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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Schrift

 

 

Die Einführung der Schrift

Im Zeitraum von viereinhalb Monaten im christlichen Jahr 712 fand am japanischen Kaiserhof ein Urakt des Schreibens statt. Hieda no Are, ein Mann von außergewöhnlichen Gedächtnisfähigkeiten, diktierte Ô no Yasumaro die Geschichte vom göttlichen Ursprung des japanischen Volkes. Are gehörte einer Gilde von kataribe oder Rezitatoren an, deren vererbliche Aufgabe in der Memorierung und Übermittlung von Mythen, Genealogien und Gesetzen bestand. Kaiser Temmu selbst, unzufrieden über die Diskrepanzen und Fehler in den bestehenden Chroniken, hatte Are in den wahren Traditionen unterwiesen und sie ihn wiederholen lassen, bis er alles ohne Fehl auswendig hersagen konnte. Die Verschriftlichung des oralen Wissens war wohl bereits von Temmu Tennô geplant, doch erst seine Nachfolgerin Kaiserin Gemmyô konnte den Auftrag dazu erteilen.(1) Das Kojiki, die "Aufzeichnungen der Begebenheiten der Altzeit", ist nicht das erste Schriftstück Japans,(2) doch während ältere Dokumente Chinesisch als Chinesisch notierten, ist das Kojiki Japans ältester Versuch, die gesprochene japanische Sprache mit den fremden Zeichen zu fixieren, das älteste erhaltene Zeugnis für den Übergang der natürlichen Gedächtniskunst in das neue Gedächtniswerkzeug.



Die Zeichen der Han

Die ersten Schriftzeichen in China fanden sich auf Orakelknochen aus dem 16. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Daraus lassen sich bereits deutliche Vorstellungen über den Himmel ablesen, der Glaube an eine wirkungsmächtige Divination, die Verwendung eines recht genauen lunisolaren Kalenders und die sorgfältige Aufzeichung von Sonnen- und Mondfinsternissen.(3) Die Schrift als Herrschaftsinstrument spielte in der Folge eine zentrale Rolle bei der Bildung eines vereinigten Reiches.

Papier ist vor Beginn der christlichen Zeitrechnung in China erfunden worden. Die ältesten Funde stammen aus dem -2. Jahrhundert.(4) Es diente zunächst noch nicht als Zeichenträger, sondern für die Innenausstattung und Bekleidung, für Fächer und Schirme, bei Zeremonien und Ritualen, als Geldwert,(5) für medizinische und sanitäre Zwecke, für Unterhaltung und Vergnügen. Als Schriftträger wurde Papier wahrscheinlich nicht vor dem Beginn des 1. Jahrhunderts verwendet und ersetzte auch dann die herkömmlichen Bambus- und Holzstäbe und teure Seide nur langsam. Als Rohmaterial dienten u.a. Hanf, Jute, Flachs, Bambus, Rattan, Baumwolle, Sandelholz und vor allem die Papiermaulbeere. Tinte aus Ruß wurde vermutlich sehr früh in vielen Kulturen verwendet.(6)

Während der Han-Dynastie (-206 bis 220), in der sich die Schriftzeichen (han-zi) im wesentlichen in ihrer Form stabilisierten, verbreitete sich der chinesische Kultureinfluß über die koreanische Halbinsel hinein ins nördliche Kyûshû. Koreanische Einwanderer brachten Naßreisanbau, Metallbearbeitung, Weben und andere Handwerkstechniken nach Japan, die den Wandel zu einer seßhaften, agrarischen Kultur förderten.(7) Mit dem Aufkommen des Eisengebrauchs für Waffen und Werkzeuge konnte Yamato, einer der japanischen Dorfstaaten, seine Machtbasis in Zentraljapan ausweiten und formte in der Mitte des 3. oder des 4. Jahrhunderts(8) den ersten locker vereinheitlichten Staat. Nach einer alternativen Theorie eroberte ein Reitervolk aus Korea Japan und vereinigte es.

Die erste Begegnung mit der chinesischen Schrift wird auf die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts geschätzt, als ein gewisser Wani (der auch im Kojiki selbst erwähnt wird) aus Korea zwei grundlegende chinesische Bücher, die Analekte des Konfuzius und den Tausend-Zeichen Klassiker, nach Japan brachte. Wani wurde zum Lehrer des Yamato-Thronfolgers und zum Urahn einer Gilde von Schriftgelehrten.(9) Die Schreibergilden (fumibe) dienten dem Adel als Präzeptoren und dem Staat in diplomatischen und finanziellen Angelegenheit und als Chronisten. Der erste verbürgte Lehrmeister für Papiermühlen und Tintenherstellung war 610 der koreanische Mönch Damjing (auf japanisch: Donchô).(10) Spätestens seit dem 7. Jahrhundert kamen auch chinesische Lehrmeister der chinesischen Schrift und Sprache an den Yamato-Hof.

Die T'ang-Dynastie (618-907) schuf eine kulturelle Sphäre, die sich nach Norden und Osten über die Mandschurei und Korea bis nach Japan, im Süden bis hinein nach Indo-China und westlich über Zentralasien erstreckte und den Verkehr mit der indischen und arabischen Welt aufnahm. Während dieser Zeit suchte Japan sich an dieses kosmopolitischste aller vormodernen Zeitalter in der chinesischen Geschichte anzupassen.(11) Innerhalb dieses Denkrahmens muß es als natürlich erschienen sein, die Gedächtnistechnik der überlegen wirkenden Kultur zu adaptieren. Die Japaner taten dies ebenso wie die Koreaner vor ihnen und die Mongolen, die Jurchen (Vorläufer der Mandschu), die Vietnamesen und andere asiatische Kulturen nach ihnen.



Die Schrift als System

Die Schrift traf natürlich nicht als isoliertes Symbolsystem zur beliebigen Verwendung ein, sondern war Teil einer Schriftpraxis, eines Systems von ethischen, religiösen, politischen, ästhetischen Formen, ein mit hohem Prestige versehener vorgängiger Schriftkorpus dessen, was man in dem Medium sagte und was man nicht sagte. Die koreanischen Schriftgelehrten brachten buddhistische und konfuzianische Bücher zusammen mit liturgischen Objekten und Kenntnissen über den Tempelbau. Um den literarischen Korpus der Fünf Klassiker (darunter das Buch der Wandlungen (I-ching)) hatte sich der Konfuzianismus bereits während der Han-Ära als idealer Prototyp von Gelehrtheit und Wissenschaft (Astrologie, kalendarische Astronomie, Mathematik und Medizin) durchgesetzt. Auf dem Nachweis seiner Beherrschung beruhte das Prüfungssystem für politische Ämter. Das chinesische politische Ordnungsystem, gegründet auf einer starken Zentralregierung mit ihrer hierarchischen Bürokratie, ihrem Verwaltungscodex und Beamtenprüfungssystem hatte einen prägenden Einfluß auf Japan und schuf einen Bedarf an einer Vielfalt von Dokumenten, z.B. Hausstandsregistern. Auch der Buddhismus, der sich in der späten Han-Periode in China verbreitete, wurde in staatliche Politik eingebunden und mit der Aufgabe eines Wächters von Frieden und Ordnung betraut. Die Tempel waren Orte einer regen Schreibtätigkeit. Für das Kopieren von Sutren wurden hunderttausende Bögen Papier benötigt.(12)

Ferner kamen mit der Schrift die Schreibwerkzeuge, die Pinsel, Papiere und Tinten, und die Schreibrichtung in Zeilen von oben nach unten und von rechts nach links. Ebenso wurde die althergebrachte chinesische Wertschätzung von Kalligraphie und Malerei als höchste der Künste übernommen und damit der Nachdruck auf die Untrennbarkeit von Schrift und Bild.



Die Schrift des Kojiki

"To say that something Japanese was 'originally Chinese' is at once to state the obvious and to explain nothing."(13) Die Adaption chinesischer Kultur setzte vielmehr eine komplexe Dynamik in Gang. Die Verschriftlichung des Japanischen mit chinesischen Zeichen forderte eine Transformation, die im Kojiki erstmals versucht wurde.

Nach einer tausendjährigen Geschichte war das chinesische Zeichensystem zum Zeitpunkt der Übernahme voll entwickelt. Die Mehrheit der hanzi waren keine Bilder oder Symbole mehr, sondern phonologographische Zeichen, in denen ein Bestandteil die Bedeutung, ein zweiter die Aussprache klassifiziert.(14)

Die hanzi waren aus einer gesprochenen Sprache hervorgegangen, die von der japanischen in Sprachtyp, Syntax, Lautsystem und Akzent vollkommen verschieden ist. So gehört das Japanische zu den agglutinierenden Sprachen (Flexionsformen werden duch das 'Ankleben' von Postpositionen gebildet), hat eine Subjekt-Objekt-Prädikat-Struktur und ein einfaches Lautsystem, vor allem aus Einzelvokalen und Konsonant-Vokal-Kombinationen, sowie Akzenten. Chinesisch dagegen ist eine isolierende Sprache (grammatische Beziehungen werden durch die Position der Wörter im Satz gebildet), hat eine Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur und ein tonales Lautsystem.(15) Aus diesen Unterschieden ergeben sich zahlreiche Schwierigkeiten bei der Verschriftlichung des Japanischen mit chinesischen Zeichen. Die bedeutungstragenden Tonhöhen des Chinesischen fielen weg, Einzelkonsonanten mußten durch Einfügung eines Vokals dem japanischen Lautsystem angepaßt, das Vokalsystem vereinfacht werden usw.(16)

Die ältesten erhaltenen chinesisch geschriebenen japanischen Texte sind eine Lotussutra (615), Schwert- und Steininschriften und ein Hausstandsregister (702). Das Kojiki wurde also nach mindestens hundert Jahren der Auseinandersetzung mit den Zeichen zu einem Zeitpunkt fortgeschrittener Schriftmeisterung verfasst. Es stellt den Versuch dar, das Wissen und die Sprache der Vorfahren angesichts der neuen Einflüsse vor dem Vergessen zu bewahren. Chinesische Zeichen wurden hier erstmals in einem langen Text benutzt, um gesprochenes Japanisch festzuhalten.

Yasumaro schrieb seine Einleitung zum Kojiki in elegantem Chinesisch, wie Pollack anmerkt, aus dem gleichen Grund, aus dem Dante seinem De Vulgari Eloquentia, einer Verteidigung des Schreibens in umgangssprachlichem Italienisch, eine lateinische Einleitung voranstellte. Wer gegen die herrschende Orthodoxie verstößt, muß zunächst die Beherrschung der Norm nachweisen.(17) In dieser Einleitung erläutert Yasumaro die Probleme des Unterfangens.

... in high antiquity both speech and thought were so simple, that it would be difficult to arrange phrases and compose periods in the characters. To relate everything in an ideographic transcription would entail an inadequate expression of the meaning; to write altogether according to the phonetic method would make the story unduly lengthy. For this reason have I sometimes in the same sentence used the phonetic and ideographic systems conjointly, and have sometimes in one matter used the ideographic record exclusively. Moreover where the drift of the words was obscure, I have by comments elucidated their signification.(18)

Ares Rede Wort für Wort in die semantischen chinesischen Äquivalente zu übertragen, wenn es diese gab, würde ihre Bedeutung nicht einfangen und war für die grammatischen Bestandteile des Japanischen ohnehin nicht möglich. Das Verfahren einer rein phonetischen Umschrift von Namen, Amtstiteln und anderen Wörtern aus fremden Sprachen war bereits in China üblich.(19) Auch die koreanischen Schreiber am Yamato-Hof versuchten, japanische Wörter phonetisch zu fixieren, und stützten sich dabei auf ähnliche Verfahren für das linguistisch verwandte Koreanisch.

Zur Auflösung der Inkompatibilitäten von japanischer Sprache und chinesischer Schrift wählte Yasumaro ein Mischsystem aus chinesischen Zeichen (auf japanisch: kanji), die der Bedeutung des japanischen Wortes entsprechen und japanisch gelesen wurden (kun yomi), und aus phonetisch entlehnten Zeichen, die unter Absehung ihrer Bedeutung (dem japanischen Lautsystem angepaßt) chinesisch gelesen wurden (on yomi). Diese zweite Methode wurde für Wörter benutzt, für die der Schreiber kein chinesisches Bedeutungsäquivalent fand (Namen, Amtstitel usw.), sowie für grammatische Bestandteile des Japanischen. Um Zeichen mit einer dem japanischen Lautsystem nahen Aussprache zu finden, wurden Chinesen als "Professoren für chinesische Aussprache" am Hof beschäftigt.(20) Eine Ausnahme bilden die Lieder im Kojiki, die Silbe für Silbe mit lautwertigen Zeichen notiert sind.

Durch Konventionalisierung der lautwertlich für je eine Silbe verwendeten kanji bildete sich im Folgenden ein begrenzter Bestand von Zeichen, die nach der Gedichtsammlung Man'yôshû aus der Mitte des 8. Jh. Man'yôgana genannt werden. Daraus entstanden Anfang des 9. Jahrhunderts durch Kursivierung und Vereinfachung zwei echte Silbenschriftsysteme. Die katakana wurden vor allem von Mönchen zur Glossierung buddhistischer Texte verwendet. Die runderen hiragana wurden von adligen Damen geschrieben und daher auch als "Frauenhandschrift" bezeichnet.(21) Mit dem berühmten Genji Monogatari, von der Hofdame Murasaki Shikibu im 10. Jahrhundert in hiragana und gesprochener japanischer Sprache (yamatokotoba) geschrieben, etablierte sich die neue Schrift in der Literatur, und damit auch die geschlechtsspezifische Trennung der Schrifträume: 'männlich', 'chinesisch', kanji und 'weiblich', 'japanisch', kana. Der Begriff Yamato-damashii (der "Geist Japans"), der im Genji erstmals auftaucht, markiert das kulturelle Spannungsfeld von China und Japan, in dem Japan sich in den kommenden Jahrhunderten situierte.(22)

Kana-Literatur wurde mit 'japanisch' und 'weiblich' assoziiert. Kanji-Literatur dagegen waren Zeichen der 'männlichen' Gelehrtheit, die sich an der Beherrschung 'chinesischer' Formen bewies: kanshi und kambun. Kanshi, Gedichte in klassischem Chinesisch gemäß einem klassischen Kanon von Formen, Wörtern, Zeichen und Themen markierten männliche Schriftgelehrtheit bis hinein in die Meiji-Zeit. Natsume Sôseki war Meister des kanshi, und die Tradition ist noch heute lebendig. Kambun mit chinesischen Zeichen und Grammatik ist der Stil für Prosaliteratur und Amtsschrift. Umkehrzeichen (kaeriten) neben den Zeilen erlauben als rein textuelle Operatoren, die Sätze in der japanischen Wortfolge zu lesen. Auch kambun wurde bis in die Meiji-Zeit geschrieben. Noch Mori Ôgai verwendete diesen Stil in seinen ansonsten modernen Erzählungen. Heute wird es noch immer in der Schule gelehrt, aber nicht mehr geschrieben.

Unter der Dominanz des kambun verstummte das Kojiki für fast eintausend Jahre. Das Manuskript wurde von der Shintô Priesterschaft aufbewahrt und erstmals 1644 in gedruckter Form neuaufgelegt.(23) Durch das Auseinandertreten von Zeichenräumen, Geschlechtern und kulturellen Orientierungen erschloß sich aus den Zeichen zwar weiterhin ein Sinn, aber ihre Lautung versuchte erst der nationalistische Gelehrte Motoori Norinaga in der Zeit von 1789 bis 1822 neu zu erfinden. Seine Bemühung galt der Reinigung dieses japanischen Ur-Textes von allen fremdartigen Überlagerungen. Damit erfand Norinaga eine Entgegensetzung von 'Reinheit' und 'Korrumpierung' der japanischen Sprache, die heute noch ein zentraler Topos der kulturellen Identitätsdiskurse ist.(24)



Die Zeichen des Japanischen

Fassen wir den Zeichenbestand des Japanischen, wie er im heutigen Mischsystem verwendet wird, zusammen: Es gibt zwei phonetisch identische, aber graphisch verschiedene, je 46 Zeichen umfassende Silbenschriften. Hiragana werden für die Flexionsendungen der Verben, für grammatische Elemente wie Kopula und Objekt- und Themamarker sowie für Begriffswörter, deren kanji außer Gebrauch gekommen sind, verwendet. Katakana dienen der Umschrift von westlichen Fremdwörtern, die sie deutlich als fremd aus dem Schriftbild hervortreten lassen, für Hervorhebungen sowie zur Niederschrift von Telegrammtexten. Dazu kommen chinesische und arabische Zahlzeichen, sowie das lateinische Alphabet (für Akronyme, z.B. "IBM"). Schließlich gibt es seit etwa hundert Jahren textuelle Operatoren wie Interpunktions- und Anführungszeichen.

Hauptbedeutungsträger sind einige tausend kanji. Der vom Bildungsministerium standardisierte, an den Schulen gelehrte Jôyô-Zeichensatz(25) enthält 1945 kanji. Sie sind für Tageszeitungen und andere allgemeine Schriftstücke verbindlich. Tatsächlich sind zum Lesen von Zeitschriften und Büchern aber über 3.300 kanji erforderlich.(26) In spezialisierter Literatur können darüber hinaus tausende weiterer Zeichen vorkommen.



Kanji

Kanji stehen in einem multivalenten Verhältnis von Zeichen und Bild, Zeichen und Lautung, sowie Hand und Auge. Kalligraphie und Malerei liegen im Einflußbereich des Chinesischen näher beieinander als in den alphabetischen Schriften, obgleich auch griechisch graphein und lateinisch scribere noch die Ambivalenz von Schreiben und Malen enthalten und die Trennung erst im europäischen Mittelalter vollständig vollzogen war.(27) Die Pinsel, Papiere und Tinten wurden für beides verwendet, die Handhaltung und der sensomotorische Vorgang sind identisch. Die "Kopfkissenbücher" des Mittelalters waren zum lauten Vorlesen und gemeinsamen Betrachten der Abbildungen gedacht, in einer noch grundsätzlich oralen Kultur, die sich der Schrift und des Bildes als Gedächtnisstützen bediente.

Die Schriftzeichen selbst sind nur in eingeschränktem Sinne Bilder. Neben rein piktographischen und logographischen kanji bestehen 90% des Inventars aus phonologographischen Zeichen, die sich aus einem begriffsbildenden Element (hen, Radikal) und einem lautbildenden Element (tsukuri) zusammensetzen. Dennoch behalten die kanji eine figürlich-assoziative Qualität. Bilder können z.B. kombiniert werden, um Notationen für neue Konzepte zu schaffen. "Chinese characters seem to carry with them richer substance and subtler overtones than the oral words they were designed to represent."(28) Wichtig ist die 'Farbe' und der 'Geschmack' eines kanji, nicht ihre stringente, also lineare Textur. Ein Bewegungsfluß, nicht ein abstrakter Silbenklang.

Das Japanische verfügt über ein Inventar von nur etwa 200 Lauten vor allem aus Einzelvokalen und Konsonant-Vokal-Kombinationen.(29) Daraus wird verständlich, daß das Japanische außergewöhnlich reich an Homophonen ist. Die Ambiguität der Wörter in der Rede wird dadurch aufgelöst, daß die Sprecher häufig Zeichen in die Luft oder die Handfläche malen. Auch bietet sie reiche Möglichkeiten für Wortspiele, die einen bedeutenden Teil des japanischen Humors ausmachen. Die Phoneme sind also gegenüber den Graphemen unterdeterminiert. Der geringen lautlichen Differenzierung steht eine komplexe graphische Differenzierung gegenüber, die für Neubildungen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten bietet.

Nicht nur in einer angeregten Unterhaltung wird man häufig sehen, wie kanji in die Luft oder die Handfläche gemalt werden, auch eine im Selbstgespräch versunkene Person kann man dabei beobachten. Die Funktion dieser Geste ist also nicht nur die kommunikative der Disambiguierung von Homophonen. Das individuelle Schriftgedächtnis selbst beruht auf einer kinetisch-motorischen Speicherung. Ein kanji besteht aus bis zu 60 einzelnen Strichen. Wörter werden nicht als abstrakte, unkörperliche Einheiten memoriert. Sie sind - zumindest auch - auf eine kinetisch-motorische Weise gespeichert, als ein Bewegungsfluß der Pinselspitze von Strich zu Strich.(30) Nicht "Es liegt mir auf der Zunge", sondern "Ich hab's im Handgelenk". Das japanische Denken ist wie in einem Spinnengewebe zwischen den Strichen der Zeichen vertäut. Ohne ihren Fluß wird die Welt un(be)greifbar.

 

 

1. Chamberlain 1981: v f.

2. Hinweise auf Schriftgebrauch in Japan datieren aus dem 5. Jahrhundert Auch war es ja gerade die Unzuverlässigkeit älterer Chroniken, die Temmu veranlaßte, Are mündlich zu unterweisen.

3. Sugimoto/Swain 1989: 7

4. Tsien 1985: 10

5. Wahrscheinlich ab Beginn des 9. Jahrhunderts [Ebd.: 96 ff.]

6. In Ägypten ist sie für -1300 nachgewiesen.

7. Sugimoto/Swain 1989: 2

8. Es gibt Argumente für beide Zeitpunkte.

9. Tsien 1985: 331; Pollack 1986:24

10. Tsien 1985: 331

11. Sugimoto/Swain 1989: 6

12. Tsien 1985: 333

13. Pollack 1986: 55

14. Lewin 1984: 1755

15. Weitere Unterschiede existieren in der Kasusbildung, den Nominalformen und Konjunktivbildungen von Verben, den Demonstrativa und Personalpronomen.

16. Corff 1991: 34

17. Pollack 1986: 41

18. Chamberlain 1981: 5

19. Ein literater Chinese las jedoch unweigerlich auch den semantischen Wert der Zeichen mit. Beispielsweise findet sich in dem im 3. Jahrhundert kompilierten Buch Wei in einem Abschnitt mit dem Titel Beschreibung der Ostbarbaren - Über die Wo-Leute der Beamtentitel beigou. Dieser läßt sich phonetisch als die japanische Ehrenbezeichnung piko (hiko) identifizieren. In den gewählten Zeichen drückt sich jedoch die Herablassung über die "zwergwüchsigen Ostbarbaren" aus. Die Grapheme für bei gou bedeuten wörtlich "niederer Hund." [Corff 1991: 20]

20. Lewin 1984: 1756. Für detaillierte Beispiele, s. Pollack 1986: 28 ff.

21. Lewin 1984: 1757

22. Pollack 1986: 58

23. Chamberlain 1981: x

24. Pollack 1986: 45 ff.

25. "Zeichen für den täglichen Gebrauch", die 1981 den Tôyô-kanji-Zeichensatz von 1946 ersetzten.

26. Lewin 1984: 1767

27. Vgl. Wenzel 1996: 53

28. Pollack 1986: 6

29. Anders als das monosylabische Chinesisch werden japanische kanji mit einer, häufig zwei, selten mehr als vier Silben gelesen, wobei die on-Lesung meist ein- oder zweisilbig ist. Der karge phonologische Grundbestand gewinnt also durch Mehrsilbigkeit ähnlich wie in indoeuropäischen Sprachen an Differenzierungsvermögen.

30. Dies bezieht sich nicht auf vollständige kanji, die zwei oder mehr graphische Muster (als hen oder tsukuri) kombinieren. Neben einem Durchfließen der Hand durch eine Strichfolge gibt es also immer auch eine optische Mustererkennung.

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last uptdate 03-01-02