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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Tennô - Die Stimme des Herrn

 

 

Der Kaiser traf am 26. November 1868 im Schloß von Edo ein. Das letzte der höfischen Ämter zog 1871 aus Kyoto um nach Tokyo.(1) Der Meiji-Kaiser nahm seinen Sitz in einer ehemaligen Tokugawa-Villa ein, aus der später der Akasaka-Nebenpalast und Wohnsitz des Kronprinzen wurde, und die heute als staatliches Gästehaus genutzt wird. Das säkulare und das spirituelle Zentrum waren vereinigt.

Der Tennô hatte seine Funktion als 'Stock gegen das Bakufu' erfüllt und wurde jetzt in die Position des Gottkaisers eingesetzt. Das Kaisersystem (tennôsei) besteht aus einer Mischung aus schintoistischen und konfuzianischen Elementen, die den Kaiser an den Ort der höchsten Autorität setzt und die Vorstellung einer ungebrochenen Abstammungslinie bis zurück zur Sonnengöttin Amaterasu als zentrale Achse eines vereinigten japanischen Nationalstaates mobilisiert. Die offizielle Ideologie von Loyalität und Pietät innerhalb der Familie wird auf die Nation übertragen, die als 'Familienstaat' (kazoku kokka) unter der führenden Hand des Kaisers vorgestellt wird.

Die frühen Meiji-Denker strebten danach, den Einfluß des während der Tokugawa-Periode offiziell geförderten Buddhismus zurückzudrängen, indem sie das Priesteramt säkularisierten, buddhistische Glocken zu Kanonen umschmolzen und Shintô und Buddhismus voneinander trennten (shinbutsu bunri). Der Buddhismus wurde jetzt als eine wirtschaftlich und moralisch dekadente 'ausländische Lehre' hingestellt, als 'dunkles Erbe' im Zeitalter der Erleuchtung.

Der eng mit dem Kaiserhaus assoziierte Shintô war im 18. Jahrhundert von den Nationalgelehrten wiederbelebt worden, die besonders den Aspekt der Göttlichkeit des Kaisers hervorhoben. Sein großer Einfluß auf die sonnô jôi-Bewegung wurde bereits geschildert. Mit der Erneuerung wurde der Shintô zur offiziellen Staatsreligion. Zwar verlor das Schreinamt 1871 seine oberste Stellung unter den Staatsinstitutionen, doch auch danach hielt die direkte staatliche Förderung des Shintô an, um den Kaiser als Fokus der nationalen Einheit zu bewahren und eine ideologische Untermauerung des gesamten soziopolitischen Systems der Meiji-Periode zu sichern. Im Laufe der Meiji-Zeit traten Staats-Shintô und Sekten-Shintô auseinander. Die Angelegenheiten, die einen unmittelbaren Bezug zum Staat und zum Tennô hatten, kamen unter die direkte Jurisdiktion des Innenministeriums, das auch für die Klassifizierung und Finanzierung der nationalen und einiger der lokalen Schreine verantwortlich war. Sekten-Shintô bezeichnet den Glauben von privaten religiösen Organisationen, von denen einige ebenfalls offizielle Anerkennung erhielten. Bis in die 1940er Jahre hinein lag die Betonung zunehmend auf dem Staats-Shintô, der immer mehr mit nationalistischen Tendenzen identifiziert wurde, obgleich der Glaube und das religiöse Leben der Menschen sich vergleichsweise wenig veränderten.(2)

Die gesetzliche Position des Kaisers wurde in der Meiji-Verfassung etabliert, die die Unverletztlichkeit seiner Autorität festschrieb. Als 1890 das Parlament eröffnet wurde, erhielt der Tennô eine Loge, von der aus er den Saal überblickte und die Sitzungen eröffnete, ohne natürlich selbst an den Debatten teilzunehmen. Vielmehr waren es die Männer der Oligarchie, die in seinem Namen sprachen. Dennoch waren die Worte, die unter dem kaiserlichen Siegel erlassen wurden, göttliches Gesetz. Und wenn sie zum Krieg riefen, gab es wenige, die anders als mit unerschütterlicher Hingabe an die kaiserliche Sache reagierten.

Kaiserliche Reskripte - die "Worte seiner Majestät des Kaisers" (chokugo) - wurden beginnend mit der 'Eidescharta der Fünf Artikel' von 1868 (s.u.) häufig erlassen. Zu den 'Worten' von herausragender Bedeutung gehört das 'Kaiserliche Reskript an die Offiziere und Soldaten der Armee und Marine seiner Majestät' von 1880, das alle Soldaten jeden Morgen und Abend lesen mußten. Das 'Kaiserliche Erziehungsedikt' von 1890 beginnt mit dem Befehl "Wisset, meine Untertanen..." und feiert die göttliche Herkunft des Thrones als Grundlage für Untertanentreue, Elterngehorsam, Respekt für die Verfassung, Einhaltung der Gesetze und einen mutigen Dienst an der Nation, "in order to guard and maintain the prosperity of our Imperial Throne coeval with heaven and earth."(3) Schülern und Studenten wurden die 'Worte' an jedem Nationalfeiertag vom Rektor vorgetragen. Sie mußten sich nach einem vom Bildungsministerium vorgeschriebenen Codex vor den 'Worten' selbst sowie vor einem Portrait des Tennô verbeugen, das zu diesem Anlaß enthüllt wurde.

Kaiserliche Reskripte waren eine Einwegkommunikation zwischen Machtzentrum und Volk, die zugleich durch die Vermittlung des Rektors zu einer gleichsam persönlichen Ansprache wurden. Nach Katô Hidetoshis Analyse waren die 'Worte' verpflichtend und jeder anderen Form von Kommunikation bedingungslos überlegen. Auch Kontroversen im Parlament wurden durch den Erlaß von 'Worten' beigelegt.

Every communication was ultimately supervised and controlled by the 'Words' [...] if the law and the 'Words' conflicted, it was considered that the law was unconditionally wrong. [...] There is no doubt that the popular conception of the Japanese nation overlapped with the concept of the Emperor, and the core of 'nationalism' was nothing but the Emperor system.(4)

In der frühen Meiji-Zeit erreichten die 'Worte' jeden Japaner durch die Stimme der direkten Autorität oder durch einen still gelesenen Text. Als sie in das Reich der Massenmedien Zeitung und dann Film und Radio Einzug hielten, wurden den Redakteuren minutiöse Anweisungen bis hin zu typographischen Konventionen erteilt, die deutlich machen sollten, daß selbst die kanji Seines Namens weit über denen jeder anderen Form von Existenz stehen. Die Praxis der kaiserlichen Reskripte hielt bis 1945 an, als der Tennô in einem letzten Erlaß seiner Göttlichkeit entsagte.

 

 

1. Ebd.: 28 ff.

2. Hunter 1984

3. Nach Silverberg 1991: 76

4. Katô 1992, 69 f.

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last uptdate 03-01-02