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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

1. Einleitung: Öffnungen und Schliessungen

 

 

"Dixon. Why mayn't there be Oracles, for us, in our time? Gate-ways to Futurity? That can't all have died with the ancient Peoples." (Thomas Pynchon, Mason and Dixon)

"Heute abend geschlossene Gesellschaft" - ein solches Schild an der Tür, zum Beispiel eines Restaurants, signalisiert, hier will eine Gruppe unter sich bleiben. Hier findet eine private Feier statt oder vielleicht ein Firmenausflug oder der Jour fixe eines Clubs. Zwar ist die Tür nicht verschlossen, doch öffnet sie sich nur für denjenigen, der dazugehört. Vor einem gewöhnlich öffentlich zugänglichen Raum wird eine Grenze errichtet, die eine In-Group von allen anderen potentiellen Restaurantbesuchern and the rest of us trennt.

Im Ueno-Park von Tokyo spielen sich alljährlich im April die gleichen Szenen ab: Bereits am Vormittag legen Leute Plastikplanen auf den Boden und harren aus, bis gegen Abend ihre Kollegen eintreffen. Dann sitzen sie im Kreis zusammen, trinken, essen, lachen, singen, kurz: sie begehen den jahreszeitlichen Anlaß der Kirschblütenschau. Keine Tür, kein Schild, und dennoch bildet sich in einem öffentlichen Park neben all den anderen Kreisen eine geschlossene Gruppe, die der Welt den Rücken zukehrt. Sie reden vielleicht auch über das Außen, aber vor allem über sich. Sie erzeugen Geschlossenheit im Offenen.

Die Dynamiken, die mit dem Begriff 'Globalisierung' bezeichnet werden, haben auf den ersten Blick aus der Welt einen offenen Raum gemacht. Die Grenzen zwischen Kulturen, Nationen, Organisationen, individuellen Identitäten verschwimmen. In dieser Situation gibt es etwas, das sich selbst und das andere 'Japan' nennen und das sich selbst und dem andere einen besonderen Grad an 'Geschlossenheit' unterstellen; etwas, das vor allem mit sich und über sich spricht und seiner Umwelt den Rücken kehrt.

"[The Internet] promises to change Japan drastically within a decade or so. This change would be as evolutional as that from Edo to Meiji (feudal Tokugawa government to Imperial Japan), or transitional as from Imperial Japan to the so-called democratic Japan after the Pacific War. [...] The influence of the Internet to [sic] Japan is certainly as significant as that of Perry's fleets or atomic bombs. American high technologies have triggered Japan's big changes twice already. The third change will be the Internet."(1)

Die drei Öffnungen und die ihnen jeweils vorangegangenen Schließungen, von denen Kaminuma Tsuguchika (Leiter der Abteilung für Chemo-Biologische Informatik des National Institute of Health Sciences) hier spricht, sollen mir in dieser Untersuchung als Leitpunkte dienen, um über die Innen-Außen-Beziehungen von sozialen Systemen nachzudenken.

Der weitverbreitete Topos der 'Inselnation' situiert das System 'Japan' in einer vorgängig, 'natürlich', essentialistisch größeren Distanz zu seiner Umwelt als Nationen mit Landgrenzen. Das Meer, das eine so augenfällige Systemgrenze darstellt, läßt sich nur mit technologischen Mitteln wie Schiffen, Flugzeugen, Unterseekabeln oder Satelliten überwinden. 'Japan' (Land, Kultur, Sprache, Nation usw.) konstituiert sich gegenüber drei relevanten Umwelten: 'Asien' (China, Korea, Ryûkyû, Hokkaidô (= den Ainu)), dem 'Westen' (Portugal und Holland, USA und westeuropäische Länder, vor allem England, Deutschland, Frankreich)(2) und seit jüngstem auch gegenüber einer Sphäre von Globalität. Die Selbst- und Fremdreflexion, die das System 'Japan' von diesen überlegenen oder unterlegenen Referenzsystemen abgrenzt, wird hier unter dem Begriff Nihonjinron, also der diskursiven Bestimmung von 'Japanizität', zusammengefaßt.

Die Diskursformationen des Nihonjinron haben ein 'Ganzes' zum Gegenstand, für das auch die Bestimmungen seiner sozialen Subsysteme (Organisationen und Individuen) zur Grenzziehung gegenüber einem Nicht-Japan rekrutiert werden. Das soziale System 'Nation' imaginiert sich eine Herkunft (in der Sonnengöttin Amaterasu, der ungebrochenen Linie des Tennô-Geschlechts, in den Samurai-Tugenden) und eine Zukunft (im technological nation-building, der Informationsgesellschaft). Das Elementenbündel der Nation (Territorium, Sprache/Schrift, Rasse, geologische und klimatische Bedingungen, Politik, Recht, Währung, Kultur usw. usw.) bildet trotz oder wegen der nachweislichen Trends zu 'Globalisierung' und 'Individualisierung' weiterhin eine Unterscheidung, die einen Unterschied macht, somit ein soziologisch relevantes System.(3) "Das so lange verkündete 'Ende des Zeitalters des Nationalismus' ist nicht im entferntesten in Sicht. Das Nation-Sein ist vielmehr der am universellsten legitimierte Wert im politischen Leben unserer Zeit."(4) Vor jeder Bestimmung von Institution, Gruppe oder Selbst in Differenz zu anderen Institutionen, Gruppen, Selbsten steht das "Wareware Nihonjin..." ('Wir Japaner...').

Auf der Beschreibungsebene der Organisationen sozialer Systeme (Wirtschaft, Bildung, Recht, Massenmedien(5)) dreht sich die Bestimmung um den Topos(6) der 'ie-Gemeinschaft'.(7) Er konstruiert eine korporatistische innere Struktur der Systeme und stellt eine 'konfliktfreie' Kopplung an ihre Umwelt, die anderen sozialen Systeme Japans, heraus. Hierher gehört die Rede von der 'Harmonie' von Wirtschaft, Staat und Massenmedien und von der 'Japan Inc.'.

Auf der Beschreibungsebene des Individuums (oder weniger anspruchsvoll formuliert: auf der von Menschen) leistet der Topos des 'Intersubjekts'(8) die Abgrenzung gegen einen westlichen Individualismus. 'Homogenität', 'Mittelklassegesellschaft', 'Gruppenidentität' sind die Formeln, die den Einzelnen paradoxerweise zugleich hierarchisch und egalitär situieren.

Die Begriffe Offenheit und Geschlossenheit lenken die Aufmerksamkeit auf die Grenzen von Systemen und auf die Permeabilität dieser Grenzen. Menschen, Waren, Kapital, Information fließen über sie hinweg in die eine oder die andere Richtung. Sie drängen herein oder werden hereingeholt.(9) Sie treten heraus oder werden herausgefordert. Sie werden blockiert und abgewehrt oder assimiliert.

Der Begriff der Geschlossenheit hat in bezug auf Japan besondere Relevanz: historisch durch die Abschließung des Landes (sakoku) während der Edo-Zeit (1603-1868) und durch die topologische (im doppelten Sinne) Situierung Japans als 'Inselnation'. Karatani Kôjin bezeichnet das, was in der sakoku-Zeit entstanden ist, als einen 'geschlossenen diskursiven Raum', den Japan nie verlassen habe. Heute sei es "in fact" weiterhin "a discursive space filled with complacency and almost totally lacking in exteriority."(10) Asada Akira bezeichnet das gleiche Phänomen als 'Mandala', somit als ein Kosmogramm, eine Komposition, die in ihren kaskadenartig endlos selbstähnlichen Schichten eine Totalität umspannt. Das leere Zentrum sei nicht im Zentrum, sondern allgegenwärtig, und deshalb diffus und unauffindbar. Das unendliche Ganze ist in den Teilen enthalten, die das Ganze fortwährend in der Gestalt von Teilen erfüllen. Koestlers Holoarchie, Bohms und Pribrams Holographie und Mandelbrots Fraktale sind weitere Metaphern Asadas für das Mandala-System. "Ist es nicht gerade die Mandala-Struktur ineinandergreifender Schachteln, die eine Form des Holismus darstellt, eine Form der idealistischen Metaphysik der Totalität und der vorherbestimmten Harmonie, eine äußerst sanfte und demgemäß starke Form?"(11) Die rhizomartige Vernetzung der japanischen Wirtschaft, die 'Informationsgesellschaft Japan', wie sie sich auf der Wissenschaftsausstellung in Tsukuba 1985 feierte und der Topos von Japan als 'maternellem Ort'(12) sind einige der Formen der Komplizenschaft mit dem japanischen Kapitalismus, in die das Mandala lockt und zwingt.(13) Auch wenn es um das Hineinzitieren von Phänomenen der sakoku-Zeit in eine postmoderne Selbstbeschreibung der japanischen Gesellschaft geht - für Asada ist das Mandala "nicht mehr als eine archaische Konstellation einer geschlossenen Harmonie."

Doch einmal gewaltsam 'geöffnet'(14) entdeckte Japan eine Welt, die während seiner Abschließung von einigen europäischen Ländern mit immer dichteren Netzen überzogen worden war - ein anderes Mandala, eine andere Form von inklusiver Totalität. Es transformierte sich daraufhin in kaum drei Jahrzehnten so weitgehend, daß es wirtschaftlich, militärisch, kolonialistisch, wissenschaftlich, intellektuell an den weltweiten Verkehr der 'westlichen' Nationen angeschlossen war. Der globalisierenden Bewegung nach außen geht nach innen die Bewegung zur Konstruktion eines hochgradig zentralisierten Nationalstaates einher. Verkehr und Medien führen zur Bildung eines "national communication circle... the creation of a homogeneous population able to communicate and to be communicated to."(15) Der Bewegung der Homogenisierung und Massifizierung des Gesamtsystems wiederum geht auf der Ebene der Einzelnen die Bewegung zur Bildung einer 'Innerlichkeit' (Karatani) und zur 'Privatisierung' einher.

Die Möglichkeitsbedingung solcher Kommunikationsflüsse sind die Kanäle von Verkehr und Medien. In ihnen bewegen sich die Flüsse von Menschen, Waren, Kapital, Information, religiösen, politischen, wissenschaftlichen Ideen, Technologie und Müll. Die europäische Geschichte der vergangenen 500 Jahre läßt sich zugespitzt als die der technologischen Erhöhung der Reichweite und Flußgeschwindigkeit dieser Kanäle und der Anschließung von immer mehr Systemen zusammenfassen. Giddens (1997) z.B. erklärt die Dynamik der Moderne aus raumzeitlicher Abstandsvergrößerung und zunehmender Reflexivität. Weiter pointiert ließe sich sagen, die Moderne sei gleichbedeutend mit der Kopplung ihrer Systeme mit Hilfe ihrer Verkehrs- und Mediennetze. Die Moderne ist die 'Message', die über alle Medien hallt. Die Netze selbst implementieren diese Botschaft.(16) Die Umwelt eines jeweiligen Systems wird zunehmend identisch mit seinem 'Medienhorizont' (Virilio).

Die Bestimmung und Filterung möglicher Kommunikationen, die über diese Kanäle laufen, werden von den genannten Diskursen, von den Selbst- und Fremdreferenzen des jeweiligen Systems gesteuert. Ein System empfängt keine Botschaften, sondern konstruiert eine Welt, wie Maturana feststellte und Luhmann bestätigt. Japan konstruiert 'Japanizität' und 'Eurozität', wobei in der Fremdreferenz das Eigene in den Augen der Anderen aufscheint, das wiederum auf die Selbstreferenz zurückwirkt. Man hat es also mit komplizierten kommunikativen Rückkopplungsverhältnissen zu tun. Wenn der Begriff der 'Kultur' gehandhabt wird, muß sie folglich immer als hochgradig eklektisch gedacht werden.(17) Diese Diskurse steuern die Formen der Kopplung eines Systems an seine Umwelt und die Gewichtung von Selbst- gegenüber Fremdreflexion in der Wirklichkeitskonstruktion dieses Systems.

Es gibt also Menschen und ihr Reden sowie Maschinen, hier genauer: Medienmaschinen, und ihr Schalten. Ihr mögliches Verhältnis läßt sich in zwei Thesen zuspitzen:(18)


1. Soziale Formung der Medien

Kommunikationen, nicht ihre technischen Verschaltungen, machen Gesellschaft.

Kommunikationen steuern Medien.


... daß wir mit Medien machen, was wir wollen.


Es gibt den Medien vorgängige soziale Systeme, die sich (aktiv, mehr oder weniger reflexiv/bewußt) mit Hilfe von Medien verändern.



Ob ein System offen ist oder geschlossen, entscheidet es selbst, ungeachtet der bestehenden Netzwerkanschlüsse


"Entscheidungen" (Luhmann)(19)

2. Mediale Formung des Sozialen

Diskurstechnologie, nicht Diskurse, macht Gesellschaft.


Medien steuern Kommunikationen.


... daß Medien mit uns machen, was sie wollen.



Soziale Systeme (die über Anwesenheitszusammenhänge hinausgehen, also nach den meisten Definitionen 'Gesellschaft' heißen) existieren nur aufgrund ihrer medialen Verschaltungen.



Ob ein Netzwerk offen oder geschlossen ist, entscheidet es selbst, ungeachtet der bestehenden systemischen closures.(20)



"Lösung des Entscheidungsproblems der Welt" (Kittler mit Hodges mit Turing)(21)

 



ad 1.

Eine der Wurzeln der Medienforschung liegt in den Propagandastudien in der Zeit des zweiten Weltkrieges in Deutschland, den USA und in Japan, aus denen nach diesem Krieg die Kommunikationswissenschaften entstanden. Medien tauchen somit als Mittel auf, die zu einem Gebrauch bereitstehen. In der Folgezeit wenden sich die verschiedensten Disziplinen den Medien zu, die Soziologie und Literaturwissenschaften, die Publizistik und die Technikforschung,(22) die Politologie und die popular culture studies.(23)

Die Grundthese, auf der die genannten Kulturwissenschaften ihre Beschäftigung mit Medien situieren, ist die von der Technologie als einem sozialen Prozeß. Technologie 'reflektiere' die Konturen der spezifischen sozialen Ordnung, die sie hervorgebracht hat, geformt von subjektiven Faktoren und sozialen Auseinandersetzungen (so z.B. David Nobel). Entsprechend ist ein Grundmuster, nach dem 'Gesellschaften' auf diese Lage reagieren, eine akademische Kopplung zu legen zwischen 'Kultur' und 'Technologie'. (Bereits 1963 wurde McLuhan vom Rektor der Universität von Toronto aufgetragen, ein Zentrum für "Culture and Technology" aufzubauen.)

Auch diese Richtung ist sich der immensen 'Folgewirksamkeit', also gewisser 'Eigenwerte' oder einer 'Autonomie' der Medien bewußt. So beginnt z.B. Joachim Krausse eine Bibliographie zur Medientheorie mit der Schlußfolgerung: "Wenn es eine Erkenntnis aus der Geschichte und Theorie der Medien und ihres Gebrauchs für heute gibt, dann die, daß wir uns mitten in einer Umwälzung allergrößten Ausmaßes befinden, deren Auswirkungen auf Kultur und Kulturen, auf Lebensweisen, Bildung und Kunst kaum übersehbar ist."(24) Oder in der Fassung der Grundthese der technokratischen Literatur zur 'Informationsgesellschaft': "Die Transformation der Gesellschaft ist das Ergebnis von Innovationen in den gesellschaftlichen Technologien."(25)

Insofern ragt auch diese Position weit in die These einer "medialen Formung des Sozialen" hinein. Die Polarisierung rechtfertigt sich aus ihrer Grundannahme, daß diese 'Innovationen' von 'Gesellschaft' aktiv und zielgerichtet (z.B. durch Forschungs- oder Industrieförderungspläne) herbeigeführt und die 'Transformationen', wenn auch nicht vollständig vorhersagbar, so doch im wesentlichen gewünscht, andernfalls nachzubessern seien.

Geschichte, auch die von Medientechnologie, werde von 'Menschen' gemacht, auch wenn sich diese Denkrichtung heute der 'eingeschränkten Rationalität' ihrer Entscheidungen bewußt ist. 'Neben-' oder 'Folgewirkungen' sind zwei Marker für den Überhang der Entscheidbarkeit in die Kontingenz. Dennoch sind es die Diskurse und Kommunikationen (z.B. politische, wissenschaftliche, die einer 'Öffentlichkeit'), die zählen.(26) Nicht Fatalismus, sondern ein 'Vorausdenken und Mitgestalten', eine Beherrschung der Technik müsse unser Ziel sein. Dazu allerdings bedürfe es einer Kompetenz, einer Umgestaltung und Selbstbeherrschung des 'Menschen' im Angesicht seiner Medien, die eine Pädagogik allererst herzustellen habe.(27) Alphons Silbermann, Mitbegründer der empirischen Massenkommunikationsforschung in Deutschland, beharrt auf einer doppelten - sozialen - Kausalität: Alle Massenkommunikationssysteme seien zu gleicher Zeit ein Widerschein der zugrunde liegenden Organisation und ein aktiver Bestandteil des sozialen Wandels. Diese Lage verlange "nach einem aktiven und realistischen Humanismus, bei dem der Mensch in seinem kommunikativen Sein im Mittelpunkt der Überlegungen zu stehen hat."(28)


ad 2.

McLuhan hat als erster eine Kulturepoche nach ihrer Medientechnologie benennen können, die 'Gutenberg Galaxis'.(29) Dieser Perspektivenwechsel von einer 'Gesellschaft und ihren Medien' hin zu 'Medien und ihren Gesellschaften', war nur retrospektiv aus einer Zeit möglich, die begann, sich als 'Informationsgesellschaft' zu beobachten. Auch hier wird über 'politische Ökonomie' und über das sich verschiebende Verhältnis der 'Sinne' zueinander gesprochen, doch wird von dieser Seite aus beobachtbar: "Von den Leuten gibt es immer nur das, was Medien speichern und weitergeben können. Mithin zählen nicht die Botschaften oder Inhalte, mit denen Nachrichtentechniken sogenannte Seelen für die Dauer einer Technikepoche buchstäblich ausstaffieren, sondern (streng nach McLuhan) einzig ihre Schaltungen, dieser Schematismus von Wahrnehmbarkeit überhaupt."(30)

Von dieser Seite aus gibt es zwei Strategien, das Reich der Medientechnik und das der Menschen zu koppeln. Dieter Daniels hat sie die 'utopisch-globalistische' und die 'kritisch-kulturpessimistische' genannt.(31) Beide Motive finden sich auch im Lager derer, die an (Grade von) Steuerbarkeit von Medientechnologieentwicklung glauben. Aber hier in ihrer Reinform projizieren beide Strategien Eigenwerte auf die Technologie, die wiederum (ganz gleich, was Menschen darüber denken) bestimmte soziale Strukturen determinieren.(32) Die eine sieht einen inhärenten positiven Zusammenhang von Medientechnologie und Demokratie. Dann gilt: Mehr Medien => mehr Kommunikation => mehr Verständigung => mehr Demokratie => alles wird besser. Die Gegenthese unterstellt einen inhärenten negativen Zusammenhang: Mehr Medien => mehr Propaganda und mehr zentrale Kontrolle (Orwell) => mehr Zentralmacht = Business as usual => alles wird noch schlimmer. Man könnte die ersten die Netzgläubigen nennen, die zweiten die Systemgläubigen oder Paranoiker.(33)

Diese These eröffnet aber auch einen Blick auf eine mögliche Entkopplung der beiden Systeme. Sie läßt verstehen, "daß Menschen die Informationsmaschinen nicht erfunden haben können, sondern sehr umgekehrt ihre Subjekte sind. Seinen Seminarbesuchern sagte Lacan ins Gesicht, sie seien, mehr als sie denken könnten, heute Untertanen aller Arten von Gadgets vom Mikroskop bis zu Radiotelevision."(34) Sie mündet dann in den Gedanken, daß der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, eine Brücke sei (Kittler mit Nietzsche).

Wer die alte Frage darin durchscheinen sieht, ob nun das Sein das Bewußtsein bestimme oder umgekehrt, wird ebenfalls ahnen, daß sie auch hier nicht beantwortet werden wird. Alles was in dieser Arbeit versucht werden soll, ist eine Übersetzung der beiden Thesen mit Hilfe der Begriffe System und Netzwerk. Soviel bleibt, solange auf Computern noch an menschliche Leser adressierter Text und nicht ausschließlich an Maschinen adressierter Programmcode entsteht: der Versuch gründet auf der 'grundlos' gewordenen Vermutung, daß die Lösung darin bestehen könnte, die richtige Lesart der Welt zu finden.

Zur Überprüfung der beiden Hypothesen nimmt sich die Arbeit eine Annäherung von beiden Polen aus vor: von dem der Verschaltungsmuster durch medientechnische Strukturen (wo verlaufen Telegraphenlinien? Sind digitale Netze ausschließlich national oder auf internationale Kompatibilität ausgelegt?) und von dem der Verschaltungen durch die Diskursnetze, die um und in diesen Kommunikationsnetzen gesponnen werden (Öffnung des Landes im Namen des fließenden Verkehrs, Individualisierung durch Konsum, Internationalisierungsdruck durch das Internet). Japan wurde dafür deshalb gewählt, weil es außer Westeuropa und Nordamerika das am intensivsten medial verschaltete Land ist und zugleich am vehementesten auf seiner Differenz beharrt.

 

 

1. Kaminuma 1996

2. Andere wichtige Orientierungspunkte auf der japanischen Weltkarte, wie sie sich an der Gewichtung in den Massenmedien ablesen lassen, sind die OPEC-Länder, Australien und südamerikanische Länder wie Brasilien und Peru. Weitgehend ausgeblendet sind dagegen Afrika, Zentralamerika und Osteuropa.

3. Zu der Ansicht Luhmanns und anderer Autoren, daß es sich beim Denken in der Einheit der Nation um ein "überholtes" handele, mehr unter "Globalisierung" in Kap. 1. Hier zur Absteckung des common ground nur soviel: "Die Modernität der Gesellschaft liegt nicht in ihren Merkmalen, sondern in ihren Formen, das heißt: in den Unterscheidungen, die sie verwendet, um ihre kommunikativen Operationen zu dirigieren." [Luhmann 1997: 165] In diesem Sinne ist das 'System Japan' nicht etwa bestimmt aus 'Merkmalen' (Klima, Insel, Gene), sondern aus einem systemeigenen rekursiven Prozeß der Reproduktion von Japanizität, der Grenzziehung durch Inklusion/Exklusion. Wollte man von "Funktionen", die Sinnsysteme füreinander haben, sprechen, so wäre die "Leistung", die das System Nation an die strukturell und operativ gekoppelten Systeme (Wirtschaft, Bildung, Wissenschaft, Kunst, psychische Systeme usw.) abgibt, diese Unterscheidung von Japan/Nicht-Japan (Deutschland/Nicht-Deutschland, Europa/Nicht-Europa usw.), an die andere Systeme weitere Operationen anschließen können (Wirtschaft: 'Standortfaktoren', Wissenschaft: Technonationalismen zur Mobilisierung von Forschungsförderung, Kunst: Neue Deutsche Welle, Neue Wilde usw.).

4. Anderson 1996: 12 f.

5. die, auf die Nation fokussiert, mit ihren counterparts in anderen Nationen-Systemen kommunizieren, und insofern auch Teilsysteme einer 'Weltgesellschaft' sind.

6. Zu einem an Vico gebildeten und an Japan entwickelten Begriff der 'topischen Philosophie' s. Pörtner/Heise 1995: 20-45

7. Ie = Hausgemeinschaft; s. Nakane Chie, Kizaemon Ariga, Murakami Yasusuke, Kumon Shunpei usw.

8. Kimura Bins aidagara, Hamaguchi Eshuns kanjinshugi usw.

9. Mit einem modischen Wort könnte man von push- oder pull-Effekten sprechen.

10. Karatani 1989: 271

11. Asada 1987

12. Dois amae, Kimuras aida, die Jung-Schule mit ihrem Faible für die Große Mutter.

13. Jens Heise in seiner Fußnote dazu: "... Subjekte, die aus der Verinnerlichung rationaler Prinzipien hervorgegangen sind, finden wir in Japan nicht. Dort bilden Kapitalismus und Subjekt gemeinsam eine Struktur, die dezentriert, aber abgeschlossen ist und die Asada ... 'Mandala' nennt." [Ebd.]

14. Die Konnotation von 'Vergewaltigung' ist mitzulesen. [Vgl. Kishida Shû in: Butler/Kishida 1987]

15. Katô 1992: 60 (meine Hervorhebung, VG)

16. Über die durch das Hanshin-Erdbeben zerstörten 'Lifelines' schrieb Uwe Schmitt in der FAZ, von einem Moment auf den nächsten sei die Region in ein Drittwelt-Territorium zurückverwandelt worden, also in einen vormodernen Zustand.

17. So zeichnet z.B. Frits Vos nach, wie die Erforschung der japanischen Grammatik ihre Grundlage sowohl in der Inspiration der 'Hollandisten' (rangakusha) durch niederländische Grammatiken als auch der Arbeiten der 'Nationalforscher' (kokugakusha) hat, und kommt zu dem Schluß "that the modern study of Japanese grammar is the result of international exchange and affords a striking example of the eclecticism that is so essential in phenomena of acculturation." [Vos 1997]

18. mit der doch nicht selbstverständlichen Warnung davor, ein einfaches polares Schema überzubelasten.

19. Luhmann, "Entscheidungen in der 'Informationsgesellschaft'" [1996c]

20. Kanonisches Beispiel: die 'Öffnung des Ostblocks durch die Medien'.

21. In: Turing 1987: 213

22. Von einer Technikgeschichte der 'Großen Männer' und ihren Biographien im Kontext ihrer Zeit über Technologieforschung als -Folgeforschung, -Geneseforschung, -Steuerungsforschung, (gewerkschaftsorientierte) Arbeitsforschung bis hin zu einer "Sozialwissenschaft von den Artefakten" (Latour) und dem jungen Feld von Science Technology and Society. Z.B. Rammert, Kubicek.

23. die sich mit TV-Serien, Comics, Werbung usw. beschäftigen.

24. Krausse 1984: 10

25. Masuda 1980: viii

26. Aus der Erosion der Idee, Entscheidungen könnten medientechnologische Systeme und ihre gesellschaftliche Implementation direkt steuern, entsteht die 'Leitbildforschung', die den Hebel eine Beobachtungsebene höher ansetzen will. [Dierkes/Hoffmann/Marz 1992; Hoffmann/Marz 1992]. Auch das 'memetic engineering' zielt auf die Herstellung und Verbreitung von 'Memen', "that attract energy in the form of people, content, traffic, money etc." (Itô Jôichi 1997: 20)

27. In den meisten Konzepten dieser Richtung ist die Herstellung von media literacy eines der obersten Ziele. Faulstich [1994] z.B. fordert ein Fach "Medienkunde" an den Schulen.

28. Silbermann 1996

29. Innis, Kenner, Flusser, Kittler sind andere wichtige Autoren. Auch Latour aus der Technikgeschichte.

30. Kittler 1986: 5

31. Daniels 1998: 48 ff.

32. Die eine bildet die 'Gleichheit der Menschen' auf Zweiweg oder Punkt-zu-Punkt-Medien ab, die andere 'pyramidale Machtstrukturen' auf Punkt-an-alle/von-allen-Medien.

33. Vgl. Grassmuck 1985

34. Kittler 1993: 77

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last uptdate 03-01-02