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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Radio

 

 

Radio bildet drei distinkte Medien aus: ein Komunikationsmittel von militärischem Kommando und Kontrolle, Amateurfunk und seit 1925 Rundfunk als öffentliches Monopol. Die Art und Weise, wie die verschiedenen Medienkonfigurationen Menschen miteinander in Beziehung setzen, sind grundlegend verschieden. Während Rundfunksendungen Einwegkommunikationen eines Zentrums an alle sind, handelt es sich bei den ersten beiden um Zweiwegkommunikationen. Die hierarchische Kommandostruktur eines militärischen Apparates ist ebenfalls zentralisiert. Von hier gehen die Befehle aus, über den Rückkanal erhält das Zentrum Kontrollinformation über die Lage auf dem vorgeschobenen Posten. Amateurfunk erlaubte zum ersten Mal eine Kommunikation von vielen an viele, und damit konnten sich Gemeinschaften ausschließlich innerhalb eines elektrischen Mediums bilden. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Radios drückten sich auch in interministeriellen Streitigkeiten über seine Kontrolle aus.

Unmittelbar nach der Erfindung des drahtlosen Telegraphen durch Guglielmo Marconi 1896 begannen das Elektrotechnische Labor (ETL) des Kommunikationsministeriums sowie die Marine an der Anwendung und Verbesserung dieser Technologie zu forschen. Im Dezember 1897 gelang dem ETL das erste Experiment, und 1903 wurden Funksignale zwischen Nagasaki und Taipei über eine Entfernung von 630 Seemeilen gesendet.(1) Drahtlose Telegraphen fanden Anwendung bei der Kommunikation zwischen Hafen und Schiffen und zwischen Schiffen untereinander. Die Kaiserliche Marine etablierte eine Torpedoschule (suirai gakkô) in Yokosuka, wo die Ausbildung von Technikern und Experimente mit Funktechnologie stattfanden. Das Kommunikationsministerium, dem jegliche Form von Kommunikation unterstand, entsandte Inspektoren auf jedes Schiff, um seine Funkausrüstung zu genehmigen. Auch die Armee, die Funk für die Kommunikation mit ihren Flugzeugen einsetzen wollte, richtete eine ähnliche Schule (shimushizu gakkô) ein. Das erste in Japan am ETL entwickelte Funkgerät wurde im russisch-japanischen Krieg eingesetzt. Zunächst gab es Absichten die Ausrüstung von der britischen Marconi zu kaufen, doch der Preis von einer Million Yen machte dies unmöglich.(2) Dank der drahtlosen Kommunikation konnte ein Patrouillenboot Meldung davon machen, daß es die russische Baltikflotte vor Kyûshû entdeckte hatte, was zum Sieg von Admiral Tôgô Heihachirô in der Schlacht von Tsushima von 1905 führte.(3)

1907 begann das ETL mit der Erforschung der drahtlosen Telephonie. Vier Jahre später gelang das erste Experiment. 1912 wurde das TYK-Radiotelephon (benannt nach den Initialen der drei Erfinder) patentiert und sorgte auf den Weltausstellungen in San Francisco und New York für Aufsehen. 1914 begannen Experimente mit der acht Jahre zuvor von Lee de Forest erfundenen Triode. Vakuumröhren-Detektoren wurden erstmals 1916 zwischen Japan und Hawaii erprobt. Ein Jahr darauf wurden die ersten Röhren in Japan hergestellt.(4)

Das 1915 verabschiedete Gesetz über drahtlose telegraphische Kommunikation besagte, daß alle Radiogeräte vom Kommunikationsministerium lizenziert werden müssen und aller Funkverkehr der staatlichen Kontrolle unterliegt.(5) Die früheste Generation von Funkentransmittern wurde von Amateuren noch nicht verwendet. In den 1910ern bauten die ersten von ihnen eigene Radios, um das Zeitsignal und Wetterberichte, die das Kommunikationsministerium ausstrahlte, zu empfangen. Eine Lizenzierung von Amateurfunkern begann 1922. Die erste Lizenz ging an Hamachi Tsuneyasu, einen Erfinder mit einem eigenen Elektrolabor, der kurz darauf die Zeitschrift Rajio herausgab. Das Kantô-Erdbeben zerstörte sein Labor und machte deutlich, wie hilfreich ein funkgestütztes Kommunikationssystem in einem solchen Notfall sein könnte.(6) Die Zahl der Radioamateure stieg nach dem Erdbeben vor allem in der Kansai-Region. Die meisten Amateure waren in ihren Zehnern und Zwanzigern, aber auch ältere Menschen nahmen dieses Hobby im Bereich der Hochtechnologie auf. Die meisten bauten ihre Geräte und Antennen selbst. Zeitschriften wie Shônen to Musen ('Jugend und drahtlose Telegraphie') lieferten die nötigen Informationen. Nur die Reichen konnten sich ein importiertes Radio (z.B. von RCA) leisten, da sein Preis dem doppelten dessen entsprach, was damals ein Haus kostete. Nur experimentelle Aussendungen von Wetter- und Temperaturinformationen sowie Mitteilungen über die verwendete technische Ausrüstung waren erlaubt. Es durfte nur zu festgelegten Zeiten gesendet werden (14-16:00, 18-20:00 und 22-24:00) und die Inhalte wurden überwacht. Jede Abweichung von den Vorschriften über Sendeinhalte, aber auch die Tatsache, daß jemand zu schnell für die Zensoren morste, konnte zu Verwarnungen und sehr schnell zur Einziehung der Lizenz und einer Geldstrafe führen. Die Verwendung von Kurzwellen erforderte eine Sonderlizenz. Zur Kommunikation wurden Morse-kodierte englische Kürzel verwendet. Funkamateure trugen auch zur technischen Entwicklung bei, z.B. durch Erfindungen, die die Zahl der benötigten Röhren und Energie reduzierten. Anfangs wurde die Anlagen mit Feucht- dann mit Trockenbatterien betrieben. Mit der Erfindung des Sperrkreises konnte auch Netzstrom verwendet werden.(7)

Anfang der 1920er gab es rund 50.000 Amateurfunker in Japan.(8) Um die damals fortgeschrittenste aber zugleich allen Interessierten offenstehende Technologie bildete sich eine Subkultur von Radio-Hobbyisten und Bastlern, die in vielem der Hacker-Subkultur glich, die in den 1950er Jahren in den Computerlabors amerikanischer Universitäten aufkam. In dem Gefühl, an einem populärwissenschaftlichen Abenteuer teilzuhaben und in der Anerkennung, die sich ihre Mitglieder für technische Meisterschaft zollten, bildete sich eine verschworene Gemeinschaft, die über Clubs, Zeitschriften und vor allem natürlich über den Zweiweg-Schmalfunk selbst kommunizierte. Für Ansätze zu einer sozialistischen Arbeiterradiobewegung oder andere politische Alternativkommunikation gibt es jedoch keine Anzeichen. Die Amateurfunker hielt vor allem das Interesse an der Technologie zusammen. Die Kanalmetapher aus der Amateurfunkwelt ist heute in den Internet Relay Chat eingegangen. Die Parallelen in der bottom-up-Emergenz führen Mizukoshi Shin, Assistenzprofessor am Institut für Sozio-Information und Kommunikationsstudien (shakai jôhô kenkyûjo) der Tokyo Universität dazu, die Amateurfunkbewegung der Taishô-Zeit als das "Internet des frühen 20. Jahrhunderts" zu bezeichnen.(9) Fach- und Publikumszeitschriften stellten das demokratische Potential des Radios und seine Fähigkeit heraus, den freien Fluß von Ideen und Kulturen zu fördern. Neben der professionellen Anwendung in der Seekommunikation, über die die Presse gelegentlich berichtete, wurde das öffentliche Verständnis dessen, was Radio ist, vor der Gründung des Rundfunks von einer solchen viele-an-viele-Struktur bestimmt. Radio war in seinen Gründungsjahren ein partizipatorisches Medium, aus dem dann NHK erst durch eine Kampagne ein Empfängermedium für eine passive Hörerschaft formen sollte. Dazu gehörte, daß NHK das Radio als zu gefährlich und zu kompliziert für gewöhnliche Leute darstellte und nicht-lizenzierte Hörer als unsozial.(10) "Die Phase, in der man auf einem populären Niveau mit einem neuen Medium experimentieren kann, ist sehr kurz."(11)

Die ersten Experimente für eine kommerzielle Nutzung der drahtlosen Telephonie wurden 1919 von der Tageszeitung Shin Aichi durchgeführt.(12) Als dann 1920 in Pittsburgh die erste reguläre Rundfunkstation der Welt den Sendebetrieb aufnahm, gefolgt von zahlreichen Radiogründungen in den USA und Europa, begann das Interesse unter Geschäftsleuten und Technikern auch in Japan zu wachsen. Es waren vor allem Amateurfunker, Elektrogerätehersteller, Zeitungsverlage und einige Geschäftsleute, die sich dafür engagierten. 1922 wurden verschiedene experimentelle Aussendungen durchgeführt. Seit Beginn der 20er stellten japanische Unternehmen wie Oki, Annaka (später in Anritsu umbenannt) und Nihon Musen Radiogeräte besonders für die Seefahrt her.

Das Kommunikationsministerium reagierte auf dieses "Radio-Fieber", indem es zunächst die gesetzlichen Grundlagen für eine 'stabile Einführung des revolutionären neuen Kommunikationsmediums' erarbeitete. Die offizielle Geschichte des Radios von NHK charakterisiert die Denkweise der Zeit (und in der Formulierung unfreiwillig auch deren Kontinuität) sehr trefflich:

At that time, the ideology of democracy was sweeping across Japan. The traumatic transition from feudal to modern state, however, was being carefuly guided by the government, which continued to exercise strict control in many fields.

Initially, government officials had favored a system of approving private enterprise organization and management of radio broadcasting services. There was, however, a gradual strengthening of the opinion that a public medium with such hypothetically unlimited influence would be dangerous if established under a formula uncontrollable by the state. At that time, government officials were nervous at the spread of Communist ideology among the people, and worried that an uncontrolled radio system might be used to permeate Japanese society with leftist thought.(13)

Das Gesetz über drahtlose telegraphische Kommunikation von 1915 war nicht im Hinblick auf den Rundfunk geschaffen worden. Ein neues Gesetz wäre der logische Schritt gewesen, doch das Ministerium interpretierte das bestehende Recht spitzfindig dahingehend um, den Rundfunk zu regulieren. Es wollte eine parlamentarische Beratung unter allen Umständen verhindern, u.a. da es eine Manipulation von Abgeordneten im Interesse ihrer Wählerklientel befürchtete.(14) Die innerministerielle Debatte drehte sich in erster Linie darum, ob das neue Medium staatlich oder privat betrieben werden sollte. In Europa und den USA hatte sich mit Ausnahme Deutschlands das private Modell durchgesetzt. Auch die begrenzten Haushaltsmittel ließen die Ministerialbürokraten vor einem Staatsfunk zurückschrecken. Anstelle eines landesweiten Monopols sollten regionale Klientele einbezogen werden, doch sollten die verschiedenen Bewerber sich zu einer einzigen regionalen Station zusammenschließen, um technische Interferenzen zu vermeiden und ihre Wirtschaftlichkeit nicht zu gefährden. Werbeeinnahmen wurden früh ausgeschlossen mit der schlüssigen Begründung, "commercials aim at the benefit of the advertiser and are rarely related to the general benefit of the listener."(15) Diejenigen, die Radios produzierten und diejenigen, die die Programme hörten, profitierten davon und sollten folglich Lizenz- und Hörergebühren dafür bezahlen.

Im Dezember 1923 erließ das Ministerium die "Vorschriften über private Radiotelephonie-Rundfunkeinrichtungen", die kurz darauf weiter spezifiziert wurden. Sie schrieben die Wellenlänge und den Senderadius der Stationen vor. Alle Programme mußten vor der Ausstrahlung den Zensurbehörden vorgelegt werden, wobei die Verbote des Publikationsgesetzes direkt Anwendung fanden. Musik und andere Unterhaltung sollte nur nachts und an Sonn- und Feiertagen erlaubt sein.(16) Beamte konnten die Ausstrahlung staatlicher Programme anordnen, und die Produktion von Radioempfängern bedurfte einer Genehmigung.(17)

Die ersten Anträge auf Sendegenehmigungen trafen 1921 beim Ministerium ein. 1923 waren es bereits 41 und bald darauf über 100. Die Linzenzbewerber protestierten gegen die staatlichen Regulierungsabsichten. In der 1924 gegründeten Zeitschrift Musen to jikken ('Drahtlose Technik und Experimente') traten sie für eine autonome Entwicklung des Radios und einen freien Wettbewerb verschiedener Stationen in jeder Region ein.(18)

1924 kam die Parteienregierung Katô an die Macht. Inukai Tsuyoshi, führender Parteipolitiker der Seiyûkai und Parlamentsabgeordneter seit 1890, wurde Kommunikationsminister. Er entschied für ein öffentliches Modell und gegen das Ministerium, das trotz aller Auflagen einen privatwirtschaftlichen, profitorientierten Rundfunk favorisierte. Die Kapitalgruppen in Osaka verwiesen darauf, daß das Gesetz über Unternehmen des öffentlichen Interesses immerhin Gewinne in Höhe von zehn Prozent der Investition zuließ, doch Inukai schloß auch diese Möglichkeit aus. Darauf schlugen die Osakaer Geschäftsleute ein profitorientiertes Unternehmen vor, das der öffentlichen Rundfunkanstalt durch Beschaffung von Ausrüstung, Eintreiben der Rundfunkgebühren usw. zuarbeiten sollte, doch auch dieser Plan wurde zurückgewiesen. Alle Investitionen sollten Spenden sein, die keinerlei Erträge liefern. Alle Gewinne aus Hörergebühren sollten in den Ausbau der Sendeinfrastruktur fließen. Es ist nicht bekannt, wieviele Investoren sich daraufhin zurückzogen und warum so viele es nicht taten. Einige mochten auf zukünftige Geschäftschancen gehofft haben, andere wurden offenbar davon überzeugt, ohne Eigennutz eine wichtige kulturelle Innovation zu unterstützen.(19)

Das Ministerium ordnete an, daß sich die Bewerber in den drei Städten Tokyo, Osaka und Nagoya zu jeweils einem Unternehmen des öffentlichen Interesses zusammenschließen sollten. Die Anerkennung dieses Status war an weitgehende Auflagen wie eine Genehmigungspflicht für Personal- und Finanzentscheidungen gebunden, die das Kommunikationsministerium ändern konnte, wann immer es das öffentliche Interesse gebot. Die Sendelizenz legte die technischen Eigenschaften, die Zensurbestimmungen und die Höhe der Rundfunkgebühren fest.(20)

Die Rundfunkanstalt in Tokyo wurde als erste im November 1924 etabliert. Ihr Präsident war der ehemalige Kommunikations- und Außenminister Shimpei Gotô. Der Vorstand war überwiegend mit Vertretern der Elektrogeräteindustrie und der Zeitungsverlage besetzt. Am 1. März 1925 nahm die Tokyoter Station mit einer modifizierten Radiotelephonie-Anlage von General Electric experimentell und am 22. März offiziell den Sendebtrieb auf.(21)

In seiner Eröffnungsansprache betonte Gotô den Nutzen des Radios für die Volksbildung, die Wirtschaft, die von schnelleren Informationen über Auslandsmärkte profitieren würde, und für die Überbrückung der Kluft zwischen Stadt und Land. Am auffälligsten erscheint jedoch die Umwertung des sozialen Orts von Familie und Haushalt.

... in private households, the husband of the house could receive various cultural benefits outside the home while his wife was left straggling behind. [...] People are apt to regard the house as only a place to sleep and eat, seeking their amusement outside the home. In the future, though, radio will transform the home into a center of family recreation, increasing peoples' awareness of the true meaning of a happy family life.(22)

Die Tokyoter Station hatte eine Sendeleistung von nur 220 Watt und eine Reichweite von 20-30 km. Beim Start hatten rund 3.500 Haushalte einen Hörerkontrakt abgeschlossen. In Osaka begann der regelmäßige Sendebetrieb im Juni mit einer 500 W-Anlage vom Dach eines Kaufhauses, und in Nagoya im Juli mit einem 1 kW-Sender. Empfangslizenzen wurden nur erteilt, wenn ein Hörerkontrakt mit einer Gebühr von einem Yen pro Monat abgeschlossen worden war.(23) Passive Kristallempfänger kosteten damals 10-20 Yen, ein einheimischer batteriebetriebener Röhrenempfänger 100-200 Yen und ein importiertes Radio rund 1.500 Yen.(24) Das Anfangsgehalt eines Grundschullehrers in Tokyo lag bei 25 Yen/Monat.(25)

Die drei Stationen waren anfangs technisch und organisatorisch unabhängig voneinander. Das Radio brachte überall die Vorstellung von einer grenzenüberschreitenden Völkerverständigung mit sich. Gotô formulierte die 'Inselnation'-Variante dieses Traumes folgendermaßen:

Ideally, all mankind should share a common culture, through a single organized radio network. Obviously, though, because of language and customs differences, this idea is unrealistic. Within Japan, on the other hand, the idea is practical. Stations throughout the nation should be organized into a unified network.(26)

Genau dies geschah. Das Kommunikationsministerium drängte die drei Unternehmen, sich zu einem einzigen zusammenzuschließen. Die Bürokraten argumentierten im Interesse einer schnellen Verbreitung des Radios im ganzen Land, die durch organisatorisch eigenständige, notwendig finanzschwächere, regionale Sender nicht gewährleistet sei. Die Ministerialbeamten bereiteten wiederum zwei Entscheidungsvorlagen mit einer privaten und einer öffentlichen Unternehmensform vor, und wiederum war es ein Parteipolitiker, der neue Kommunikationsminister Adachi Kenzô von der Minseitô, der sich für ein Unternehmen des öffentlichen Interesses entschied und damit für ein quasi-bürokratisches nationales Monopol unter Verwendung privater Gelder.(27) Gegen starken Widerstand vor allem aus Osaka, das auf seiner kulturellen Eigenständigkeit beharrte, wurde im August 1926 die Japanische Rundfunkanstalt (Nippon Hôsô Kyôkai, NHK) errichtet. Pensionierte Beamte des Kommunikationsministeriums wurden - unter heftigem, aber vergeblichem Protest aller drei Stationen und der beteiligten Zeitungen - als Direktoren eingesetzt. Adachi verwies vor einer Versammlung von Investoren auf die enorme Bedeutung dieses unübertroffenen Kommunikationsmediums für den Staat besonders in Notfallsituationen und erklärte das Radio zum großen Teil zu einer Staatsangelegenheit. Die Art, in der die britische Regierung den Rundfunk während des Generalstreiks im Mai 1926 eingesetzt hatte, war den Beamten ein wichtiges Vorbild.(28)

Das Ministerium wies NHK an, vier weitere Stationen zu errichten und sie durch ein Relaisnetzwerk zu verbinden, so daß landesweite Programme möglich wurden. Das Netz aus Funkstrecken und unterirdischen Kabeln wurde gerade rechtzeitig zu den Inthronisationszeremonien von Kaiser Hirohito im November 1928 fertiggestellt.(29) In einer mit peinlichster Sorgfalt vom Ministerium des kaiserlichen Haushalts vorbereiteten Inszenierung berichtete die Tokyoter Station von der Abfahrt des kaiserlichen Eisenbahnwaggons und übergab nach Nagoya, von wo aus über den Besuch des Kaiserehepaars im Ise-Schrein berichtet wurde. Die Station in Osaka übernahm schließlich die letzte Etappe mit den Zeremonien in Kyoto.(30) In den ersten Jahren behielten die regionalen Stationen eine gewisse Autonomie, doch der überwiegende Teil der Programme wurde durch das nationale Relaisnetz übertragen und ging von Tokyo aus.(31)

Die Tokyoter Station startete mit fünf Stunden täglichem Programm, das innerhalb des ersten Jahres auf acht Stunden ausgeweitet wurde. Es umfaßte Wettervorhersagen, Nachrichten, Berichte über Börsen- und Warenpreise, Haushaltskurse, Vorträge, Kindersendungen und schon ganz am Anfang einen Englischkurs.(32) Die an der Gründung der Stationen beteiligten Zeitungsverlage lieferten die Nachrichten. Diese hatten dann bereits die Pressezensur und die Zensur des Kommunikationsministeriums durchlaufen und durften von den Radioredakteuren nicht mehr bearbeitet werden. Selbst NHKs offizielle Geschichte vermerkt, daß sie im allgemeinen "fade und uninteressant"(33) waren. Auch der Wettbewerb unter den beteiligten Zeitungen und Befürchtungen, die Möglichkeit einträglicher Sonderausgaben an das schnellere Medium Radio zu verlieren, spielten dabei eine Rolle. Weiterhin gab es japanische und die damals noch nicht weithin populäre westliche klassische Musik, um deren Förderung sich NHK u.a. durch Subventionen an das Neue Philharmonische Orchester verdient machte.(34) Beliebt waren auch Vortragsformen wie Kôdan und das vergnügliche Rakugo sowie adaptierte Theaterstücke aus dem Kabuki und Bunraku. Vor allem aber dominierte wie im Film das Neue Theater (shingeki). Eines der ersten Hörspiele beruhte auf einem Stück des englischen Bühnenautors Richard Hughes und handelte von den Schrecken von Bergarbeitern, die nach einer Explosion in einem Stollen eingeschlossen waren. Da es in vollständiger Dunkelheit spielte, galt es als besonders geeignet für das Radio, und die Zuhörer wurden aufgefordert, während der Sendung alle Lichter zu löschen.(35) Nach anfänglichen Dünkeln der Autoren wurde Radioliteratur bald zu einem anerkannten Genre, in dem, wie auch im Film, Samurai-Stücke vorherrschten. 1927 vergab NHK Hörspielaufträge an zwölf namhafte Autoren für die damals beträchtliche Summe von je 500 Yen. Komische Sketche liefen unter dem Titel "mit Tönen gezeichnete Cartoons" (oto de kaita manga).(36)

Liveübertragungen über Telephonleitungen aus Theatern und Sportarenen begannen ebenfalls bereits in den ersten Jahren. Baseball- und Sumo-Veranstalter wehrten sich zunächst dagegen, bis sie feststellten, daß das Radio das Interesse an den Wettkämpfen und damit die Besucherzahlen erhöhte.(37) Die Zeitungen lieferten nicht nur die Nachrichten, sondern verbreiteten auf ihren Seiten auch die Vorstellung einer "Radio-Stimmung" (rajio kibun).(38) Das Radio berichtete über neue Kinofilme und Romane. Bald wurde es Teil einer Massenkultur, die sich in den Roaring Twenties aus Großspektakeln, Schallplatten, Kinofilmen, Zeitschriften, Werbung und Kaufhäusern bildete.

Intellektuelle waren sich der Macht der Agitation durch das Radio bewußt, doch die fade Machart, die reaktionäre Grundtendenz und der Mangel jeglicher Einflußmöglichkeit ließen sie sich resigniert von dem neuen Medium abwenden.(39) Zensurbeamte strichen nicht nur Wörter wie 'extrem' und 'absolut', sondern schrieben den Sprechern vor, ihre Stimme solle kalt und neutral sein.(40)

Jede Form von politischer Diskussion, einschließlich Parlamentsdebatten und Wahlkampfäußerungen, war im Radio untersagt. Dies entsprach der Vorstellung eines 'politikfreien' Rundfunks, wie sie auch in Belgien, England und Deutschland dieser Zeit vorherrschte, bedeutete aber natürlich nicht, daß die Regierung das Medium nicht für ihre Zwecke nutzte. Vor allem nach der Eskalation in der Mandschurei 1931, als China sich bemühte, die Welt von Japans Rolle als Aggressor zu überzeugen, starteten Ministerien und NHK eine Kampagne, um eine geeinte öffentliche Meinung in Japan herzustellen. Eine Vielzahl von Sondervorträgen, u.a. von Militärvertretern, wurde ausgestrahlt, Bildungsprogramme, Berichte über Truppenbewegungen und Gedenkgottesdienste sowie Sendungen für Kinder und Frauen, die zur Absicherung der Heimatfront mobilisiert wurden.(41) Die Macht zur Synchronisation von Massen hatte das Medium vielleicht am deutlichsten durch die 1928 eingeführten Anleitungen zum Frühsport unter Beweis gestellt.(42) Jeden Morgen um sieben Uhr versammelten sich Menschen auf den Schul- und Fabrikhöfen oder auf Schreingeländen, um der Stimme des Radios zu folgen. Während des Krieges dienten die Übungen dazu, die öffentliche Solidarität und den Kampfgeist zu schüren.

Durch die große personelle Nähe von NHK und Kommunikationsministerium lief die Kontrolle reibungsloser und informeller als im Falle von Presse und Film. Redakteure gaben mindestens eine Stunde vor der Sendung Zusammenfassungen der Nachrichten, Vorträge und Musikbeiträge telephonisch an die Zensurabteilung durch. Das Kommunikationsministerium, aber auch jede staatliche Institution, Armee und Marine, Landwirtschaftsministerium, das Ministerium des kaiserlichen Haushalts usw. konnten den Sendern direkte Order erteilen, in welcher Form und worüber nicht berichtet werden durfte. Das Innenministerium hatte schon 1925 Ansprüche auf das Zensurrecht über den Rundfunk angemeldet. 1928 brachte es vor, daß dies unter seine Aufgaben zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung fiele, doch wieder setzte sich das Kommunikationsministerium durch. 1926 ordnete es an, daß vor allem für Livesendungen NHK seine Sendeanlagen mit einem Ausschalter versah. NHK-Inspektoren, die über Telephon mit dem Ministerium verbunden waren, konnten so das Programm jederzeit unterbrechen. Entsprechend waren die Fälle, in denen kritische Äußerungen - die seit 1929 regelmäßig als 'Gedankenverbrechen' tituliert wurden - durch das enge Kontrollnetz in den Äther gelangten, extrem selten.(43)

Als 1931 eine zweite NHK-Frequenz für Bildungsprogramme hinzukam, sah sich das Bildungsministerium dafür zuständig, doch das Kommunikationsministerium setzte seine Alleinkontrolle durch. Der Streit schwelte über zehn Jahre weiter und führte dazu, daß erst 1935 Programme für Schulen ausgestrahlt werden konnten.

Ein Jahr nach Sendebeginn gab es bereits 258.507 gebührenzahlende Hörer. 1929 überschritt die Zahl eine halbe Million und 1932 eine Million.(44) Damit waren 25% der städtischen Haushalte, aber nur 4,5% der ländlichen an den Radioempfang angeschlossen. Im gleichen Zeitraum wuchs die Zahl der NHK-Stationen von drei auf 19, und die Zahl seiner Angestellten von 395 auf 2.249.(45)

Der Rundfunk entstand als ein vereinheitlichtes, zentralisiertes, quasi-staatliches Medium, das müheloser noch als Presse und Film zum idealen Instrument eines Militärregimes gemacht werden konnte. Katôs bündiges Fazit: "In a word, Japanese radio began as a means of propaganda and emergency information."(46)

 

 

1. NHK 1977: 10 f.

2. Fujimuro Mamoru, Sekretär und Archivar der Japanischen Amateurfunkliga, Interview, Februar 1995

3. Nakajima 1994: o.S.

4. NHK 1977: 12 f.

5. Katô 1992: 13

6. Fujimuro op.cit.

7. Ebd.

8. Browne (1989: 308) schreibt von 'Zehntausenden' von Radioamateuren.

9. Interview mit Mizukoshi, Juni 1995

10. Vgl. Poskanzer 1996

11. Interview mit Mizukoshi, Juni 1995

12. NHK 1977: 13

13. Ebd.: 15

14. Kasza 1988: 77

15. Nach Kasza 1988: 75

16. Da dies von der im Westen üblichen Praxis abwich, fügten die Beamten eine Erläuterung an: Der japanische Charakter und Lebensstil unterscheide sich von dem im Westen. Japan sei noch nicht reich genug, um eine vergnügungssuchende Lebensart zu unterstützen, und viele Japaner (anders als Westler) arbeiteten den ganzen Tag bis spät in die Nacht, weshalb das Radio sie nicht von ihrer Arbeit weglocken solle. [Ebd.: 76]

17. Kasza 1988: 79

18. Ebd.: 80

19. Ebd.: 80 ff.

20. Ebd: 82 f.

21. NHK 1977: 18 f. NEC, das den Sender aus den USA importiert hatte, baute 1930 die erste eigene Sendeanlage, eine 500 W-Station in Okayama. [Mirabile 1988: 66]

22. NHK 1977: 21

23. NKH 1977: 16. Die Absurdität einer separaten Empfangslizenz ergab sich aus dem Gesetz von 1915. "The licencing of radio reception was a uniquely Japanese practice." [Ebd.]

24. Sharp produzierte seit 1925 Kristallempfänger und konnte sich mit dem netzbetriebenen Röhrenmodell Sharp Dyne ab 1929 als Japans führender Radiohersteller etablieren. [Mirabile 1988: 95]

25. NHK 1977: 25

26. Ebd.: 23

27. Kasza 1988: 84 ff.

28. Ebd.: 86 f.

29. NHK 1977: 24 ff.

30. Ebd.: 44

31. Kasza 1988: 90

32. NHK 1977: 32 f.

33. Ebd.: 40

34. Ebd.: 30

35. Ebd.: 34

36. Silverberg 1991: 72

37. NHK 1977: 37 f.

38. Silverberg 1991: 72

39. Kasza 1988: 96 f.

40. Ebd.: 92

41. Ebd.: 93 ff.

42. "The program aimed at improving general physical standards among the people by having them engage in simple exercises simultaneously throughout the nation, timed to commands broadcast over the radio." [NHK 1977: 46]

43. Kasza 1988: 88 ff.

44. NHK 1977: 55

45. Kasza 1988: 88

46. Katô 1992: 94

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