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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Lebensstile

 

 

Wenn die Restauration politisch eben gerade keine Revolution darstellte, müssen die Veränderungen in den Lebensstilen der Menschen, in alltäglichen Dingen wie Ernährung, Kleidung, Fortbewegung, selbst in den Gesichtern als nicht weniger denn revolutionär angesehen werden. Die radikalen Transformationen waren eng verbunden mit Tokyo, das durch Yokohama wie über eine Nabelschnur mit der Außenwelt verbunden war. "Western things tended to make their first appearance in the treaty ports. Yet many an innovation was first seen in Tokyo."(1) Die rasche Dynamik in der Hauptstadt trug zum Prozeß einer ungekannten Zentralisierung auf Kosten des übrigen Landes bei.

... the century since the Meiji Restoration may be seen as one of progressive impoverishment of the provinces, until eventually they were left with little but television, most of it emanating from Tokyo. This process was far advanced by 1923; Tokyo was big-time as Edo had not been. While the cities of the Kansai might preserve their own popular arts and polite accomplishments (and for reasons which no one understands have produced most of the Japanese Nobel laureates), it was in Tokyo that opinions and tastes were formed.(2)

Einige der Dinge, die heute als sehr alt und sehr japanisch erscheinen, haben ihren Ursprung in der Mitte der Meiji-Zeit: die banzai-Rufe bei glücklichen Anlässen; die Popularität von Shintô-Hochzeiten; die ersten Heiratsvermittler, die 1877 in Asakusa ihre Dienste anboten; die erste Agentur eines Privatdetektivs, die 1891 gegründet wurde; der von England inspirierte Straßenverkehr auf der linken Seite. Die Polizeibox mochte ihre Wurzeln in Praktiken der Edo-Zeit haben, vielleicht aber auch in den Wachhäusern an den Toren der ausländischen Gesandtschaften.(3)

Hausnummern wurden zuerst von frühen Reisenden in den Westen als wünschenswert erachtet und dann in wildem Durcheinander zugewiesen, wenn neue Häuser gebaut wurden und auch alte eine Nummer wünschten. Bis dahin hatten einige wenige Straßen vom Volksmund einen Namen erhalten, doch das Gefühl für den urbanen Raum gründete sich auf der machi oder Nachbarschaft. Nur eine Beschreibung wie "zwei Häuser vom pensionierten Stempelmacher in der zweiten Hintergasse" und die aktive Hilfe von den Nachbarn erlaubte es einem, ein Haus zu finden. Inzwischen ist das System stringenter geworden, so daß man die Nummer 2 tatsächlich zwischen der Nummer 1 und der Nummer 3 finden kann. Eine linear durchlaufende Nummerierung mag effizienter sein, doch dem Meiji-Japan war es fremd.

Von den ersten Visitenkarten nimmt man an, daß die diplomatische Gesandtschaft des Bakufu im Jahr 1862 sie aus Europa mitbrachte. Die Bepflanzung von innerstädtischen Straßen mit Bäumen fand zuerst auf der Ginza statt. Die erste Prothese paßte Hepburn einem Tokyoter Kabuki-Schauspieler an.(4)

Die Verwestlichung wirkte sich auch auf die Nahrungsgewohnheiten aus. Fleischessen war für die buddhistische Orthodoxie ein Tabu. In der Edo-Zeit praktizierten es nur die Sumo-Ringer, für die im 19. Jahrhundert ein eigenes Schlachthaus errichtet worden war. In der Meiji-Zeit verbreitete sich das Fleischessen und wurde zu einem weiteren Symbol für Zivilisation und Erleuchtung. Schweine, Pferde und Milchprodukte, die bis dahin fast vollkommen unbekannt waren, kamen jetzt auf den Speiseplan. Unter den Studenten von Fukuzawas Keiô Universität war Fleisch beliebt, behielt jedoch den Ruch der Unreinheit. Wenn ein Schlachter mit seiner Lieferung das Tor passierte, wurde er vom Klicken der Feuersteine begrüßt, einem alten Reinigungs- und Besänftigungsritual. Da Kunden nur ungern in einer Schlachterei gesehen wurden, nahmen sie ihre Bestellungen durch ein unauffälliges Fenster entgegen. Die ersten Milchprodukte waren Eiskrem und Milch, während Butter und Käse einer längeren Gewöhnungszeit bedurften. Brot galt bis in die 1920er nicht als Grundnahrungsmittel, sondern als Konfekt. Die chinesische Küche hatte sich seit langem einen Brückenkopf in Nagasaki erobert, aber das erste Chinarestaurant in Tokyo wurde erst 1883 eröffnet.(5) Limonade und westliche Suppen verbreiteten sich. Bier war früh in der Meiji-Zeit bekannt. Die erste Brauerei wurde südlich des Hibiya-Paradegeländes betrieben. Die erste Bierschenke nahm in Kyôbashi am 4. Juli 1899 zur Feier des Endes der Ungleichen Verträge ihren Betrieb auf.(6)

Modern zu sein bedurfte einiger Gewöhnung, wie eine Liste von Vergehen aus dem Jahr 1876 andeutet. Demnach wurden Menschen dafür verhaftet, daß sie an anderen Stellen als einer Latrine urinierten, für Streitereien, Nacktheit und Transvestismus, Frauen dafür, daß sie ihre Haare ohne Erlaubnis abschnitten, für die Veranstaltung von gemischten Sumo-Wettkämpfen und Schlangenvorführungen. Gemischtes Baden in der Öffentlichkeit wurde 1869 verboten, doch offenbar nicht sehr erfolgreich, da das Verbot in den folgenden Jahren wiederholt werden mußte. Seit es ab Mitte der Meiji-Zeit zunehmend in den Wohnungen Bäder gab, nahmen die öffentlichen Badehäuser einen anderen Charakter an. Ihre zweiten Stockwerke wurden mit Teehäusern, Bogenschießständen und hübschen Mädchen ausgestattet.(7)



Des Kaisers neue Kleider

Schuhe waren bald bei beiden Geschlechtern beliebt. Auf Meiji-Drucken kann man häufig Schulmädchen in vollständig japanischer Kleidung, aber mit geknöpften Schuhen sehen. Zu Beginn der Meiji-Zeit kamen quietschende Schuhe in Mode. Um den fröhlichen Effekt zu erzielen, konnte man Streifen von 'singendem Leder' kaufen und in die Schuhe legen. Ab 1871 war es nicht länger erforderlich, die Schuhe auszuziehen, bevor man eine Behörde betrat. Gleichzeitig wurden diese mit Stühlen ausgestattet.(8)

Die äußere Erscheinung der Männer wurde zuerst an der Spitze der sozialen Leiter revolutioniert. Militär und Polizei gingen noch vor Ende des Schogunats den Weg des Westens. 1872 trafen des Kaisers neue Kleider aus Frankreich ein. Im selben Jahr schaffte der Staatsrat die traditionelle Hofkleidung ab, doch an der Einweihung der Yokohama-Eisenbahn nahmen die meisten höfischen Beamten noch im Kimono teil. Westliche Anzüge waren noch extrem kostspielig. Bald folgten die Reichen dem Trend, und für Verwaltungsbeamte wurde der Anzug Pflicht. 1881 gab es bereits 200 Schneider westlichen Stils in der Hautpstadt. Im Straßenbild der 1920er Jahre trugen zwei Drittel der Männer westliche Kleidung.(9)

Uniformen für männliche Schüler und Studenten kamen ebenfalls Mitte der Meiji-Zeit auf. Schwarz mit Messingknöpfen und engem Kragen hielt sich der Stil bis zum Zweiten Weltkrieg. Anfangs waren Schuluniformen nicht verpflichtend. Das wurden sie mit der Begründung, daß sie dem Rowdytum entgegenwirkten. Seltsamerweise war es den Schülern zuvor mit dem gleichen Grund verboten worden, westliche Kleidung zu tragen. Erst in der Taishô-Zeit hatte die Mehrzahl der Schüler und Studenten den Wechsel zu Uniformen vollzogen.(10)

Der schnellste Wandel in der Erscheinung betraf den Haarstil der Männer. Der alte Stil sowohl der Aristokraten wie der Bürger erforderte, daß ein Teil des Kopfes geschoren und die langen Haare des übrigen Kopfes oben in einen Knoten gelegt wurden. Der kurze westliche Stil wurde zangiri oder jangiri genannt, was soviel wie 'willkürliches Stutzen' bedeutet. Schon 1873, im sechsten Jahr Meiji, berichteten die Zeitungen, daß ein Drittel der Männer in Tokyo willkürlich gestutzte Haare trug. 1880 waren es zwei Drittel, und noch einmal zehn Jahre später sah man nur noch den seltenen Exzentriker mit der alten Haartracht.

"If you thump a jangiri head," went a popular ditty of the day, "it sounds back 'Civilization and Enlightenment.'" The more traditional heads echoed in a more conservative way, and some even carried overtones suggesting a revocation of the Restoration and a return to the old order.(11)





Mutters neues Gesicht

Frauenkleidung blieb bis in die Taishô-Zeit hinein der Kimono, doch die Haarmoden begannen sich bald zu verwestlichen. "Liberated Meiji women went in for a pompadour known as 'eaves,' from its way of projecting outward in a sheltering sweep. A few geishas and courtesans adopted Western dress from mid-Meiji, and several wore what was known as the 'shampoo coiffure,' from its resemblance to hair let down for washing and not put back up again. The first beauty school was opened early in the Taishô Period, by a French lady named Marie-Louise."(12)

Der vielleicht verblüffendste Wandel vollzog sich auf dem weiblichen Gesicht. Die Frauen der Edo-Zeit hatten ihre Augenbrauen rasiert, das Gesicht geweißt und die Zähne geschwärzt.(13) Wie im Falle der männlichen Kleidungen kamen die Zeichen der Veränderung von der heiligen Spitze der gesellschaftlichen Pyramide.

Whatever may be the aesthetic merits of tooth-blackening, it was what people were used to. Then came a persuasive sign from on high that it was out of keeping with the new day. The empress ceased blackening her teeth in 1873. The ladies of the court quickly followed her lead, and the new way spread downwards, taking the better part of a century to reach the last peasant women in the remotest corners of the land. If the Queen and the Princess of Wales were suddenly to blacken their teeth, the public shock might be similar.(14)

Das neue Gesicht der Frau wird von der Theaterschriftstellerin Hasegawa Shigure beschrieben, die eines Tages nach Hause kam und ihre Mutter vollkommen verwandelt vorfand:

She performed the usual maternal functions without the smallest change, but she had a different face. Her eyebrows had always been shaved, so that only a faint blue-black sheen was where they might have been. Her teeth had been cleanly black. The mother I now saw before me had the stubbly beginnings of eyebrows, and her teeth were a startling, gleaming white. It was the more disturbing because something else was new. The new face was all smiles, as the old one had not been.(15)

Daß das Lächeln auf dem Gesicht der Frau ein Symptom der Moderne sei, ist eine überraschende Vorstellung. Im westlichen Kontext sind wir vertraut mit der Erscheinung von Gesichtern als Marker einer autonomen Persönlichkeit. Burckhardt sieht zum ersten Mal gegen Ende des 13. Jahrhunderts, als Italien plötzlich von Persönlichkeiten zu wimmeln beginnt, tausend individuelle Gesichter, die sich grenzenlos spezialisieren und aus der Masse hervortreten.(16) Eine vergleichbare Verschiebung vom Gesicht als Maske hin zum nackten Gesicht als einer Leinwand, auf die innere psychologische Zustände projiziert werden, findet sich im Kabuki.

Der Impuls für die frühe Reform des Theaters ging von Ichikawa Danjûrô von der Shintôza-Kabuki-Gruppe aus. Er trug nicht länger eine dicke Schicht Puder auf sein Gesicht auf, sondern bemühte sich, Ausdrücke zu entwickeln, die dem Publikum ein Gefühl für die Psychologie der Figur vermitteln sollten, eine realistische, humanistische Wirkung. Die neue Intelligenz der Meiji-Periode sah in ihm den hervorragendsten Schauspieler seiner Zeit. Karatani ordnet Ichikawas Realismus dem Phänomen des genbun itchi zu. Wie die Entdeckungen von 'Landschaft', 'Kindheit' und 'Natur' markiert er eine Inversion am Ursprung von Japans Moderne.

With its origins in puppet theatre, kabuki began with the substitution of humans for dolls. In order to de-humanize the actors on the stage and make them more doll-like, it was necessary to apply powder 'in exaggerated manner'' and perform spectacular actions which 'involved ridiculous grandiose movements of the body.' The heavily made-up, boldly patterned face of the kabuki actor was nothing other than a mask. What Ichikawa brought to kabuki, [...] was the naked face.(17)

Für Stammesgesellschaften ist die Verzierung das Gesicht (Lévi-Strauss). "It is through ornamentation that the face is endowed with its social existence, its human dignity, and its spiritual meaning. In other words, the human face was originally a figure, something like kanji, and it is only through a process of inversion that the 'face as face' came into view."(18) Vorher konnte 'Gesicht' (wie 'Landschaft' ein Konzept) sinnlich begriffen werden. Nach der Inversion nahm des gewöhnliche Gesicht Bedeutung an. Vor dem Hintergrund der neuen Psychologie drückte das Gesicht 'Innerlichkeit' aus. "Before Ichikawa audiences had found a vibrant meaning in the doll-like movements of the actors and in the masked face, the face as a figure; now they had to search for meaning 'behind' the actor's ordinary face and gestures."(19)

Es erscheint naheliegend, daß das Lächeln zum festen Bestandteil des Repertoires wurde, das die Menschen auf dem 'nackten' Gesicht ausspielten. Dennoch hat es offenbar die gesamte Meiji-Zeit gebraucht, bis es eingesunken war. Seidensticker schreibt über den Taishô-Maler und Illustrator Takeshi Yumeji:

The Yumeji girl may look ill, but she smiles sometimes, albeit wanly. The Edo beauty did not smile, and the Meiji beauty did but rarely. All manner of smiles flash across Taishô paintings and posters, and give a sense that Western things have been absorbed and become part of the organism as they had not earlier been.(20)

Das Lächeln - vom noch beunruhigenden auf dem Gesicht von Hasegawas Mutter bis zu dem der Yumeji-Mädchen - kann somit als eine Klammer um die Meiji-Periode angesehen werden.

 

 

1. Seidensticker 1983: 96

2. Ebd.: 88

3. Ebd.: 94 f.

4. Ebd.: 96

5. Ebd.: 102

6. Ebd.: 95

7. Ebd.: 92

8. Ebd.: 101

9. Ebd.: 97

10. Ebd.: 101

11. Ebd.: 93

12. Ebd.: 93

13. Tanizaki sieht die geisterhafte Schönheit der Frauen dieser Zeit als Teil einer Ästhetik des Schattens. Die Kleidung der Frauen diene darin als ein Verbindungsstück zwischen Gesicht und Dunkelheit. [Tanizaki 1987: 51 f.]

14. Seidensticker 1983: 91

15. Hasegawa nach ebd.: 90 f.

16. Burckhardt 1976: 124

17. Karatani 1993: 55 f.

18. Ebd.: 57

19. Ebd.; zu Ichikawa Danjûrô s.a. Seidensticker 1983: 149-52, 163

20. Seidensticker 1983: 259

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last uptdate 03-01-02