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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Kino

 

 

Katô Hidetoshi erinnert an eine Vorform des Kinos, die auf die Schattenrisse (kage-e) zurückgeht, die Kinder im Kerzenlicht auf Shôji werfen. Am Ende des 18. Jahrhunderts erfand ein Maler namens Toraku die nishiki-kage-e, bei denen Bilder auf Glasscheiben gemalt und mit Hilfe einer möglicherweise aus den Niederlanden importierten Linse auf Shôji projiziert wurden. Er malte ganze Geschichten meist aus dem Kabuki, führte seine Kunst im yose (einem Revue-Theater) vor und erweiterte sie um farbige Dias und Musikbegleitung. Im 19. Jahrhundert wurden diese projizierten Bilder utsushi-e genannt. Mit Hilfe von mehreren Projektoren erzielten die Meister der Kunst bereits Bewegungseffekte. Dank dieser "independent and unique development of Japanese pictorial perfection and 'motion-pictures'"(1) sei, so Katô, die japanische Öffentlichkeit auf die Akzeptanz des Kinos vorbereitet gewesen. Als der erste japanische Botschafter in den USA 1858 in Washington zu einer Vorführung von Dias eingeladen wurde, vermerkte er danach in seinem Tagebuch: "die gleichen wie unsere."(2)

1896 traf Edisons Kinetoscope in Japan ein, eine Art Guckkasten mit handgekurbelten Bildern, der zwei Jahre zuvor in New York vorgestellt worden war. Eine noch größere Attraktion waren die ersten Apparate, die bewegte Bilder auf eine Leinwand warfen. 1897 kam der Cinématographe Lumières mit einem gemischten Programm an Filmen wie Baignade en Mer und wenige Tage darauf das Edison Vitascope u.a. mit The Death of Mary Queen of Scots. Die neuen Technologien wurden in regulären Theatersälen vorgeführt, einmal sogar in Anwesenheit des Kronprinzen. Die vergleichsweise hohen Eintrittspreise konnten den Ansturm nicht bremsen, und bald wußten Tausende von Japanern, wie Mary ihren Kopf verlor und was französische Damen trugen oder nicht trugen, wenn sie badeten. "Unlike in other countries, the very first motion pictures in Japan were not the theater of the poor but rather of the well-to-do who were interested in the Occident."(3)

Die Tradition der kage-e führte zunächst zu dem Mißverständnis, daß auch die neuen Projektoren ihr Bild auf die Rückseite der Leinwand werfen sollten. Fahrende Unterhaltungsgruppen führten die Novität im ganzen Land vor. Katô betont die technische Neugier der Japaner. "The contents of the movies were, naturally, an attraction, but people were more interested in the technology itself, in the clearness of the picture rather than the contents of the TV program, the HiFi sound rather than the music."(4) Einige der frühen Vorführer stellten den Projektor rechts auf die Bühne und die Leinwand auf die linke Seite. So konnten die Zuschauer zwar nur wenig vom Film sehen, hatten aber einen ausgezeichneten Blick auf die große Mannschaft der Vorführer am Apparat.(5)

Das Kino war anfangs überall auf das engste mit dem Theater verbunden. In Japan erhielt eine Bühnenfigur eine zentrale Rolle im Kinosaal wie nirgends sonst: der benshi. Im Kabuki und im Bunraku gibt es Sänger und Sprecher, die vom rechten Bühnenrand aus das Geschehen interpunktieren, kommentieren oder die verschiedenen Rollen verbal ausagieren. Auch die genannten Laternendia-Shows beruhten auf einer durchlaufenden Narration des Geschehens. Deshalb war es eine logische Fortsetzung, daß auch bei Vitascope-Vorführungen ein benshi die Technologie und das fremdartige Geschehen auf der Leinwand live erläuterte. Auch in Frankreich wurde bei den ersten Filmvorführungen eine Art Conférencier eingesetzt, doch diese Funktion verschwand im Westen bald. In Japan dagegen entwickelte sich der benshi, der die Dialoge zu den Stummfilmen sprach, das Geschehen erläuterte und kommentierte, zur eigentlichen Hauptattraktion. Als Werbung für Filme auftauchte, zeigte sie den Namen des benshi in größeren Lettern als den der Darsteller, des Regisseurs, ja sogar des Filmtitels.(6)

Die erste Filmkamera wurde ebenfalls 1897 aus Frankreich importiert, doch der erste belichtete Film wurde auf dem Weg zur Entwicklung nach Frankreich zerstört. Erst im folgenden Jahr gelang es Shibata Tsunekichi, die ersten Straßenszenen in der Ginza, Geisha in Tokyo und Kyoto sowie Sequenzen aus Kabuki-Stücken zu filmen. Shibata war Produzent der japanischen Sektion auf der Chicagoer Weltausstellung von 1893 gewesen und arbeitete jetzt für die neu eingerichtete photographische Abteilung des Kaufhauses Mitsukoshi.(7)

Wurden Filme anfangs in Kabuki-Theatern gezeigt, etablierte sich 1903 - einige Jahre vor England und Amerika - in Tokyos Asakusa-Viertel das erste reguläre Filmtheater, das Denki-kan oder 'elektrisches Theater'. Die japanische Filmindustrie beginnt mit der Firma Yokota von Yokota Einosuke, der den ersten Kinematographen importiert hatte, und der Firma Yoshizawa, die ebenfalls Kinematographen und viele der Méliès-Filme importierte und 1902 ein Büro in London eröffnete. Im selben Jahr produzierte sie bereits einige Tonfilme nach dem Kinetophon-Schallplatten-Verfahren, die jedoch keinerlei Anklang fanden.(8) Die Dokumentarfilme von Yoshizawa über den russisch-japanischen Krieg wurden ein großer Erfolg. Ihr Besitzer Kawaura Kenichi führte sie zusammen mit Aufnahmen des Fuji-san, Geisha und anderen für Ausländer geeigneten japanischen Motiven auf einer ausgedehnten Amerika-Tour vor. Dabei besuchte er auch die Studios von Edison und Lubin und richtete nach seiner Rückkehr 1908 das erste reguläre Aufnahmestudio Japans ein.(9)

Die Pioniere drehten Filme für Kabuki-Gruppen. Theater wie das Engi-za zeigten tagsüber Kabuki und abends importierte Filme, in deren Vorprogramm der abgefilmte Höhepunkt für das laufende Theaterstück warb. Einige experimentierfreudige Theatergruppen setzten Film auch innerhalb ihrer Stücke für Freiluftsequenzen ein. Gelegentlich sprachen Schauspieler hinter der Leinwand ihre Texte synchron zu ihren laufenden Bildern ein. War das Stück erfolgreich genug, wurden auch die Innenaufnahmen abgefilmt und das ganze im Kino vorgeführt.(10)

Umeya Shokichi, der ein handkoloriertes Pathé-Spektakel aus Singapur mitgebracht hatte, gründete 1905 Japans drittes Filmunternehmen und nannte es ohne Wissen oder Einwilligung von Pathé aber mit deren Reputation M. Pathe. Ein viertes Produktionsunternehmen, Fukuhodo, entstand 1909 aus einer überaus erfolgreichen Kinokette. Im selben Jahr schlossen sich die großen Spieler der amerikanischen Filmindustrie zu einem Kartell zusammen. Umeya, der in finanziellen Schwierigkeiten war, wollte ein ähnliches Monopol in Japan errichten. Kawaura, dessen Luna Park in Asakusa und zwei seiner Kinos in Osaka gerade abgebrannt waren, verkaufte seine Firma Yoshizawa, die in dem Zusammenschluß der anderen drei Unternehmen aufging. Der neue Konzern besaß jetzt vier Studios und 70 reguläre Kinos im ganzen Land. 1912 benannte er sich um in Nippon Katsudô Shashin ('Bewegte Photos Japan') oder kurz Nikkatsu, heute Japans ältestes Filmunternehmen.(11)

Neben dokumentarischen Arbeiten waren die frühen Produktionen ausschließlich abgefilmtes Theater. Kabuki-Gruppen waren die Auftraggeber und stellten Skript und Schauspieler. Dennoch sah die Theaterwelt das Kino als minderwertigen Rivalen zur Bühne, und Vereinigungen von Theaterbetreibern untersagten ihren Schauspielern, vor der Kamera aufzutreten(12) - eine Abwehrstrategie, die vierzig Jahre später die Kino-Gilden ihrerseits und ebenso vergeblich gegen das Fernsehen anwenden sollten.

Es gab einige Filmvorführungen mit Begleitung von Orchestern und Sängern, doch im wesentlichen beherrschte der benshi den Saal. Medienspezifische, kinematographische Formen und bildliche Erzähltechniken setzten sich nur langsam durch. Kurz nachdem Griffith mit neuen Techniken zu experimentieren begann, wurden erstmals Rückblenden im japanischen Film verwendet. Doch die Kunst des Editierens und selbst die Verwendung von Zwischentiteln scheiterte daran, daß das Publikum kam, um den benshi zu hören, nicht um den Film zu sehen.(13) Mitte der 1910er unternahmen verschiedene Firmen erneut Versuche mit dem Tonfilm, doch scheiterten sie an der Unmöglichkeit, die Vorführung von Schallplatte und Film zu synchronisieren und einer fehlenden Verstärkertechnik, die für große Säle notwendig war.(14)

Die vorherrschende Theaterform der Zeit war das Shimpa (Neue Schule), das als liberale und anti-feudalistische Erneuerung des Kabuki aus der Meiji-Restauration hervorgegangen, inzwischen aber selbst erstarrt war. Es strebte einen höheren Grad von Realismus an, behielt aber solche Institutionen wie den oyama bei, den männlichen Darsteller für Frauenrollen, der auch in den frühen Filmen vorherrschte. Eine radikale Neuerungsbewegung, das Shingeki (Neues Theater), das direkt von Ibsen und Shaw beeinflußt war, wirkte ab Mitte der 1910er auf den Film ein. Shingeki-Stücke, wie eine Tolstoy-Adaption, wurden verfilmt. Der erste Darstellerstar war Onoue Matsunosuke, der in den 1910ern in Kostümfilmen als übermenschlicher Held mit Hilfe von allerlei Theatertricks seine Magie walten ließ.(15) Als er 1926 starb, hatte er in über eintausend Filmen mitgespielt. Gegen Ende des Jahrzehnts trat eine neue realistische Schule im Historienfilm auf, die die tanzartigen Schwertkämpfe des Kabuki durch Blutimitate und das Aufeinanderprallen echter Schwerter ersetzte.(16)

1914 bekam Nikkatsu Konkurrenz durch Tenkatsu, ein Unternehmen, das sich die Einführung von Farbfilm nach dem britischen Kinemacolor-Verfahren zum Ziel setzte. Auch in der Verwendung von Close-Ups und Schnitten zeigte es sich innovationsfreudiger, während bei Nikkatsu bis 1920 die Kamera ohne Unterbrechung und ohne Bewegung aus der frontalen Theaterbühnenperspektive lief.(17)

Die durchschnittliche Länge der Filme Mitte der 1910er betrug 45 Minuten. Gewöhnlich wurden nur drei oder vier Prints von einem Negativ angefertigt, die gezeigt wurden, bis sie auseinanderfielen.

Während des Ersten Weltkriegs blieben Filme aus Europa aus und amerikanische Produktionen hatten das Feld für sich. Die spektakulärste darunter war Intolerance im Jahr 1919. Universal war 1916 das erste amerikanische Filmunternehmen, das ein eigenes Vertriebssystem in Japan einrichtete. Es sollte der größte ausländische Vertrieb bleiben, doch Versuche, sich auch in der Filmproduktion in Japan zu engagieren, scheiterten.(18) Am Ende des Krieges kam der japanische Film zu einem Wendepunkt. Einer der wichtigsten Innovatoren, Kaeriyama Norimasa, hatte an einer Ingenieurhochschule studiert und interessierte sich für Filmtechnik. 1913 hatte er mitgeholfen, eine der ersten Filmzeitschriften zu etablieren. 1917 begann er für Tenkatsu zu arbeiten. Seine filmischen Prinzipien legte er in dem Buch Die Produktion und Photographie von Kinodramen vor: die Verwendung von Weit-, Mittel- und Nahaufnahmen und Schnittechniken, realistisches Schauspiel und weibliche Darstellerinnen statt der oyama. Er war auch gegen benshi und für Zwischentitel, doch stieß er damit auf den entschlossenen Widerstand der Sprecherzunft. Um den Bruch mit der Vergangenheit zu markieren, schuf Kaeriyama statt der Bezeichnung katsudô shashin (wörtlich: 'bewegte Photos') das neue, elegantere Wort eiga, das sich bald durchsetzte.(19) Seine Filme jedoch hatten zunächst wenig Erfolg. Nach der Ansicht der Zeit waren kurze Schnitte, Editieren, dramatische Beleuchtung und Nahaufnahmen nur für Ausländer geeignet. Aufgrund dieser willkürlichen Spaltung des Filmvokabulars entlang nationaler Grenzen mußte Kaeriyama vorgeben, für den Export zu produzieren. In Japan wurden seine Arbeiten als "Filme im amerikanischen Stil" angekündigt. Anderson/Richie kommentieren: "This tendency to place things foreign in one class and things Japanese in another is in many ways a genuine national characteristic."(20) Was ebenso für die Textilindustrie galt, finde sich bis heute in der Filmindustrie, die einiges für einen vermeintlich ausländischen Geschmack produziere und anderes als "viel zu japanisch für den Export" ansehe.

Doch Kaeriyamas Revolution begann Fuß zu fassen, und auch die marktbeherrschende Nikkatsu machte neben ihren üblichen Shimpa-Filmen mit oyama jetzt einige Filme im neuen Stil. Ein neues Filmunternehmen wurde 1920 gegründet. Die Taikatsu heuerte u.a. Tanizaki Junichirô als Skriptautor an, schulte ihre Schauspieler in Filmrealismus und holte sich japanische Hollywood-Schauspieler als Regisseure. Einer von ihnen, Thomas Kurihara, führte zu einer Zeit, da japanische Regisseure wenig mehr als Kameraassistenten waren, den amerikanischen starkhändigen Regiestil ein. Zwei Jahre später betrat ein weiteres Unternehmen die Filmszene. Shôchiku existierte bereits seit einigen Jahren als Theatermonopol, das Kabuki- und Shimpa-Gruppen unter Vertrag hatte sowie Theatersäle besaß. Auch Shôchiku orientierte sich am neuen Filmstil und warb Hollywood-erfahrene Japaner an, darunter den Kameramann Henry Kotani, dem sie ein höheres Gehalt zahlten, als es der japanische Ministerpräsident erhielt.(21) Shôchiku verzichtete von Beginn an auf oyama und brachte mit Sumiko Kurishima prompt den größten weiblichen Filmstar der 1920er hervor.(22) Als auch Nikkatsu schließlich eine Abteilung für den neuen Film einrichtete und Schauspielerinnen anheuerte, streikten die mächtigsten der oyama, doch ihre Hochzeit war bereits vorüber.(23) Und mit der allgemeinen Durchsetzung eines gemäßigten neuen Stils - Thomas Kurihara und Henry Kotani waren als zu amerikanisch beim Publikum durchgefallen -, der stärker auf kinematische Narrationen setzte, waren auch die Tage der benshi gezählt.

Wie fast alles andere zerstörte das Erdbeben auch Tokyos Studios und Kinos. Dieser dramatische Einschnitt führte dazu, daß alte Konzepte aufgegeben wurden. In der Stimmung eines Neuanfangs herrschte nach dem Erdbeben ein grenzenloser Enthusiasmus in der Filmwelt. Gegenwartsthemen traten jetzt gegenüber dem bislang vorherrschenden Historienfilm in den Vordergrund. Die Zahl der Komödien nahm zu, und das Leben der gewöhnlichen Leute hielt Einzug auf der Leinwand. Die Institutionalisierung des Films setzte sich mit der heute noch führenden Zeitschrift Kinema Jumpo und ihrem jährlichen Filmpreis fort. Im seriösen gegenwartsbezogenen Film wurde der Impressionismus zu einer wichtigen Technik. Regisseure setzten vermehrt Rückblenden ein, Nahaufnahmen winziger Details und das, was im sowjetischen Kino als analytische Montage bezeichnet wurde.

Auch der Historienfilm erlebte unter der Bezeichnung jidai-geki durch die neue realistische Schule auf der Bühne einen Wandel. Hier kam endgültig das Bild zu einer Eigenständigkeit. Die Zeit, da die laufenden Bilder sekundär zur Erzählkunst des benshi waren, ging zu Ende. Der Schwertkampffilm befriedigte ein breites Bedürfnis nach Eskapismus und nach Helden im Gefolge des Erdbebens.(24)

Weitere kleine Produktionsfirmen waren entstanden, und weitere ausländische Filmunternehmen, die Chancen auf dem wachsenden Markt witterten, eröffneten Büros in Tokyo. 1925 schlossen sich die vier größten Firmen (Nikkatsu, Shôchiku, Teikine und Tôa) zu einem Kartell zusammen, um die Konkurrenz in Zaum zu halten. Sie beschlossen, sich nicht mehr gegenseitig ihre Angestellten abzuwerben, nur Eastman-Film zu verwenden, den die Vereinigung gemeinsam bestellte, um Mittelsleute auszuschalten, und Kinos nicht mehr zu beliefern, die bei einem der Vereinigungsmitglieder Schulden hatten. Die dritte Absprache bedeutete die Etablierung eines Vertriebsmonopols. Vorführer, die Nicht-Kartell-Filme zeigten, konnten boykottiert werden. Die kleineren Produktionsfirmen mußten sich mit dem Kartell arrangieren, um sich für ihre Filme Vertriebswege zu öffnen.(25) Die Kontrolle der Kinos durch die Filmmonopole besteht bis heute, dennoch gab es daneben immer auch unabhängige Strukturen. In den fünf Jahren nach Errichtung des Kartells bildeten sich mehr als 30 unabhängige Produktionsfirmen um jeweils einen Schauspieler.

Mitte der 1920er Jahre war das Kino zu einem wichtigen Massenmedium geworden. Die ersten Formen von multimedialen Kombinationen traten auf, z.B. ein Roman, der in einer Zeitschrift serialisiert wurde, dann als Buch erschien, als Vorlage für einen Kinofilm diente, der wiederum in Zeitschriften beworben wurde, und dessen Titelsong als Schallplatte ebenfalls ein Hit wurde.(26) 1926 gab es 1.056 Filmtheater.(27) Das zahlende Publikum belief sich auf 153,7 Millionen, und 15.348 Filme wurden der vor einer öffentlichen Projektion vorgeschriebenen staatlichen Inspektion vorgelegt.(28)

Die Vorzensur von Filmen, die bislang den lokalen Verwaltungs- und Polizeibeamten des Innenministeriums unterstanden hatte, wurde durch die 1925 durch Ministererlaß verkündeten Filminspektionsvorschriften zentralisiert.(29) Kino galt als Unterhaltung und unterlag nicht dem parlamentarisch kontrollierten Publikationsgesetz. Daher hatten die Zensoren des Innenministeriums weitergehende Entscheidungsbefugnisse als im Fall von Zeitungen und Zeitschriften. Filme, die den öffentlichen Frieden, Moral oder Gesundheit untergruben, konnten verboten, geschnitten, an den Produzenten oder Importeur zurückverwiesen oder nur für ein eingeschränktes Publikum zugelassen werden. Verboten waren Filme, die Kritik am politischen System äußerten, auf Klassenkonflikte anspielten, den Glauben an das japanische Volk als Nation gefährdeten oder den guten Willen in außenpolitischen Angelegenheiten schädigten. Unter die Moral-Kategorie fielen Grausamkeit wie blutige Kriegszenen, Darstellungen von außerehelichem Sex, Küssen, Tanzen, Umarmungen, Nacktheit, Flirten und Vergnügungssuche. Ferner waren Anspielungen auf die kaiserliche Familie und die Darstellung kaiserlicher Regalia untersagt. Dokumentaraufnahmen des Kaisers unterlagen besonders strenger Kontrolle.(30) Während etwa ein Zehntel der japanischen Spielfilme von Schnitten nach den Filminspektionsvorschriften betroffen waren, galt das für ein Viertel der ausländischen Filme.(31)

Die Zuspitzung der wirtschaftlichen und innenpolitischen Lage spiegelte sich auch auf der Leinwand wider. Im jidai-geki, das weiterhin Bedürfnisse nach Helden und nach Flucht aus der Gegenwart bediente, tauchten jetzt kritischere Töne auf. Im Schutz des Samurai-Settings klagten Regisseure wie Itô Daisuke die ausbeutende Klasse an und ließen ihre Helden gegen die Gesellschaft revoltieren.(32) Gleichzeitig radikalisierte sich auch das zeitgenössische Genre des gendai-geki im Tendenzfilm. Er nahm sich proletarischer und lumpenproletarischer (rumpen-mono) Figuren an. Suzuki Shigeyoshis Nani ga kanojo wo sô saseta ka ('Was brachte sie dazu, es zu tun?') von 1930 erzählt die Geschichte eines armen, von der Gesellschaft ausgestoßenen Mädchens, das dazu getrieben wird, eine Brandstiftung zu begehen. Der Film brachte das Publikum in anti-kapitalistische Aufwallung. Er lief über mehrere Wochen in Tokyo und zwei Monate in Osaka und wurde zum größten Erfolg in der Geschichte des japanischen Stummfilms.(33) Trotz massiver Verfolgung durch die Zensoren erschienen zwischen 1929 und 1931 zahlreiche Filme dieses Genres. Die japanische Tendenzfilm-Bewegung hatte Parallelen im deutschen radikalen Theater und in Filmen wie Theodore Dudows Kuhle Wampe, doch nach Einschätzung Anderson/Richies war es die größte der Welt.(34)

Das Grammophon tauchte 1878 erstmals in Japan auf. 1909 begann die inländische Produktion, und 1921 wurden monatlich 150.000 Schallplatten und 5.000 Grammophone hergestellt.(35) Die amerikanische Victor Talking Machine Company errichtete 1927 eine Niederlassung für Produktion und Vertrieb in Japan. Um sich Zugang zu den Vertriebsnetzen der japanischen Konglomerate zu eröffnen, verkaufte die Japanese Victor Company (JVC) drei Jahre später Minderheitenanteile and Mitsubishi und Sumitomo. 1930 errichtete JVC in Yokohama die damals größte Phonographen- und Schallplatten-Fabrik Asiens.(36) Auch Columbia und Polydor errichteten Ende der 1920er Niederlassungen in Japan.(37)

Der Tonfilm traf zu einem Zeitpunkt ein, da der Stummfilm seine größte Kunstfertigkeit erlangt hatte. Regisseure, Kritiker, Schauspieler und allen voran die benshi sahen ihn als bedrohlichen Einbruch. 1925 hatte De Forests Phonofilm Premiere. Er verwendete elektronische Verstärkung, doch das Problem der Synchronisation der Schallplatte blieb bestehen. Lichtton war zwar lippensynchron, hatte jedoch eine fürchterliche Qualität. Dennoch gründeten sich in den nächsten Jahren mindestens zwei Firmen mit dem Ziel, Tonfilme zu produzieren. Den letzten Ausschlag gab der musikalische Kurzfilm Marching On, der 1929 über ganze zwei Monate vor ausverkauftem Haus gezeigt wurde.(38) Kinos begannen, die kostspielige neue Technologie anzuschaffen, nur um festzustellen, daß sich der Novitäteneffekt bald verflüchtigte und es nur amerikanische Tonfilme zu zeigen gab, deren Englisch die japanischen Zuschauer nicht verstanden. Hollywood reagierte darauf, indem es einige Filme auf Japanisch einsprechen ließ, die jedoch alle scheiterten. Das Dubbing steckte noch in den Kinderschuhen, und vor allem weigerte sich das japanische Publikum zu akzeptieren, daß Ausländer Japanisch sprechen. Eine Gruppe aus Filmkritikern und einem der führenden benshi fanden die Lösung darin, ausländische Tonfilme mit Untertiteln zu versehen. Joseph von Sternbergs Morocco war der erste untertitelte Film, der 1931 mit großem Erfolg gezeigt wurde.(39)

Shôchiku beauftragte Goshô Heinosuke damit, als Test einen kurzen Tonfilm zu produzieren, aus dem schließlich ein abendfüllendes Feature wurde. Um Stille und Klang zu konfrontieren schuf er die Figur eines Schriftstellers, der nicht arbeiten kann, weil im Haus seiner sehr modernen Nachbarin eine Jazz-Band übt. Er beschwert sich, freundet sich mit ihr an, und eine Dreieckssituation entspinnt sich. Shôchiku verwendete dafür ein japanisches Filmtonverfahren mit variabler Dichte namens Tsuchibashi.(40) Da es keine Dubbing- oder Schnittmöglichkeiten gab, mußte der Ton synchron während der Dreharbeiten aufgenommen werden. Trotz der technischen Schwierigkeiten fand sich zu einer Zeit, da Tonfilme in anderen Ländern Stücke von der Theaterbühne aufzeichneten, hier im ersten Lichtton-Film Japans eine souveräne Umgangsweise mit den neuen medienspezifischen Ausdrucksmitteln. Goshôs Madamu to nyôbo ('Die Frau des Nachbarn und meine') wurde zum Erstaunen aller ein brillianter Kassenerfolg und gewann 1931 den Filmpreis von Kinema Jumpo.(41) damit war der Durchbruch für den Tonfilm erzielt, und im folgenden Jahr hatten 45 von den 400 insgesamt produzierten Kinofilmen Ton.(42)

Kinomusiker und benshi hatten bereits auf Marching On mit einem Streik reagiert. Nach dem Tonfilmerfolg von Shôchiku, auf den 1932 auch Nikkatsu aufsprang, schlossen sie sich zusammen, um die Zeit aufzuhalten oder doch wenigstens Pensions-Abfindungen auszuhandeln. Dabei schreckten sie nicht davor zurück, auch die Dienste von Yakuza in Anspruch zu nehmen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.(43) In der Folgezeit verloren 5000 Kinomusiker ihre Arbeit.(44)

Mitte der 1930er entstand ein neuer Filmkonzern, der sich zum Industrieführer aufschwingen sollte. Kobayashi Ichizô war der Mann hinter Tôhô. Er hatte in den 1910ern eine Eisenbahnlinie zwischen Osaka und Kobe gebaut und am einen Ende das Takarazuka Mädchentheater und am anderen das erste Bahnhofskaufhaus errichtet. Mit Grundstücksverkäufen entlang der Bahnlinie vermehrte er sein Vermögen und expandierte zu Beginn der 30er in die Tokyoter Theaterwelt. Als Kobayashi sich für das Kino zu interessieren begann, sicherte er sich die Kontrolle über zwei kleine Unternehmen. Das eine, das Photo-Chemische Labor (PCL), war von Uemura Yasuji gegründet worden, der in Deutschland Photochemie studiert hatte und neben seinem Labor auch Tonfilmstudios vermietete und selber Filme produzierte. Die andere Firma in Kyoto hielt die Rechte an einem amerikanischen Tonfilmsystem und vertrieb die Filmmaterialien von Agfa. Ferner erlangte Kobayashi die exklusiven Verwertungsrechte an den sehr beliebten Sprechenden Wochenschauen der Osaka Mainichi. 1936 gründete er die Tôhô-Filmvertriebsgesellschaft. Shôchiku und Nikkatsu schlossen sich zusammen, um Tôhô zu boykottieren, doch Kobayashis Kapitalkraft sicherte Tôhô den längeren Atem. Die Kämpfe zwischen dem Kartell der alteingesessenen Unternehmen und dem Neueinsteiger wurden mit Schlammschlachten in der Presse, dem Abwerben der gegnerischen Stars und dem Einsatz von gedungenen Schlägern geführt. Die Verbindung von Unterhaltungswelt und Yakuza war traditionell. In dieser Zeit des Star-Stehlens wurde sie integraler Bestandteil auch der Filmwelt. Gangster kassierten Schutzgelder von Filmstars, und die Studios besonders in Kyoto heuerten ihre eigenen Schlägertrupps an. Tôhô gelang es durch eine Reihe von Erfolgsproduktionen, die sich die Kinos nicht entgehen lassen konnten, den Boykott zu unterlaufen. Es baute eigene große Säle und kaufte eine unabhängige Produktionsfirma nach der anderen. Am Ende des Jahrzehnts war Tôhô zum Alleinherrscher über die japanische Filmindustrie aufgestiegen.(45)

 

 

1. Katô 1992: 73 ff.

2. Ebd.

3. Anderson/Richie 1982: 22

4. Katô 1992: 75.

5. Anderson/Richie 1982: 24

6. Ebd.: 23 ff.

7. Ebd.: 26

8. Ebd.: 73

9. Ebd.: 27

10. Ebd.: 27 f.

11. Ebd.: 30

12. Ebd.: 29

13. Ebd.

14. Ebd.: 73 f.

15. Ebd.: 31 f.

16. Ebd.: 58

17. Ebd.: 33 f.

18. Ebd.: 61

19. Ebd.: 36 f.

20. Ebd.: 37

21. Ebd.: 39 f.

22. Ebd.: 42

23. Ebd.: 45

24. Ebd.: 58 f.

25. Ebd.: 60

26. So Kikuchi Kans Roman "Tokyo March"; s. Silverberg 1991: 70

27. Silverberg 1991: 70

28. Kasza 1988: 54

29. Kasza 1988: 55

30. Ebd.: 64 ff.

31. Kaszas Tabelle gibt auch Auskunft über die absoluten Zahlen der japanischen und importierten Spielfilme von 1925 bis 1932, ebd.: 60

32. Anderson/Richie 1982: 64 f.

33. Ebd.: 68

34. Ebd.: 69

35. Nojiri 1991: 89

36. Mirabile 1988: 118

37. Nojiri 1991: 89

38. Ebd.: 74 f.

39. Ebd.: 76

40. Ebd.: 77

41. Ebd.: 72 f.

42. Ebd.: 77

43. Ebd.: 78

44. Hammitzsch 1984: 1236

45. Anderson/Richie 1982: 81 ff.

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last uptdate 03-01-02