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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Warum keine Typographie?

 

 

Die chinesische Innovation, die durch Gutenberg in Europa ein neues Zeitalter einleitete, war in Japan, wie gesagt, bekannt und fand in China und Korea und zwischen 1590 und 1650 auch in Japan breite Anwendung. Der Bedarf nach Gedrucktem nahm mit dem seit Ende des 17. Jahrhunderts ständig wachsenden säkularen Buchmarkt zu. Man könnte also vermuten, daß ein wirtschaftlich-technischer Druck bestand, der die bereits eingeführte 'rationalere' Technik verbreiten und stabilisieren würde. Dennoch verschwand die Typographie in Japan wieder, und zwar vollständig. Bis zur Einführung westlicher Druckpressen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde fast ausschließlich Holzziegeldruck verwendet.

Die naheliegende Erklärung dafür ist, daß sich der große Zeichenbestand des Japanischen nicht für den Typendruck eigne.(1) Tausende von Zeichen, jeweils mehrere Typen für häufig vorkommende Zeichen und Typen in verschiedenen Größen machen einen Setzkasten mit einem gewaltigen Umfang nötig. Zahlen für die in Japan verwendeten Typensätze sind nicht bekannt, doch Tsien nennt 200.000 für das Chinesische nicht ungewöhnlich.(2) Für die Erstellung eines Zeichensatzes war somit eine gewaltige Anfangsinvestition notwendig. Dem standen die geringen Kosten für Holzblöcke und Arbeitskräfte entgegen. Ein Meister-Holzschneider konnte seine Produktion erhöhen, indem er nur die Feinarbeiten selbst machte und größere Flächen von Gesellen mit dem Beitel entfernen ließ. Für das Auswählen der richtigen Typen und das Einsortieren in den Setzkasten nach dem Druckvorgang dagegen waren geschulte Arbeitskräfte mit erheblichen linguistischen Fertigkeiten notwendig.

Ein Wettlauf zwischen Typensatz und Holzschnitt hätte wohl ergeben, daß, alle Arbeitsgänge eingeschlossen, die Zeitersparnis gering war. Der Hauptvorteil von Metalltypen gegenüber Holzdruck ist die höhere Druckauflage. Diese setzt einen großen Lesermarkt voraus, der ja in der Edo-Periode gegeben war. Allerdings kommt der Vorteil nur zum Tragen, wenn die große Auflage in einem Arbeitsgang gedruckt wird. Sind die Typen erst wieder in den Setzkasten einsortiert, verdoppelt sich der Aufwand für neuerlichen Satz und Korrekturen. Holzstöcke dagegen können aufbewahrt und eine Neuauflage von einigen Dutzend Exemplaren bei Bedarf gedruckt werden, was der üblichen Verlagspraxis in China wie in Japan entsprach. Die Blöcke stellten also einen bleibenden Wert dar. Sie wurden verkauft, neueditiert, dabei Änderungen vorgenommen, z.B. der Namen des früheren Verlegers gelöscht oder Gedichte aus Abbildungen entfernt. Die Blöcke wurden restauriert und standen über Generationen zur Verfügung.

Nicht zuletzt sprechen ästhetische Gründe für den Holzschnitt. Mit standardisierten Typen war eine künstlerische Kalligraphie oder die Handschrift des Autors nicht wiederzugeben. Ein Holzschnitt nach dem Manuskript des Autors reduzierte außerdem die Möglichkeit von Fehlern beim Satz und beim Korrekturlesen. Illustrationen können im selben Arbeitsgang und auf demselben Druckstock frei mit Text gemischt werden. Ein Holzblock bietet eine ebene Druckfläche, die anfangs mit beweglichen Lettern noch nicht erzielt werden konnte. Schließlich nahmen Metall- und Tontypen die verwendeten wasserhaltigen Druckfarben nicht gut an, was wiederum zu einem uneinheitlichen Druckbild führte.

Zusammenfassend läßt sich ein tiefgreifender Wandel der japanischen Gesellschaft in der Zeit der Abschließung konstatieren, in dem die Druckkunst eine wichtige Rolle spielte. Das Druckmonopol der Tempel geht zu Ende, kommerzielle Verleger beherrschen das Feld seit dem 17. Jahrhundert, denen meist auch die regierungsamtlichen Druckaufträge für Bildungstexte und Klassiker übertragen wurden. Die neue Kunst bedient ein gebildetes urbanes Lese- und Publikationsinteresse aller Klassen. Die Zirkulation von Büchern ist der westlichen Gutenbergianischen Publikationswelt der Zeit mindestens ebenbürtig. Doch führt die Druckvorlagenherstellung nicht zur Einführung eines diskreten typographischen Zeichensatzes. Die mechanische Reproduktion von Wort und Bild treibt nicht die Abstraktion von der schreibenden Hand voran.

 

 

1. Eine andere naheliegende Erklärung kann für diese Zeit und für Japan nicht überzeugen: Als der Buchdruck zum ersten Mal in China erfunden wurde, "übte er dort keinen größeren, geschweige denn revolutionären Einfluß aus - weil es dort eben keinen Kapitalismus gab." [Anderson 1996: 225]

2. Tsien 1985: 220

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last uptdate 03-01-02