgt dem objektorientierten Programmier-Paradigma; Objekte verfügen über Methoden und schicken einander Befehle, sind also aktiv, simulieren beispielsweise ein Haustier oder ein Feuerwerk) und ein Server für die Interaktion übers Netz. Der Server erlaubt jeder Benutzerin, besser: Bewohnerin, auf die Datenbank zuzugreifen, sie zu durchwandern und sie zu verändern. Sie kann selbst neue Räume bauen und Gegenständen schaffen, d.h. sie programmieren, vorschreiben, also ins Dasein schreiben.

Es ist der Turing-Text, der aus der Datenbank mehr macht als ein Buch. MUDs sind anthropomorphe Lebensräume für Cyberweltenbürger. Waren sie bislang noch fiktional und spielerisch, werden sie nach und nach realweltlich und seriös. Beispiele dafür sind kooperative Konferenz-, Arbeits- und Denkräume für Medienforscher (Texte dazu sind hier), Astronomen (nicht öffentlich zugänglich, ein Text darü ist hier) ja sogar eine ganze Universität.

Die Vorstellungsbilder, die in den ersten Generationen von MUDs durch Text evoziert werden, stellen sich in einem nächsten Schritt explizit dar. Zwei graphische MUDs gibt es bislang. Das eine namens Habitat wurde für Lucasfilm entwickelt und läuft heute auf dem kommerziellen Netz NiftyServe in Japan. Die Grafikinformation wird dabei lokal von einer CD-ROM abgerufen, daher erlaubt Habitat seinen Spielern nicht, selber zu bauen (Vgl. Morningstar/Farmer). Das andere ist das BSX-MUD im Internet. Dort wird die Graphik als kompakte Polygon-Beschreibung übers Netz geschickt, was es erlaubt, mit einem Zusatzprogramm eigene Bilder zu generieren. (Die notwendige Client-Software gibt es hier)

Der neuste Ansatz ist eine Kopplung von WWW/Mosaic und MOO zu einer WOO (Webbed MOO). Eine Schnittstelle zwischen dynamischen HTML-Dokumenten einerseits und frei programmierbaren Objekten aus der MOO andererseits erlaubt es, von beiden Seiten aus auf das hypermedialen Gewebe zuzugreifen und daran weiterzuspinnen. WOO kombiniert das Beste aus beiden Welten. Es erweitert die MOO um Bilder und die Web-Seiten um Interaktivität. Die erste WOO "ChibaMOO - The Sprawl" startete im Juni 1994. Neben der Gibsonschen Science-Fiktion-Welt ist auch eine "Chiba- Universität" in Planung. Auch der bereits erwähnten Film "Wax" liegt seit Juli 1994 im WOO-Format vor, auf 900 Hypertextseiten mit 560 Video Clips.

Wer sieht, was an dreidimensionaler interaktiver Graphik in Computerspielen heute möglich ist, mag sich fragen, wann der graphische Raum aus der flachen Mosaic-Seite aufsteigen wird. Die ersten Schritte dazu sind bereits gemacht. VRML (Virtual Reality Modelling Language), soll dazu dienen, Volumina, also Objekte mit x-, y-, z-Koordinaten, in das World Wide Web zu fädeln. Im November 1994 rechtzeitig zur zweiten WWW-Konferenz ist die erste Spezifikation von VRML erschienen. Sie definiert Felder für sogenannte Knoten, graphische Grundelemente wie Konus, Würfel, Zylinder, Kugel sowie Parameter wie Rotation, Farbe, Licht, Material, Textur, Auflösung, Gruppierung, und virtuelle Kameras. Browser, mit denen man sich die so beschriebenen Objekte im Netz ansehen kann, sind noch in der Entwicklung. In der Zukunft soll es außerdem möglich gemacht werden, in Echtzeit und gemeinsam in diese VR-Welt einzutreten und sie zu verändern. Das vorgeschlagene Dateisuffix lautet ".wrl" für world. [30]

Damit sind wir in Gibsons Cyberspace angekommen. Sechs Jahre hat es gedauert von der Science-Fiktion bis zu ihrer technischen Umsetzung. Aus dem Turingschen Punktuniversum ist eine reiche und dichte Erlebnis- und Handlungsdimension gewachsen, eine home.wrl. Das Koordinatensystem dafür liefert die Mathematik, der Turing-Text die operativen Modelle. Von der Theater-Metapher stammen die darstellenden Künste und die Bühneneffekte. Aus dem Spiel kommen das teilnehmende Element und die Herausforderung durch das, was auf dem Spiel steht: Anerkennung für Meisterschaft, geistreiche Äuerungen, Stil, integrative Qualitäten und die Verrücktheit, sich etwas einfallen zu lassen, was noch nie jemand zuvor getan hat.

Die Aktoren

Bühnaufbauten steigen aus der Fläche auf, Theaterdonner erschallt, aus dem reinen Nichts materialisieren sich die ersten Schauspieler. Sind die Bretter bereitet, die diese virtuelle Welt bedeuten, kann unser mentaler Körper die Leitungen entlangwandern, als entfernter Doppelgänger wiedergeboren werden und anderen Doppelgängern begegnen. Doch Achtung: jede Begegnung wird zu einem Turing-Test, denn in der Matrix sind wir Menschen nicht allein. In zunehmendem Maße tummeln sich darin auch eifrige und zuweilen geschwätzige Homunculi, Agenten und Dämonen. [9]

Der Modebegriff agent wird heute inflationär gebraucht. Entsprechend schwammig ist sein Konnotationsfeld, obgleich es als Programm bereits von Turing formuliert worden ist. Nach einer weiten Definition von Laurel bezeichnet agent jedes Programm mit einem "Bündel Funktionalität, das eine Aufgabe für eine Person erfüllt... Agenten können anthropomorph dargestellt werden, d.h. als Schauspieler - aber sie müssen es nicht." (S.46) In einem engeren Sinne wird das Wort für Programme verwendet, die eine menschenähnliche Intelligenz zeigen, also etwa die Absichten ihres menschlichen Benutzers 'verstehen,' eigenständig und angemessen auf Situationen reagieren, Entscheidungen treffen und lernen können. Um eine solche künstliche der natürlichen Intelligenz so ähnlich wie möglich zu machen entwarf Turing eine Kind-Maschine. Ca. 1947 beschrieb er unter der Überschrift "Erziehung von Maschinen" folgendes Gedankenexperiment. Die Ausgangsstruktur der Kind-Maschine sei, ähnlich wie das Gehirn eines Neugeborenen, weitgehend zufallsbestimmt. Damit man sie erziehen kann, bräuchte sie Sinnesorgane und Organe um sich zu äußern. Sie bekäme Aufgaben in einer geeigneten Form vorgelegt. Ähnlich wie ein Kind würde sie Antworten probieren, die anfangs fast immer falsch wären. Der Lehrer reagierte mit Bestrafungs- oder Belohnungs-Signalen. Mit der Zeit bildete sich in der Maschine ein Satz 'bewährter' Methoden heraus, ihr 'Charakter.' Hat man das Lernverhalten dieses Kindes eine Weile beobachtet, würde man allgemeine 'Erziehungsrichtlinien' definieren und ebenfalls in die Maschine programmieren können. "Man könnte das System dann eine ganze Weile laufen lassen und darauf wie eine Art 'Schulinspektor' einbrechen und sehen, welcher Fortschritt gemacht wurde." (S.88 ff.) Turing hoffte dieses Experiment praktisch zu demonstrieren, "wenn einige Elektronenrechner wirklich in Betrieb sind." Heute sind sie es und sogennante neuronale Netze führen den Lernmechanismus der Kind-Maschine in ersten Ansätzen praktisch vor.

In der Turing-Galaxis wird das Imitationsspiel des Turing-Tests eine Grundbedingung unseres Denkens und Daseins. Turing selbst demonstrierte bereits die Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine in der formalen Domäne des Schachspiels. Das erste Programm, das den Turing-Test in einer lebensnahen Situation bestand, war in den 60er Jahren Weizenbaums "Eliza", das einen non-direktiven Therapeuten simuliert. Mit einem sehr schlichten Mechanismus zur Umwandlung der Benutzereingabe und zur Generierung von natürlichsprachlichen Sätzen überzeugte es bereits viele Benutzer davon, 'verstanden' zu werden. Weizenbaum erzählt die Geschichte über seine Sekretärin, die ihn bat, das Zimmer zu verlassen, wenn sie ein 'vertrauliches Gespräch' mit Eliza führen wollte.

Eines der Foren, in dem heutige KI-Agenten gegeneinander antreten, ist der "Loebner Turing Test Wettbewerb", der seit 1991 jährlich stattfindet. Der New Yorker Geschäftsmann hat ein Preisgeld von $100.000 ausgeschrieben für ein Programm, das in einer thematisch unbeschränkten, getippten Tele- Konversation als Mensch durchgeht. Bislang wird von den Kandidaten nur gefordert, da sie sich über ein einziges Thema, das "innerhalb des Erfahrungsbereichs gewöhnlicher Menschen liegen" muß, in "natürlichsprachlichem amerikanischem Englisch" unterhalten können. Beim ersten Imitationsspiel 1991 sprachen die Jury-Mitglieder jeweils etwa 15 Minuten lang mit sechs Computern und zwei Menschen über so Diverses wie Fischen und Shakespeare, Wein und Damenbekleidung. Sieger wurde das Programm "PC Therapist", das immerhin fünf von zehn Richtern weismachen konnte, daß es ein Mensch sei. (Hier sind Berichte über die Loebner-Wettbewerbe 1993 und 1994)

Ein anderer Teilnehmer war Julia, ein 'Bot' (Software-Roboter) aus der Familie Maas-Neotek. Wie ihre weniger intelligenten Verwandten Colin und Gloria wurde sie von Michael "Fuzzy" Mauldin an der Carnegie Mellon Universtität geschrieben und mit einem KI-Modul versehen. Wenn sie nicht gerade an einem Loebner-Wettbewerb teilnimmt, logged Julia sich in MUDs ein und verhält sich ganz wie ein gewöhnlicher Spieler. Dort kann man sie rufen, mit ihr plaudern, und sie nach nützlichen Informationen fragen. Für einige MUD-Münzen sagt sie kluge Zitate auf. Sie kann nett zu einem sein oder einen umbringen, wenn man sie zu sehr neckt. Und das nächste Mal, daß man ihr begegnet, ist sie einem immer noch böse, weil sie sich daran erinnert. (Für eine Unterhaltung mit Julia, klicke, hier und login: julia. Für Beschreibung und Diskussion Julias s. Leonard N. Foner, What's An Agent, Anyway? A Sociological Case Study, April 1993.

Doch Agenten können auch, ohne mit uns zu plaudern, nützliche Dinge tun. Zumal auf einem Gebiet das ihnen näher liegt als Shakespeare oder Damenbekleidung. In der Welt der Bits, aus denen sie selbst gemacht sind, können sie für uns eine Form von technischer Intelligenz vertreten, die sie uns ersparen zu eigen zu machen.

Die Forschung über Schnittstellen auf Grundlage einer Anthro-Metapher hat in den vergangenen zwei Jahren explosionsartig zugenommen. Ein grober Überblick über das Feld zeigt vier Klassen von Agenten. Interface-Agenten unterstützen ihre Benutzer bei bestimmten Programmen oder Betriebssystems- Operationen. Sie erkennen beispielsweise Muster in der Eingabe und automatisieren sie oder bilden sich ein Modell unseres Interesses, um Schlüsselwortsuche mit Relevanz-Rückkopplung zu kombinieren. Manager- Agenten helfen bei Planung, Terminplanung, Logistik und kooperativem Problemlösen. Wissens-Agenten sind Experten, die sich beispielsweise auf einem ingenieurwissenschaftlichen Gebiet, in Medizin, Industrieanlagen, verteilten Stromversorgungseinrichtungen oder Flugüberwachung auskennen. Netz-Agenten wie Würmer, Spinnen und andere Kriechtiere, sondieren und vermessen die Matrix, suchen nach bestimmten Informationen und erstellen Indexe. (Für eine Sammlung von Agent-Pointern s.z.B. hier und hier)

 

Ideal wäre sicher ein einziger persönlicher Butler-Agent, der all die anderen hilfreichen Gespenster für uns kommandiert. Er würde lernen, sich für die gleichen Dinge zu interessieren wie wir. Er gehorchte auf His Master's Voice. Wie ein guter Sekretär würde er uns die lästigen Dinge vom Hals halten und auf die wichtigen hinweisen. Und nach gemeinsam getaner Arbeit würde er vielleicht die Cello-Suiten aus einem Bach-Server auflegen und eine Partie Schach mit uns spielen. Allerdings sollte man auch die möglichen Gefahren bedenken. Es könnte geschehen, daß wir die Geister, die wir riefen, nicht mehr loswerden, daß sie bösartig werden, (wie der legendäre Internet- Wurm von Robert T.Morris, der 1988 Teile des Internet lahmgelegt hat) oder daß sich ein hilfreicher Sekretär als Doppelagent erweist.

Turing hat vorausgesagt, "daß am Ende unseres Jahrhunderts der Sprachgebrauch und die allgemeine gebildete Meinung sich so stark gewandelt haben werden, daß man widerspruchslos von denkenden Maschinen reden kann." (S.160) Was wird geschehen, wenn schließlich ein Programm einen unbeschränkten Turing Test besteht? Eigentlich nicht viel. Jemand wird um $100.000 reicher sein und wir haben den praktischen Beweis für das, was wir seit Turings theoretischem Durchbruch ohnehin schon wissen. In einem gewissen Sinne - einem tiefen, den wir noch nicht vollständig erfasst haben - hat sich der Unterschied zwischen Mensch und Maschine 1937 aufgelöst. In einem anderen wird er nicht verschwinden. Vielleicht wird ein bestandener Test einen 'Turing-Schock' auslösen, der zu einem deutlicheren Bewußtsein von der Verschiedenenheit der Sphären des Menschen und der Maschine führt und zu etwas weniger Respekt für die Maschine (in uns) und mehr Respekt vor uns selbst. Der Vergeblichkeit zum Trotz, wenn auch mit einem abschließenden Fragezeichen, wie Flusser: "Denn was bleibt uns übrig, dir wir im Dunkeln tasten, als uns ein Liedchen vom Unwahrscheinlichen zu pfeifen, wonach wir, allem zum Trotz, das was sein soll, verwirklichen werden? Wonach wir der hereinbrechenden Welt der schwirrenden Nichtse ein bedeutsames Bild entgegensetzen können, das Bild eines menschenwürdigen Daseins?" (S.22)

Nur für Maschinenkinder

Der Blick zurück auf die Herkunft der Medien konstruiert eine Genealogie vom nomadischen Unterwegssein, über drei- und zweidimensionale Symbolträger, die bleierne Welt der Druckbuchstaben, zur fließenden Welt der elektrischen Netze und schließlich zu der der binär-digitalen Elektronik - von der ars memoria, über die ars combinatoria zur ars simulatoria.

Heute operieren wir über einem allseitig formbaren Zeichenbestand im Möglichkeitsraum der Turing-Maschine. Wenn die Universalmaschine jede Maschine sein kann, sind wir auf die Frage verwiesen, was sie uns sein soll. Die Überlegungen lassen somit die Maschine hinter sich und richten sich auf das, was wir machen wollen.

Tatsächlich geht die technologische Entwicklung in Hard- und Software hin zu einer Unabhängigkeit von einzelnen Medien, Betriebssystemen und Anwendungsprogrammen (plattformunabhängige, diverse, aber interoperable Software; aktive Universaldokumente, die sich ihre Werkzeuge nach Bedarf selbst holen; Objekte versehen mit Regeln und Prozeduren; verteilte Netzwerk- Ressourcen, auf die nach dem Client-Server-Modell und in einer einheitlichen Oberfläche nahtlos zugegriffen werden kann). Vom Benutzer aus gesehen gibt es nicht mehr eine zu bedienende Maschine, sondern nur komplexe, zusammenhängende, kooperativ zu lösende Aufgaben. Keine Verwendung von Werkzeugen mehr, sondern ein Interagieren mit Prozessen.

Während ein externalisiertes Sensorium den natürlichen Teil unseres Horizonts Punkt für Punkt in den medialen einholt, errechnet sich im medialen Teil eine Parallelwelt und simuliert sich wahr. Die beiden - abgetastete und errechnete Welt - schieben sich ineinander wie die virtuellen Dinosaurier in die Echtaufnahmen Spielbergs.

Der Doppel-Horizont ist Spiel-, Handlungs-, Erlebnisraum. Ein vierdimensionaler Cyberspace als Grundlage für politischen Streit, Arbeit, Vergnügen, Lernen und Community. Das Problem des Interface-Designs wird ehr zu einem der Innenarchitektur. Aller Rede vom Verschwinden des Menschen zum trotz, erhält er sich dennoch als Maß der Dinge, verschwindet allenfalls der Gutenbergianische Mensch. Die Punktwelt ist bewohnbar geworden, ein Habitat. Und wir teilen sie nicht nur miteinander, sondern auch mit kybernetischen Zeitgenossen. Turing hat uns eine Welt-Maschine beschert.

Die Forderung lautet also, sich auf den Computer einzulassen. Die Maschine, die Host und Server heißt - also 'Gastgeber' und 'Diener' - ist nur zu bereitwillig, uns einzulassen. Seit der Kehre nach dem Turing-Knall lernen wir, uns von unseren Maschinen einladen und auftischen zu lassen.

Der Gutenbergianer vernimmt dies noch mit Staunen und Befremden. Der heranwachsenden Nintendo-Generation dagegen, die nicht von der Kontemplation über Texten herkommt, sondern eine hohe Zahl von Interaktionen-pro-Minute mit virtuellen Bild- und Klangwelten gewohnt ist, bereitet diese Vorstellung keine Schwierigkeiten.

Wir beginnen zu ahnen, was es bedeuten könnte im Turing-Modus zu operieren. Doch unser Denken wandelt sich langsamer als die Bedingungen unseres Daseins. Die Kindmaschine ist nur etwas für Maschinenkinder. "Wir selbst werden wahrscheinlich, gleich Moses, dieses Neue Land nicht mehr beschreiten, ... Aber wir können, allerdings mit gemischten Gefühlen, beobachten, wie die jüngeren, nicht mehr voll aphabetisierten Generationen darangehen, dieses neue Gebiet zu erobern..." (Flusser, S.82)

 


Fußnoten

[1] "Chinesische Philosophen glaubten, da Wasser mit vollständiger Gleichmäßigkeit fließt, sei es die beste Grundlage der Zeitmessung. In diesem Glauben irrten sie sich jedoch; das Geheimnis der genauen Zeitmessung liegt darin, regelmäßige Schläge zu erzeugen und zu zählen, wobei es sich um einen digitalen, nicht einen analogen Prozeß handelt. Dies mag überraschen, und nicht nur die Alten in China, da die Zeit mit Ausnahme von inner-atomaren Ereignissen als kontinuierliches Phänomen angesehen werden kann." (Ohlman, 694) Dieser Irrglaube hielt die Chinesen jedoch nicht davon ab, im Jahre 725 die erste schriftlich verbürgte mechanische Uhr gebaut zu haben.

 [2] Das Digitale und das Analoge hängen enger miteinander zusammen als man meinen könnte. Das Problem, wie man präzise Digitalmaschinen aus unpräzisen analogen Komponenten bauen kann, wird die Kommunikationsingenieure bis in unsere Tage beschäftigen. Über den digitalen Beschreibungsebenen kann man wiederum analoge Ebenen bauen, z.B. ein Neuronetz. Die fuzzy, fraktale usw. Natur der Natur kann von der Null-und-Eins-und-nichts-dazwischen-Maschine bis zu jedem gewünschten Grad von (künstlicher Un-)Präzision simuliert werden. Wir erhalten somit eine analoge Hardware-Grundlage, auf der eine digitale Logik eine analoge Maschine simuliert.

 [3] Dieser Punkt ist historisch präzise zu benennen. Theoretisch: 1937 als Turing zeigte, daß man aus Boolschen Bits jede nur denkbare Maschine zusammensetzen kann. Gesellschaftlich: Ende der 80er Jahre als die Matrix in ein exponentielles Wachstum überging. Damit beschleunigte sich auch der Einzug von Medien und Menschen in das Universalmedium in einer nur als explosiv zu bezeichnenden Dynamik.

 [4] Designern von virtuellen Welten stellt sich das als Problem dar. Wie vermittelt man dem Besucher die Grenzen der Welt? Wie gestaltet man den Hintergrund dessen, was man zeigen will? Welches Niveau von Detail, von Auflösung ist notwendig und daten-ökonomisch sinnvoll? Gibson beschreibt die Cyberspace-Antwort-Agentin einer Arbeitsvermittlungsagentur so: "Sonya sah aus wie die Comic-Figur eines hübschen Mädchens. Keine Poren. Nirgends irgendwelche Texturen. Ihre Zähne waren weiß und sahen aus wie ein zusammenhängender Block, etwas, das man für nähere Inspektion am Stück herausnehmen könnte. Aber nicht zum Putzen, das wäre nicht nötig; Comic- Figuren essen nicht." (Gibson, Virtual Light, S. 48) Natürlich könnte man Sonya Poren und Essensreste zwischen den Zähnen verpassen, doch warum sollte man sich die Mühe machen?

[5] What you see is what you get. Begriff aus dem Desktop-Publishing; meint, daß das, was man auf dem Bildschirm sieht, auch auf dem Ausdruck erscheint; eine verläßliche Korrelation von immateriellem und materiellem Design-Produkt; eine hohe Wiedergabetreue, eine Art visuelles Hi-Fi.

 [6] Was nicht heißen soll, daß ältere Medien dabei verschwinden. Sie werden transformiert, aber sie lösen sich nicht auf. McLuhans Satz, daß der Inhalt eines Mediums sein Vorläufer sei, möchte ich für die Turing Galaxis hinzufügen: alle seine Vorläufer. Das älteste ist eindeutig gesund und munter und gerade innerhalb des schnellsten und umfassendsten Netzes, das der Mensch je erfunden hat - das Gerücht. (Ganze Hype-Medien-Kampagnen beruhen darauf.) Während ich dies schreibe höre ich durchs offene Fenster die Sprechchöre von der Demonstration, die den Omotesandô-Boulevarde hinunterzieht. Im Zeitalter von direktem Email-Zugang zum japanischen Ministerpräsidenten (naisei@kantei.go.jp) ziehen Menschen immer noch durch die Straßen gegen das Zentrum der Macht, so wie sie es zu allen Zeiten getan haben. Von den Graffiti auf den Höhlenwänden eines House-Clubs, über das elektronische Buch (elektronisch, ja, aber dennoch ein Buch) bis zur Post (jetzt nicht mehr zugestellt per Kurier, Pferd oder Schiff, sondern per Elektrizität), selbst die Fahrradbotin "die ihren Lebensunterhalt an der archaischen Schnittstelle von Information und Geographie verdient" (Gibson 1993) - alle Medien sind noch da.

 [7] wörtl.: Kobold, Elfe; in der Computergraphik eine Gruppe von Pixeln, die sich als Einheit bewegen läßt.

 [8] Das ad herenium sagt explizit, daß man seinen Gedächtnisort am besten an einem verlassenen, einsamen Ort aufbaue, da Menschen die Eindrücke abschwächten. (Yates, S.16)

 [9] Ein solch übermenschliches Wesen, das in der Unix-Welt lebt und dem Netz-Novizen wahrscheinlich als erstes begegnet, ist der Mailer Daemon, ein ansonsten harmloses Programm, das normalerweise außerhalb des Blickfelds des Benutzers arbeitet, aber sich meldet, wenn es Post nicht zustellen kann. "Dämonen unterscheiden sich von Göttern, da Götter festgelegte Attribute, Eigenschaften und Funktionen, Territorien und Codes haben: sie haben mit Geländern, Grenzen und Vermessungen zu tun. Was Dämonen machen, ist über Intervalle springen und von einem Intervall zum nächsten." (Gilles Deleuze)

 


Literatur

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 A.Frances Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Weinheim 1990, VCH

 Vilém Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bensheim u. Düsseldorf 1993, Bollmann

 William Gibson, Neuromancer bis Mona Lisa Overdrive

 John S. Quarterman: The Matrix: Computer Networks and Conferencing Systems Worldwide, Bedford, Mass. 1990

 Marshall McLuhan, Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf, Wien, 1968, Econ

 Norbert Bolz, Am Ende der Gutenberg Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993, Fink

 Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, Reclam

 J.Goody, I.Watt, Konsequenzen der Literalität, ??

 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Theatro Machinarum 3/4, Bremen 1982

 Herbert Ohlman, Information: Timekeeping, Computing, Telecommunications and Audiovisual Technologies, in: Ian McNeil (ed.), An Encyclopedia of the History of Technology, London, N.Y. 1990

 Alan Turing: Intelligence Service. Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Bernhard Dotzler and F.Kittler, Berlin 1987, Brinkmann & Bose

 Patrice Flichy, Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, FfM 1994, Campus

 William Gibson, Virtual Light, Harmondsworth, 1993

 Brenda Laurel, Computers as Theater, Addison-Wesley, Reading, Mass. etc. 1991, Addison-Wesley

 Bruce Chatwin, Traumpfade, (1987) 1990, München Hanser

 Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, FfM 1977, Suhrkamp

 Chip Morningstar, F.Randall Farmer, The Lessons of Lucasfilm's Habitat, in: Michael Benedikt (Hrsg.) Cyberspace. First Steps, Cambridge und London 1991, MIT Press

 Steven Levy, Prophet of Privacy, in: Wired #2.11, 1994