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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Der Fikusâ

 

 

Auch das Wort fikusâ ist aus dem Japanischen entlehnt.(1) Allgemein läßt sich das Wortfeld so umreißen: Ein Fikusâ ist ein Koordinator, eine Figur des Dazwischen, ein Bindeglied, eine fließende, bewegliche Figur.(2) Im Netzwerk-Jargon gesprochen: ein Gateway. Eine Mediatrix(3), ein go-between, ein Intermediär. Das wichtigste Stichwort hier ist to mediate.(4) Der Fikusâ ist ein Medium.

Um einen Transit bewerkstelligen zu können, muß er in mindestens zwei Systemen operieren. Er übersetzt und erzeugt Anschlußfähigkeit, Kompatibilität. In jedem Falle geht es ihm darum, die Eigenschaften der verschiedenen Kanäle und der Kulturen, die darum entstehen, die Bewegungen der Öffnung und Schließung zu kennen.

Der Fikusâ ist eine Borderline-Figur, ein Grenzgänger. Auf der Grenze etabliert er seinen Posten, eine Passage zwischen Systemen, einen Code-Konverter und eine Zollstation. Im Strom der Informationen baut der Fikusâ seine Netze auf. Guter Fang ist, was auf dem Markt der Information Tauschwert hat. Eingetauscht werden kann es gegen andere Informationen, gegen Geld, Verbindlichkeiten, Dienstleistungen, materielle Waren. Jede neue Bekanntschaft, jeder Party-Talk ist eine Investition, die sich vielleicht auszahlt. Für die Informations-Haben-Seite sucht der Fikusâ ständig nach einem komplementären Informations-Mangel. Der kann, bei entsprechendem Geschick, wie überall auf dem Markt gezielt hergestellt werden. Am Informations-Gefälle richtet der Fikusâ sich ein. Wie ein Wasserkraftwerk bezieht er seine Energie aus dem Differential.

Von außen beobachtet gelingt ihm vermeintlich eine zwanglose Vermischung von Spiel und Arbeit. Das japanische Wort asobu (spielen) schließt auch das gemeinsame Trinken ein. Der Fikusâ arbeitet mit dem Sektglas in der Hand. Tatsächlich werden ihm die ständigen Empfänge und Vergnügungsetablissements zur harten Arbeit. Fikusâ agieren in jeder Domäne: Kunstmarkt, Wissenschaftsmarkt, Markt der Ideen, Markt der Wirtschaftsinformationen. Ihre Qualifikationen liegen eher notgedrungen auch in einem Sachgebiet. Der Kunst-Fikusâ wird ein Grundverständnis von Angebot und Nachfrage, eine Landkarte zur Einordnung dessen, was er auf den jeweiligen Vernissagen und in den Studios sieht, benötigen. Er ist häufig Autodidakt, denn hat sich das Wissen um die Kopplung zweier Systeme erst soweit stabilisiert, daß es institutionell unterrichtet werden kann, wird der Fikusâ seine Zelte abbrechen und weiterziehen. Vor allem aber operiert er relational, indem er mit möglichst vielen Seiten spricht und sich daraus ein Gefühl für die Wertigkeiten filtert. Die Stärke des Fikusâ liegt gerade in dieser Methodik, die ebensogut auf alle möglichen anderen Gegenstandsbereiche anzuwenden sind.

Der Netzwerker ist in den Systemen Parasit und Gast (Michel Serres). Er ist formlos und weder A noch B zuzuordnen. Er ist Landvermesser, der durch seine Tätigkeit das Gelände ständig neu absteckt. Er selber ist aber auf keiner Karte einzutragen. Er ist ein informationelles Zwischenwesen - zwischen Domänen, Sprachen, Ländern. Er ist ein frequent flyer.

Wie der der Nomaden ist sein natürlicher Ort das Unterwegs. Aber in sekundär-nomadisierten Zeiten kann der Fikusâ ebensogut an einem der Nabel der Welt sitzen, ohne sich zu rühren, und seine Netze in die ständige Umwälzung der Kulturen halten. In jedem Fall aber gehört der Fikusâ - wie das Fernweh und der Stau - als fester (fixer) Bestandteil zu den Verkehrswegen der Information. An ihnen erhebt er seinen Wegezoll.

Die Leistung, die er für seinen Tribut erbringt, ist eine Konversion. Der Grad der Umformatierung, den das informationsverarbeitende System Fikusâ intern vornimmt, hängt von den Regeln des jeweiligen Informationsmarktsegmentes und seinem individuellen Geschick ab. Es gibt den Typus, der sich wie die Dame vom Amt in Telephongespräche einklinkt (oder mit einer digitalen Netz-Metapher gesprochen: wie ein Router in die Paketströme), der lediglich die Telephonnummern aus seinem elektronischen Organizer miteinander abgleicht, zur rechten Zeit den rechten connect vermittelt, woraufhin die verkuppelten Parteien alles weitere untereinander, ohne sein Zutun regeln.

Am anderen Ende der Skala steht der Typus Fikusâ, der die Information beim Durchgang durch sich anreichert, eine komplexe Transkodierung vornimmt, der der Käuferseite Interpretation, Zusatzinformation, Kontext, Übersetzung über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg mitliefert, value added information; der die Kommunikationen von einem geschlossenen System in das andere transponiert.

Daß diese Form von Multikulturalität eine andere Referenz erfordert als die auf Wahrheit macht eine Geschichte von Foersters deutlich.

Ich habe einen lieben Freund, der in Marakesch aufgewachsen ist. Das Haus seiner Familie stand auf der Straße, die das jüdische vom arabischen Viertel trennte. Als Jugendlicher spielte er mit all den anderen Kindern, hörte sich an, was sie dachten und sagten, und lernte ihre grundsätzlich verschiedenen Ansichten kennen. Als ich ihn einmal fragte, wer denn recht hätte, antwortete er mir, beide hätten recht.

"Aber das kann doch nicht sein", beharrte ich auf meinem aristotelischen Standpunkt, "nur einer kann im Besitz der Wahrheit sein!"

"Das Problem ist nicht Wahrheit", antwortete er, "das Problem ist Vertrauen."(5)

Der Otaku konstituiert sich aus der Unterscheidung in das, was als Operation systemkonstituierend ist, und in die immer mitlaufenden, dem System sogar als Möglichkeitsbedingung dienenden, aber systemunspezifischen Prozesse.(6) Der Fikusâ dagegen achtet vor allem auf die Verkettungen von Kommunikationen, Menschen und Artefakten, die transversal zu Systemen laufen.

Systeme haben neben einem 'Abschließungstrieb' (Otaku), gerade wenn es sich um medial-basierte Systeme handelt, immer auch einen 'Anschließungsstrieb' (Fikusâ). Otaku und Fikusâ sind offensichtlich systemische Funktionen, komplementäre Bündel von Operativität. Sie treten auch als individuelle kommunikative und informationelle Kompetenzen in Erscheinung, als Rollen, als Menschen. In jedem Unternehmen, jeder Arbeitsgruppe wird man beide Figuren finden. Außerdem werden die meisten von uns zu Zeiten im Otaku-Modus operieren, zu anderen im Fikusâ-Modus.

 

 

1. das es aus dem Englischen übernommen hat, und dieses wiederum von lat. fixus, fest, unbeweglich; konstant, beständig; daraus seit dem 17.Jh. "sicher, geschickt, erfahren" und schließlich auch "behende, schnell", vgl. fixe Zunge. Unter fixer verzeichnet der Langenscheidt 1. (phot.) Fixiermittel 2. 'Organisator', Manipulator 3. (sl) 'Dealer'. Die Bedeutung des japanischen fikusâ liegt zwischen 2. und 3. Im "Grundwissen der gegenwärtigen Begriffe" (Gendai yôgo kisochishiki) von 1992 wird es mit Verweis auf seinen Ursprung in der amerikanischen Umgangssprache erklärt als jemand, der bei einem Vorfall, Ereignis, bei Verhandlungen oder bei Streitigkeiten die Mittlerrolle oder den Schiedsrichter spielt; jemand, der Heiraten arrangiert; ein Peacemaker, der schlichtet, mit beiden Seiten redet, der interveniert mit dem Ziel, die Parteien zu versöhnen; jemand, der Ideen (auch wörtlich: Texte in Kompilationen) und Leute bündelt und organisiert, vereinheitlich, zusammenschließt; jemand, der Kaputtes repariert, flickt, stopft, in Ordnung bringt; der Sachen arrangiert, in die Wege leitet und Dinge erledigt.

2. Wir sehen also eine 180-Wende gegenüber der ursprünglichen Bedeutung "konstant, unbeweglich".

3. Daß die englische Sprache der Vermittlerin mit mediatrix eine eigenständige Wortbildung gewidmet hat, deutete darauf, daß es oft Frauen sind, die diesen Systemplatz einnehmen. Kinship is women's work (Dorinne K. Kondo), wie sich u.a. an den für Japan so wichtigen Heiratsvermittlerinnen zeigt.

4. 1. vermitteln, den Vermittler spielen [!] 2. dazwischen liegen, ein Bindeglied bilden; mediation Vermittlung, Fürsprache, (eccl.) Fürbitte.

5. von Foerster 1993: 77

6. Z.B. "Mit Geld kann man zwar die institutionelle Entwicklung der Wissenschaft steuern, aber die Produktion neuer Erkenntnisse bleibt davon unberührt. Ressourcen ... verändern lediglich die Intensität der internen Prozesse (u.U. auch differentiell), nicht aber deren Art." [Küppers 1996: 144]

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last uptdate 03-01-02