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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

1.4. Typologie medialer Lebensstile

 

 

Die Masse, die bekanntlich anonym ist, wird von Massenmedien erzeugt. Sie ist nicht etwa ein genuines Produkt der Totalitarismen der 1930er Jahre, doch haben diese sie unter anderem mit Hilfe der Massenmedien homogenisiert. Nach dem Ende des "gemeinsamen Mediums" des Dreikanal-Fernsehens(1) und der Erfindung der "Meta-Masse" durch ein Marketing, dessen Zielgruppe virtuell auf den Einzelnen konvergiert, bleibt wohl nur die Diagnose einer 'Atomisierung'. An die Stelle der frühindustriellen Schmelztiegel-Metapher eines Amalgams der Masse, in dem die heterogenen Bestandteile ihre individuellen Eigenschaften verlieren, tritt das Bild von Atomen in einem hocherhitzten Gas, deren einzige Berührung sich in einem Zusammenprall ergibt. Allerdings handelt es sich um adressierbare Atome. Man denke an japanische Jugendliche, die dank der gegenseitigen Fernsteuerung durch ihre Mobil-Telephone durch den urbanen Raum manövrieren. Medientechnisch handelt sich dabei um die Zivilisierung der Innovation des zweiten Weltkriegs: die punktgenaue Koordination der Bewegung von Einheiten (Panzer, Flugzeuge) über Funk in einem Raum, in dem sich mit der gleichen Geschwindigkeit und der gleichen Präzisionssteuerung auch der Feind bewegt.

Eine medienanalytische Beobachtung wird auf diese Einheiten aufgeladene Begriffe wie 'Subjekt' oder 'Individuum' kaum mehr anwenden können. Andererseits geht der Einzelne natürlich auch nicht in dem auf, was an ihm 'Gesamtsystem' ist. Ebenso wie es ein System gibt, das sich selbst und das von anderen als 'Japan' bezeichnet wird, gibt es auch ein System namens 'Ich'. Etwas, das sich im Tagebuch schreibt und in Analogie im Roman und im Film liest. Etwas, das sich im Spiegel, auf Fotografien, auf Video als 'Ich' erkennt; das von Angesicht zu Angesicht, per Brief, Telephon, Fax und E-Mail von Institutionen und von anderen Einzelnen als solches angesprochen wird.

Um von Einzelnen zu sprechen, ohne auf die Beobachtungsebene der Psychologie zu geraten, möchte ich auf die Tradition von Figuren wie dem Dandy (Benjamin), dem DatenDandy (Bilwet(2)) und der Trias von zeitpraktischen 'Lebensstilfiguren' (der "technikfaszinierte Wellenreiter", der "kommunikationsbesorgte Skeptiker" und der "zeitjonglierende Spieler"(3)) zurückgreifen und zwei Funktionsbündeln von Systemen die Namen Otaku und Fikusâ geben - zwei Grundkonstellationen, gleichsam Archetypen medialer Sozietät. Der erste steht für die Qualität der operationalen Schließung, der zweite für transitive oder transversale Operationen.

Otakus sind operational geschlossene Systeme. Ihr Referenzsystem ist ein Gegenstandsbereich (Dingwelt oder Ideen), obgleich es wichtige Operationen gibt, die auf gleichgesinnte Otakus referieren. Wenn sie über interpersonale Beziehungen nachdenken, tun sie das im Modus eines Gegenstandsbezugs. Sie sind nicht interaktiv. Sie interessieren sich für geschlossene Systeme, für Bereiche, in denen man virtuell alles wissen kann. Sie mögen die Grenzen des von ihnen gewählten Systems ausloten, aber sie überschreiten sie nicht.

Dem Otaku ist die transitive Figur des Fikusâ komplementär, mit all der sozialen Fixigkeit ausgestattet, die dem Otaku abgeht. Er ist ein Wesen, das sich instinktiv an den Schnittstellen zwischen Systemen anlagert; der Adapter, der die Operationen leistet, die operativ geschlossene (Otaku-) Systeme miteinander verbinden. Der Fikusâ ist derjenige, der über Systemgrenzen hinweg operiert. Fikusâ reflektieren auf eine Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen. Auch wenn sie über Ideen oder Dinge, z.B. Technologie nachdenken, tun sie dies im Modus von Relationen zwischen Menschen. Sachbezüge dienen ihnen nur zur Identifizierung von Differenzen zwischen Systemen. Nachgerade instinktiv suchen sie ständig nach Berührungsflächen von Systemen, die nicht oder nur schwach gekoppelt sind. Dazu müssen sie sich innerhalb der Codes verschiedener Systeme bewegen können. Wenn sie nicht 'interaktiv' sind, sind sie nicht. Sie interessieren sich für offene Systeme und Öffnungen in geschlossenen Systemen. Sie existieren an den Schnittstellen, sowohl im Diesseits wie im Jenseits der Systemgrenze, aber immer mit Bezug auf sie und ihre Durchlässigkeit.

 

 

1. Bolz 1997: 60

2. Agentur BILWET o.J.

3. S. Hörning/Ahrens/Gerhard 1997

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last uptdate 03-01-02