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Visuelle Argumentationen
Die visuelle Logik der Maschine

Bilder im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit

Wolfgang Coy

Bilder gelten als die Domäne der Maler und der Kunstwissenschaftler – jedenfalls bei Malern und in den Kunstwissenschaften, ihrer feuilletonistischen Kritik und beim geneigten Publikum.[1] Freilich hat sich dieser Gegenstandsbereich durch Fotografie, Werbeplakate, Illustrierte, Film und Fernsehen und den Prozeß der Digitalisierung gewaltig erweitert, so daß von einer Wende zur Bildlichkeit, einem „pictorial turn“[2] oder „iconic turn“[3] gesprochen wird.

Weniger offensichtlich, aber dennoch umfassend belegbar, ist eine durchgängige Linie der Nutzung von Bildern als Dokumente und als Argumente wissenschaftlicher und technischer Tätigkeit festzustellen. Solche Bilder sollen „technische Bilder“[4] heißen. Aspekte technischer Bilder sollen in Umrissen an Hand einiger Thesen beschrieben und durch einige Beispiele belegt werden. Die hier vorgetragenen Thesen sind freilich vor allem Hypothesen; ihr vorläufiger Charakter kann nicht verschwiegen werden, wenngleich mir die Grundlinien evident erscheinen.

1. Technische Bilder

Das Verhältnis der sogenannten „exakten Wissenschaften“ zum Bild und zur Abbildung folgt unterschiedlichen Ansätzen. Viele Phänomene der Wissenschaften lassen sich bildlich eingängiger darstellen als durch eine verbale Beschreibung. Moderne medizinische Lehre und Forschung wäre ohne Abbildungen anatomischer Sachverhalte nicht denkbar. Die Bilder des Anatomen Andreas Vesalius haben die Medizin über Jahrhunderte geprägt. Auch die Botanik oder Zoologie beginnt ihre Klassifikationen mit bildlichen Darstellungen, die dann zu abstrakteren Merkmalen verdichtet werden. Da, wo aus der altgriechischen Tradition nur schriftliche Beschreibungen übrig blieben, sind wir oft ratlos.[5] In der Mykologie besteht eine lange Tradition graphisch idealisierter Pilzbilder, die nur zögernd durch sorgfältig ausgesuchte Fotografien ergänzt werden und nur in der klassifizierenden Gesamtschau für die geschulten Leser durch abstraktere textliche Merkmale zusammengefaßt werden.

Eine andere Art der visuellen Darstellung hat sich in der Sprache der geometrischen Formenlehre entwickelt, in der eine eigenständige Argumentationsweise entstanden ist – weit entfernt von ihrer Herkunft in der Landvermessung. Der geometrische „Beweis“ ist zur Urform des mathematischen Beweises geworden, der freilich in einem Spannungsfeld zur sprachlichen bzw. schriftlichen Logik steht. Euklids überaus erfolgreiches Lehrbuch, die „Elemente“ demonstriert dies eindringlich. Descartes schließt die Kluft zwischen bildlich argumentierender Geometrie und algebraischer „Schriftlichkeit“ im 17. Jahrhundert – ein Projekt, das in David Hilberts „Grundlagen der Geometrie“ von 1899 seine erste formale Vollendung gefunden hat.

Und doch hat die Mathematik die Argumentationskraft bildlicher Darstellungen niemals aufgegeben. Funktionsdarstellungen, die die Abhängigkeit einer variablen Größe f von der Zeit t als f(t) oder allgemeiner die funktionale Abhängigkeit einer Größe y von einer Größe x als y=f(x) algebraisch fassen und grafisch visualisieren, sind in der Mathematik wie in den mathematisch orientierten Naturwissenschaften und den technischen Wissenschaften unverzichtbare Hilfsmittel. Ebenso sind schematische Visualisierungen, von der Geometrie bis zur Kategorientheorie, von Land- und Seekarten, Architektur­zeichnungen bis zu elektrischen Schaltplänen essentielle Ausdrucksmittel dieser Wissenschaften und Techniken.

Im 17. Jahrhundert wird die Auflösungsfähigkeit des Auges radikal erweitert. Mit dem Mikroskop erschließt sich die Welt des Kleinen bis zur Grenze des mit Licht noch Sichtbaren; mit dem Teleskop erweitert sich diese Sicht im Großen. Dies bringt erhebliche Interpretationsprobleme mit sich. So sehen die frühen Mikroskopisten Homunculi im männlichen Samen; die Teleskopisten können das Rätsel nicht lösen, warum zwar Mond und Planeten durch das Fernrohr vergrößert werden, die Sterne aber nicht. Andererseits sieht man durch das Teleskop Sterne, die mit bloßen Auge nicht erkennbar sind. Wie ist dies wissenschaftlich zu interpretieren? Und wie philosophisch oder gar theologisch? Das Fernrohr erschüttert das ptolemäisch-aristotelische Weltbild vielleicht mehr als die pythagoräischen Kreishypothesen des Kopernikus zu den Planetenbahnen.

Im 19. Jahrhundert erweitern sich die medialen Möglichkeiten der Bilderzeugung, es entstehen neue, autografische „Aufschreibesysteme“[6] der Fotografie und des Films neben dem Phonographen und der Schallplatte. Die autografischen bildgebenden Verfahren erweitern das Repertoire wissenschaftlicher Instrumente radikal. Mit dem Röntgenschirm und der Röntgenfotografie werden Blicke und Einblicke ins Innerste lebendiger Körper möglich. Infrarotfotografie erlaubt Aufnahmen in völliger Dunkelheit. Elektronenmikroskopie läßt Strukturen sichtbar werden, die zu klein für die Darstellung mittels Lichtstahlen sind. Mit den Radar-Techniken lassen sich unabhängig vom Licht großräumige Bereiche des Himmels überwachen, mit dem Sonar werden die dunklen Tiefen der Ozeane sichtbar. Die Bewegtbild­fotografien von Jules Étienne Marey und Eadward Muybridge erlauben differenzierte und exakte Bewegungsstudien, die mit der Erfindung des Films und der Videokamera das wissenschaftliche Instrumentarium erweitern. Die Aufnahmeinstrumente selber ändern sich also: An die Seite von Mikroskop und Fernrohr treten Mikrophone, Nebel- oder Blasenkammern, Radarantennen und Fernaufnahmesatelliten. Kurz gesagt: unser Sehapparat wird technisch in allen Dimensionen erweitert – als Aufnahmeinstrument und als Speicher. Technische bildgebende Verfahren verändern die Möglichkeiten, ein Bilder wahrzunehmen so stark, daß der Wert überkommener ›Weltbilder‹ völlig neu bedacht werden muß. Epistemologie wird auch zu einer Frage der eingesetzten Instrumente. Hier liegt eher der Kern eines ›pictorial turns‹ als in der allseits beklagten ›Bilderflut‹.

Auch die Drucktechniken werden verfeinert und verbilligt, so daß die Kosten der Bildverbreitung sinken. Werbeplakat und Illustrierte sind grelle Zeichen dieser Entwicklung. Billige und besser bebilderte Bücher ändern im 20. Jahrhundert das Verhältnis von gedrucktem Text zum gedrucktem Bild nachhaltig – mit gehöriger Verzögerung auch im wissenschaftlichen Bereich erfahrbar. An die Seite des Buchs treten die Bildmedien der Fotografie und des Films, des Fernsehens und der Videoaufnahme.

Mit der ›Digitalisierung‹ der Bildaufnahme und der gespeicherten Bilder zeigt sich die jüngste Erweiterung des technischen Bildes. Digitale Speicherung basiert auf der prinzipiellen Kodierbarkeit beliebiger Signale in Zahlenwerte eines definierten Wertebereiches. Der französische Ausdruck ›Numérisation‹ trifft diesen Prozeß besser als die latinisierte Form ›Digitalisierung‹. Zahlen haben nun einige aufregende Eigenschaften, die sie ihrer Herkunft aus dem symbolischen Raum verdanken. Sie sind besser kopierbar als Meßwerte, die stets mit einer gewissen Fehlertoleranz behaftet sind und sie lassen sich mittels Computerprogrammen direkt verarbeiten – schnell, exakt und in großer Menge. Vor allem aber sind digitale Bilder wie alle anderen digitalen Datenstrukturen mit den Massenspeichern der Datenverarbeitung aufzubewahren und über Datennetze übertragbar.[7]

Digitalisierung betrifft nicht nur die Speicherung, sondern auch die Bildgebung. Mit Computerprogrammen entstehen völlig neue bildgebende Verfahren, die auf aufwendigen Berechnungen beruhen und die ohne Computer nicht umsetzbar wären. Zu den grundlegenden neuen digitalen Techniken zählen programmierte Bearbeitungsschritte wie Kontrasterweiterung, Kantenverschärfung, geometrischen Ver- bzw. Entzerrung oder Falschfarbenzuweisung digitalisierter Bilder, ohne die die Bildverarbeitung der Medizin, der Fernerkundung oder der Weltraumfahrt nicht denkbar sind.

Computerprogramme werden freilich nicht nur zur Verbesserung von Aufnahmetechniken eingesetzt, sie können selber als bildgebende Verfahren genutzt werden. Aus Konstruktionsdaten sind mit Hilfe des Computer Aided Designs zwei- oder dreidimensionale Ansichten herstellbar. In Walk-Throughs werden damit Bauzeichnungen oder Architekturskizzen auf dem Bildschirm oder, in fortgeschrittenen Varianten, mit Hilfe dreidimensionaler „Brillen“ begehbar. Die Abstraktion der „Gittermodelle“ kann mit unterschiedlichen „Beleuchtungsmodellen“ sichtbar in eine „virtuelle Welt“ verwandelt werden. Schnelle Computer können diese Berechnungen in Echtzeit durchführen, so daß der jeweilige Walk-Through in direkter Interaktion nach Wahl des Nutzers auf dem Bildschirm erstellt wird. Die Spiele­industrie setzt dies bereits erfolgreich um.

Doch nicht nur Konstruktionsdaten können derart visuell aufbereitet werden. Ebenso lassen sich Meßdaten in virtuelle Gebilde umwandeln. So sind neue Aufnahmeverfahren entstanden wie die (Röntgen-)Computertomografie, die Magnetresonanzaufnahme, die Elektronenrastermikroskopie oder die 3D-Radarvermessung der Erdoberfläche durch das Space Shuttle. Derartige Techniken sind nicht auf Einzelbilder beschränkt; sie lassen ebenso die Konstruktion von Bildfolgen zu, Animationen, die zeitliche Verläufe oder andere Abhängigkeiten zwischen Bildern darstellen. Andere mediale Elemente wie Text oder Ton lassen sich mit diesen Bildern verschränken. Multimedia wird zur konsequenten Erweiterung der Bildtechniken. Oder der Tontechniken – oder der Schrift. Computerprogramme werden so zu bildgebenden oder allgemeiner zu mediengebenden Verfahren.

2. Logik & Argumentationen in Wissenschaft und Technik

Die visuelle Darstellung von Sachverhalten, Zusammenhängen oder Vorgehensweisen hat eine lange Tradition in den Techniken und im Handwerk. Land- und Seekarten lassen sich bis in ägyptische und römische Zeiten datieren. Ohne Skizzen und Bauzeichnungen sind weder Festungsbau noch die sakralen oder weltlichen Bauten der Renaissance denkbar. Die frühen Maschinenbücher wie das des Conrad Kyeser von Eichstätt sind noch Manuskripte. Mit dem Buchdruck verbreiten sich nicht nur gedruckte Schriften, sondern ebenso Holzschnitte und Kupferstiche, die etwa zur gleichen Zeit erfunden werden. Zwar ist die Integration von Bildern im Buchdruck keineswegs einfach, aber schon die Diderotsche Enzyklopädie von 1772 enthält eine Vielzahl von Kupferstichen, die die technische und wissenschaftliche Welt der Handwerke und der Manufakturen bildlich vermitteln.

Wissenschaften beruhen auf nachvollziehbaren Argumentationen. Die Wahl der zulässigen Argumentationen ist ihr essentielles methodisches und logisches Fundament, ein Fundament das freilich vor allem durch die spezifische wissenschaftliche Praxis bestimmt wird. Betrachtet man die historischen Kernfächer der universitären Ausbildung, also Theologie, Jurisprudenz und Medizin, so sind die ersten beiden zweifellos vor allem mit dem Wort befaßt – also der „Logik“ im wörtlichen Sinne, in schriftlicher wie in mündlicher Form verpflichtet. Anders die Medizin: Sie bezieht ihr Wissen nicht nur vom Wort, sondern wie ihre Lehrbücher von Vesalius an belegen, ebenso aus dem Bild.

Dennoch sollte nicht übersehen werden, daß die Praxis der Akademiker nur zum Teil auf einer schriftlichen Logik beruht. Mündliche, dialogische Argumentationsformen sind von gleichem Gewicht, so daß die Freien Künste nicht zu Unrecht dem Collegium Logicum die Dialektik und die Rhetorik zur Seite stellen. Und die praktischeren Freien Künste der Geometrie, der Arithmetik, der Musik und der Astronomie sind ihrem Wesen nach nur bedingt der schriftlichen und wörtlichen Logik verpflichtet. Wissenschaftliche und technische Argumentationen sind nicht nur der Rede und der Schrift unterworfen, sie können auch in angemessener Weise bildlich unterstützt werden. Die jeweilige Wahl der argumentativen Strategien wird dabei vom Gegenstand ebenso wie vom „Stand der Kunst“ bestimmt.

Zweifellos wird die Formale Logik, die in der Scholastik ein manchmal bis ins skurrile gedrängtes Eigenleben entfaltet, durch die mathematischen Ansätze der Naturwissenschaften der frühen Neuzeit, von Kepler und Galilei bis Newton und Leibniz, zu einer umfassenden Methodik ausgebaut. Dabei läßt sich ein klarer Trend der Verschriftlichung der Logik erkennen. Das „Buch der Natur“ ist nach Galileis Diktum „in geometrischer Sprache“ geschrieben, doch mit der Entfaltung der formalen Sprache der Algebra, sichtbar in Vietas Notationen um 1600, kann auch die Geometrie algebraisiert werden. Descartes „Geometrie“ steht für diese Entwicklung. Der Fokus der Mathematik verschiebt sich damit in einem Jahrhunderte währenden Diskurs von der Geometrie zur Algebra und zur Formalen Logik. Newtons „Opticks“ ist nut spärlich bebildert, der Duktus dieses Grundlagenwerks ist den Euklidschen „Elementen“ nachgebildet, mit dem Schwerpunkt auf Definitionen, Axiomen und Beweisen. Die Infinitesimalrechnung, die Newton aus dem Geist der Physik für zeitliche Abhängigkeiten und Verläufe entwickelt und die Leibniz zur gleichen Zeit in umfassenderer Weise formal entfaltet, wird zur Basis der modernen Analysis.

Leibniz versucht noch an einem zweiten Ansatzpunkt die Schriftform der Logik ins Zentrum einer universellen Methode zu stellen. So arbeitet er immer wieder an einem universal­sprach­lichen logi­schen Kalkül der Wahrheit zur Auf­­lösung aller Me­taphysik (einer lingua charac­teristica univer­sa­lis), der die Gewißheit der Erkennt­nis auf die Logik und das Rechnen reduzieren soll. »Das einzige Mittel, unse­re Schluß­folge­rungen zu verbessern, ist, sie eben­so anschau­lich zu machen, wie es die der Mathe­matiker sind, derart, daß man seinen Irr­tum mit den Augen findet und, wenn es Strei­tigkei­ten unter Leu­ten gibt, man nur zu sagen braucht: ›Rech­nen wir!‹ ohne eine weitere Förmlich­keit, um zu sehen, wer recht hat.« An anderer Stelle schreibt er: »Denn dann werden Sophismen und Trugschlüsse […] nichts ande­res sein als Rechen­fehler in der Arith­metik […]«[8]. Die Vorstellung einer solchen univer­sel­len logi­schen Sprache ist ein Teil der mathesis universalis, einer univer­sel­len, formalen Erkennt­nis­lehre. Sie bildet die Basis des mathe­matisch-logischen Reduk­­tionis­mus, der den mecha­­ni­stischen Reduk­­tionismus begleitet und ablöst. Diese Leibnizsche Idee einer allgemeinen „Logizierung“ aller Aussagen bleibt freilich ein unvollendetes (und wohl unvollendbares) Projekt, aber sie weist den Weg zu einer breiten „Formalisierung“ oder spezifischer „Mathematisierung“ aller Wissenschaften.

Nicht zuletzt durch ihre Präzisierung als Formale Logik bei Boole, Frege, Russel/Whitehead, Wittgenstein und Hilbert geht der Drang nach „Mathematisierung“ der Einzelwissenschaften über die Naturwissenschaften und Technikwissenschaften hinaus. Im 20. Jahrhundert werden die logischen Grundlagen aller Wissenschaften durch die „Wissenschaftstheorie“ in einen neuen Zusammenhang gestellt, der sich beispielsweise in Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“, in Karl Poppers „Logik der Sozialwissenschaften“ oder in der Vorstellung einer „Einheitswissenschaft“ bei Otto Neurath niederschlägt.

Doch der große Bogen zur Formalisierung erreicht und überschreitet mit dem Einsatz programmierbarer Computer ihren Höhepunkt. Es wird deutlich, daß sich keineswegs alle mit Computern bearbeitbaren Fragestellungen rein formal beschreiben lassen. Zwar sind Computerprogramme offensichtlich formale Strukturen, aber ihre Semantik ist es nicht immer. So gibt es eine Fülle von Versuchen, die Logik und die formalen Argumentationsweisen im Bereich rechnergestützter Techniken zu erweitern und den komplexen Fragstellungen anzupassen. Muster solcher Erweiterungsversuche finden sich in den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz. Dies kann auf der Basis der Formalen Logik, z.B. entlang der „temporalen Logik“ oder der „nicht-monotonen Logiken“ John McCarthys u.a. erfolgen, die Ansätze können sich aber auch völlig von den bislang beschrittenen Wegen der Formalen Logik lösen, wie z.B. in Marvin Minskys „Society of Mind“ oder in sogenannten „Belief Systems“.[9]

Andere Ansätze sind eher praktischer Natur, so bei der Interpretation komplexer Muster, insbesondere in der Bildbearbeitung. Hier spielen stochastische Methoden eine wichtige Rolle. Die Interpretation von medizinischen Daten etwa der Computertomografie, von Bildspuren des Elementarteilchenzerfalls in Nebelkammern oder von Bilddaten der Fernerkundung erfordern komplexe Bearbeitungstechniken und verlangen eine Interpretationskunst, die nicht zuletzt auf Erfahrung zurückgreifen muß. Es liegt freilich im Charakter dieser neuen Techniken, daß die Erfahrungen mit ihnen erst gesammelt werden müssen und daß die Annäherung an ihren angemessenen Einsatz fortwährend methodisches Neuland betritt.

Der Drang zur Verschriftlichung der Logik gerät angesichts dieser Anforderungen nach einer präzisen Argumentation an Hand bildlicher Darstellungen einmal mehr an eine methodische Schranke, die freilich den technischen Wissenschaften und einzelnen Naturwissenschaften nicht fremd ist. Bilder, Grafiken oder Schemata sind essentielle Mittel der wissenschaftlichen Forschung, die exakte Schlüsse ebenso zulassen wie dies in der formalen schriftlichen Tradition der Wissenschaften üblich ist.

3. Medientheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Bild, Schrift und Zahl

Die Erschütterung oraler Gemeinschaften durch die Schrift mit ihrer Neudefinition des kulturellen Gedächtnisses, der Rechts- und Besitzverhältnisse, der Lernens und Studierens, des Arbeitens, Denkens und Argumentierens sind hinreichend beschrieben.[11]

Die exakten Wissenschaften beruhen auf der Schriftlichkeit. Schon die intersubjektive Überprüfbarkeit durch Wiederholen eines Experiments verlangt stabile und präzise Beschreibungen. Die Kunst der logischen Ableitung trennt sich von der dialektischen mäeutischen Methode gerade durch die Verschriftlichung der Logik, die mit einer abstrakteren Betrachtung der Wörter zusammengeht.

Die Auslegung der großen religiösen Texte der Juden, Christen und Araber schärft den Blick in den Text, eine Verfahrenweise, die als hermeneutische Methode beispielhaft für die sprach- und textfixierten Wissenschaften wird. Zugespitzt wird dann „Geschichte“ zur Geschichte der schriftlichen Zeugnisse. Mit dem Buchdruck wird diese Fixierung auf den Text enorm verstärkt. Indem die Texte in gleichsam industrieller Produktionsweise als identische Kopien der Manuskripte in den Umlauf kommen, wird die Basis der modernen Wissenschaften als universeller Methode gelegt. Deren methodische Intersubjektivität führt damit sowohl zur gesellschaftlichen Konstruktion des Autors als Subjekt wie auch zur „Ent-Individualisierung“ des einmaligen Manuskriptes zum gedruckten Text oder Buch.

Es darf aber nicht übersehen werden, daß diese Alphabetisierung der Gesellschaft, die sich vom Buchdruck bis zur allgemeinen Schulpflicht über Jahrhunderte erstreckt, begleitet wird durch eine ebensolche Ausbreitung der Bilder. Die Buchdrucktechnik des Satzes mit beweglichen Lettern wird begleitet durch die Bilddrucktechniken des Holzschnittes, des Kupferstiches, der Lithografie bis hin zum Rasterdruck für fotografische Abbildungen. Für die technische und wissenschaftliche Tätigkeit werden nicht nur Abbildungen verwendet. Es entstehen neue Formen der visuellen Darstellung von Sachverhalten, Zusammenhängen und Prozessen als Karten, Schemata, Funktionsgrafiken oder als Datenvisualisierungen.

Eine neue bildliche Dimension öffnen die autografischen Medien, die Töne auf Walzen und Platten mitschneiden und speichern und die Bilder und Bewegtbilder auf Platten und Filmen aufzeichnen. Während die Beschreibungsräume der Texte sich nur immanent erweitern lassen[11], gewinnen die bildlichen Darstellungs- und Speicherräume durch die Erweiterung der Medien völlig neue Dimensionen, die in den Naturwissenschaften und in der Technik vielfältig genutzt werden.

Die wissenschaftlich-akademische Arbeit am Text hat insbesondere in den formalen Ansätzen der Logik den exakten Umgang mit Aussagen, Behauptungen und Beweisen gefördert. Dies ist in den mathematischen und mathematisierten Wissenschaften auf die Spitze getrieben worden. Insbesondere der Umgang mit Zahlen und Gleichungen hat so eine außerordentliche Präzision in der Beschreibung wie in der Vorhersage erreicht. In der formalen Logik schließt sich, zumindest der Form nach, die Lücke zwischen Schrift und Zahl. Doch dies gilt nicht für alle wissen­schaft­lichen Textsorten gleichermaßen, so daß sich zwar ein allgemeiner Drang zur Formalisierung feststellen läßt, diese aber nicht immer angemessen oder auch möglich scheint.

Zahlen werden in anderer Weise zum universellen Speichermedium, nämlich durch die Digitalisierung aller Medien. Die gleichförmige Speicherbarkeit in Zahlenkodes erlaubt die programmierte Verarbeitung der unterschiedlichsten Medien des Tons, der Schrift, der Zahl oder des Bildes mit programmierten Computern. Neben die Medien der Hand, also dem Schreiben, Zählen, Malen und Skizzieren und neben die autografischen bildgebenden Medien der Schallplatte, des Magnetbandes, des Fotos oder des Films treten damit neue programmierte bilderzeugende Verfahren, deren Kern die komplexe Berechnung zur Visualisierung komplexer Daten bildet – seien sie von Sensoren erzeugt oder aus anderen Berechnungen gewonnen.

Bilder wurden aus Textwissenschaften, wie der Jurisprudenz, der Theologie oder den Philologien, ja auch aus den Geschichtswissenschaften nach Kräften verdrängt. In den Naturwissenschaften und der Technik und selbst in der Mathematik blieben sie stets essentielle Mittel der Verständigung – und werden dies auch weiterhin sein. Ihre Beweiskraft wird man differenziert sehen müssen. So wie der mathematische Beweis als Textsorte einer ungleich strengere und zwingendere Logik folgt als beispielsweise die etymologische Forschung, so werden auch völlig exakte graphische Beweismethoden in der Geometrie oder der mathematischen Kategorientheorie eingesetzt, deren logische Strenge sich deutlich von bildbeschreibenden Ansätzen z.B. der Kunstkritik abhebt. Freilich gibt es, vielleicht mit Ausnahme der projektiven Geometrie, keine bildlichen Argumentationsweisen der Mathematik, die von den anderen Wissenschaften ebenso begierig aufgenommen wurde, wie die algebraischen Modellierungen oder die formallogischen Schlußweisen der Beweistheorie.

Dennoch läßt sich keine grundsätzlich unterschiedliche Wertung der Argumentations- und Beweiskraft von Texten, Formeln oder Bildern feststellen. Einzig eine historisch gewachsene Fixierung auf den schriftlichen Beweis und insbesondere auf Beweise, die in formalen Kalkülen vollzogen werden, kann konstatiert werden. Ob diese historische Entwicklung zwangsläufig fortgesetzt werden muß, oder ob die neuen Digitalen Medien der Argumentationskraft der technischen Bilder eine nicht nur quantitativ stärkere Rolle, sondern eine qualitativ neue Dimension zubilligen werden, ist der weiteren Untersuchung wert.


Literatur

[1] Gottfried Boehm (Hrsg.), Was ist ein Bild? 2. Aufl., München : Fink, 1995.

[2] W.J.T. Mitchell: Der Pictorial Turn, in C. Kravagna (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 15-40

[3] Horst Bredekamp, Towards The Iconic Turn; im Interview mit Hans Dieter Huber und Gottfried Kerscher am 7.11.97 in Berlin, Hardware: kritische Berichte 1, 1998, 85ff

[4] Der Name taucht m.W. erstmals bei Vilém Flusser „Ins Universum der technischen Bilder“, 1985 auf.

[5] Das betrifft schon die altgriechische Farbnamen: So gibt es keine eindeutige Definition von ochron.

[6] Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800-1900, München: Fink, 1985

[7] Die spezifischen Probleme digitaler Archivierung seien hier ignoriert, auch wenn sie sich als ernsthaftes Problem erweisen. Sie sind einer gesonderten Betrachtung wert.

[8] J. Dieudonné, Geschichte der Mathematik 1700-1900, S. 795.

[9] Marvin Minsky, The society of mind, New York : Simon and Schuster, 1986.

[10] Walter Ong, Oralität und Literalität, Opladen Westdeutscher Verlag 1987

[11] Mit der freilich bedeutsamen Ausnahme des rechnerverwalteten Hypertextes, der auch unter diesem Aspekt eine eigene Betrachtung verdient.