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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

2.2. Der mediale Horizont: Schrift, Druck, Boten

 

 

Der folgenreichste Schritt am Beginn der Edo-Zeit war die Entscheidung der Daimyô, die lokalen Militärherren und ihre Truppen von ihren Stützpunkten in den Dörfern zu trennen und in die Burgenstädte zu holen. Händler und Handwerker folgten ihnen. Diese Trennung förderte Spezialisierung und Innovationen in Technologie, Kunst und Wissenschaft, in Warenproduktion und Handel. Unter Iemitsu, dem dritten der Tokugawa-Shôgune, wird der Militärcodex der Samurai revidiert, der jetzt der Kultivierung von Disziplin, Loyalität und Verwaltungskompetenzen diente. Bildung für diese Krieger-Beamten bedeutete das Studium der chinesischen Klassiker. Sie bildeten die Klientel der konfuzianischen Gelehrten, deren Zahl durch die Förderung der Tokugawa schnell anwuchs. Das Schogunat stellte eigene konfuzianische Lehrer in nationalen Akademien ein und förderte Druck und Bibliotheken. Viele Daimyô folgten dem Beispiel und richteten Lehensschulen (hankô) ein. Die Kinder der Samurai erlernten dort literarische Fertigkeiten, die zahllosen Zeremonialregeln (darunter die Anlässe, die einen rituellen Selbstmord verlangten), Kalenderkunde mit den glücklichen und unglücklichen Tagen für bestimmte Aktivitäten, etwas Mathematik und körperliche Ertüchtigung. Mädchen wurde Haushaltsführung und Literatur beigebracht.

Eine Erbschaft des späten Mittelalters war die Abschließung von Wissen, Künsten und Techniken im iemoto-System der 'Hauslehre' (kagaku), in dem sie geheim als offizielles Monopol innerhalb einer Adelsfamilie weitervererbt wurden.(1) Die erbliche Weitergabe von Wissen und Ämtern "... ordered hierarchically according to their value to the ruling elite, characterized every sector of public life - the economy, politics, social structures, the arts and learning."(2)

Neben dem staatlich sanktionierten öffentlich wirksamen Geheimwissen beispielsweise in Astronomie (das Monopol der Tsuchimikado Familie) gab es in den Städten eine Vielzahl privater Schulen, die konfuzianische Klassiker, Mathematik, Medizin, Ikebana oder Teezeremonie unterrichteten. Zu ihren Gönnern und Schülern gehörten außer den Samurai auch Rônin und Kaufleute, für die die privaten Akademien den Zugang zu Karrieren außerhalb der erblich weitergereichten Berufe eröffneten.(3) Akademien und Schulen hatten einerseits Ansehen genug, daß sie zuweilen die Politik beeinflussen konnten, und bewahrten doch zugleich eine gewisse Autonomie gegenüber den institutionellen Angelegenheiten, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.

Der Tempel oder Schrein war die zentrale Einrichtung, um die das Dorf sich organisierte. Sie waren Zentren des Wissens und zu einem gewissen Grad Knotenpunkte in einem Netz von Informationsflüssen, da sie wandernde Priester aus anderen Provinzen aufnahmen. Tempelschulen (terakoya), in denen Priester oder Samurai unterrichteten, gab es in den meisten Gemeinden. Dort lernten Kinder beiderlei Geschlechts Schreiben, Lesen, die Verwendung des Abakus (soroban) und die Grundzüge der japanischen Geschichte. Die Literalitätsrate gegen Ende der Edo-Periode wird auf 40% geschätzt (mit einem naheliegenden Gefälle zwischen Stadt und Land), was der höchsten der Welt zu dieser Zeit entsprechen würde.(4) Die meisten Menschen sollen zumindest in der Lage gewesen sein, ihren Namen zu schreiben, obgleich für Zwecke der verbindlichen Legitimation auch Fingerabdrücke verwendet wurden. Die heute übliche Praxis der Authentifizierung mit Hilfe registrierter Namensstempel (hanko) wurde damals nur von Literaten, Malern und Kalligraphen verwendet.(5) Ferner gab es Ausbildungen für Handwerk und Handel.

Während der sakoku-Periode (1636-1854) der Tokugawa-Herrschaft beruhte alle Tele-Kommunikation auf dem physischen Verkehr von Menschen und Waren. Die Netzwerkinfrastruktur bestand vor allem aus den fünf großen Landstraßen, die von Edo ausgingen, den von ihnen verzweigenden Straßen und aus Schiffahrtsstraßen. Eine Momentaufnahme auf dem Tôkaidô oder einer der anderen großen Landstraßen der Edo-Zeit würde Vertreter von drei Flüssen und Richtungen ergeben haben: politisch motiviert/erzwungen reisten die Daimyô mit ihren ausgedehnten Eskorten nach Edo und zurück, darunter auch einmal im Jahr die Niederländer aus Deshima und Bürokraten auf ihren Inspektionsreisen aus Edo und zurück; kommerziell motiviert waren die Bewegung von Händlern und Waren auf das Zentrum Osaka zu, und religiös motiviert die Bewegungen von Pilgern nach Ise und anderen berühmten Schreinen und Tempeln. Ferner wären auf einem solchen Schnappschuß Botenläufer (hikyaku) zwischen zwei Poststationen aufgetaucht, reisende Priester, Handwerker und Schausteller sowie Nichtseßhafte wie rônin und Menschen, die aus ihrer lokalen Gemeinschaft ausgestoßen wurden.

Der Verkehr verlief zu Fuß und dementsprechend langsam. An zahlreichen Paßstellen mußten Papiere vorgezeigt werden. Gasthäuser und Poststationen waren Vermittlungsstellen für Information, an denen Gerüchte, Klatsch, Lieder und Tänze, Märchen und buddhistische Geschichten ausgetauscht wurden. Der Verkehr zwischen den Individuen wurde durch ihre Klassen- und Organisationszugehörigkeit geregelt.

Der Horizont des einfachen Volkes wurde wesentlich von nicht-medialer, oraler Kommunikation bestimmt. Diese war zentriert auf die lokale Gemeinschaft (der Friseur (kamiyuidoko(6)) und das öffentliche Bad (sentô) waren hier wichtige Informationsschaltstellen), aber reichte durch den zunehmenden Reiseverkehr weit über die Grenzen des eigenen Lehensgebietes hinaus.

Zu den relevanten darstellenden Künsten der Zeit zählten Kabuki, Bunraku, Nô und verschiedene Formen, die im yose präsentiert wurden, einem Vaudeville-artigen Variété.(7) Alle von ihnen - zu einem großen Maß selbst Nô, obgleich vor allem Priester und Samurai es schätzten - hatten ihre Wurzeln im Leben der gewöhnlichen Menschen.(8) Bei diesen Künsten handelte es sich um Unterhaltung, doch mit ihren historischen Gegenständen und moralisch erbaulichem Charakter stellten sie auch eine Form von Bildung dar. Kabuki und Bunraku verkörperten das Prinzip von kanzen chôaku ('Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen'), das sich zeitgleich auch in Shakespeares Globe Theater fand. Daher wurden sie vom Bakufu als der ethischen Bildung der allgemeinen Öffentlichkeit dienlich ermutigt. Die Unterstützung der Autoritäten zeigte ihre generelle paternalistische Haltung: Die Menschen seien ignorant, daher habe die Obrigkeit die Aufgabe, sie auf vernünftige und kluge Weise auf den Pfad der Tugend zu führen. Bildung bestand aus Lehre und Erklärung von oben, nicht aus der Pflege von Neugier und Entdeckungsgeist. Kabuki entstand aus dem Volk als deftige Unterhaltungsform. Das Bakufu erließ Vorschriften, um den Inhalt der Stücke zu kontrollieren. Das Groteske und Obszöne sollte ausgelöscht und die Moralität des kanzen chôaku gefördert werden. Daher muß Kabuki auch verstanden werden als ein wohlüberlegter Kommunikationskanal zu einer bestimmten urbanen Zuschauerschaft.(9)

Es gab drei Mediensysteme im engeren Sinn: hikyaku (Postläufer), Geld und Druckerzeugnisse. Entlang einer klaren Linie von Top-down-Kommunikation (jôi-katatsu - "der Wille dessen an der Spitze erreicht diejenigen zuunterst") wurden vom Bakufu an die Daimyate und weiter an die Dorfvorstände geschriebene oder gedruckte Dekrete durch Gesandte oder hikyaku geschickt. In umgekehrter Richtung floß Rückkopplungs- und Kontrollinformation an das Machtzentrum.

Die Netze der Geldökonomie (einschließlich früher Formen des Bankwesens und einer Futures-Börse) wurden seit Mitte des 17. Jahrhunderts etabliert und erstreckten sich annähernd landesweit. Ihre Übertragungskanäle waren dieselben wie die für Waren, vor allem Schiffahrtsrouten, und seit dem frühen 18. Jahrhundert nachdem das zusammengebrochene staatlich betriebene Kuriersystem durch ein kommissioniertes privates ersetzt worden war, auch durch hikyaku.

Ein kommerzielles Verlagswesen für einen hochgradig literalen urbanen Markt boomte seit dem 18. Jahrhundert. Bücher, Pamphlete und Flugblätter (kawaraban) verbreiteten Poesie, religiöse Erbauung und vor allem Unterhaltung (Sensationen, human interest, Humor und Sex).

 

 

1. Sugimoto/Swain 1989: 116 ff.

2. Ebd.: 167

3. Am Ende der Tokugawa-Zeit gab es mehr als 200 hankô, etwa 1500 private Schulen aller Art und tausende von terakoya, die in der Regel nicht mehr mit dem Buddhismus assoziiert waren (Sugimoto/Swain 1989: 295).

4. "... by the late eighteenth century almost everyone in Edo could read and write." (Moriya 1991: 120)

5. Mündliche Information von Murakami Y.

6. Alle Männer gingen jeden oder jeden zweiten Tag zum Friseur, um sich die Wangen und den Kopf rasieren und die Knotenfrisur legen zu lassen. Neuigkeiten über einen Selbstmord oder einen Einbruch verbreiteten sich hier in kürzester Zeit.

7. Ein Abend im yose umfasste Vorführungen von rôkyoku (Balladen aus Osaka), kôdan (Vorträge von Geschichten meist über historische Begebenheiten mit der Neigung zum Moralisieren), manzai (amüsante, oft scharfzüngige Dialoge), Jongleuren und populären Liedern.

8. Morioka/Sasaki 1990: 1

9. Mündliche Information von Murakami Y.

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last uptdate 03-01-02