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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Informationsgesellschaft - Nationale Identität durch Technologie

 

 

Behandelte der vorangegangene Abschnitt die psychologistische und soziologistische Selbstreflexion Japans, soll es im folgenden um den Konnex von Diskursen und Medien mit Hilfe von Technologie gehen. In den ersten Jahren nach der Kapitulation standen, wie wir gesehen haben, kulturalistische Bestimmungen von Japanizität im Hintergrund. Zugleich sind zu diesem Zeitpunkt (ähnlich wie in der Meiji-Periode) das technologische Projekt und der Westen als Ressource für technologisches Wissen unbestreitbar und deshalb als Emulationsziel unkontrovers. 'Technologie' ist das Feld, auf dem der Weltkrieg geführt worden war, auf dem sich Amerika als überlegen erwiesen hatte und auf dem Japan geschlagen worden war.

'Kultur' als Urgrund und Ressource für die Gewißheiten über das Selbst, schreibt Najita Tetsuo "has been thought to be perfectly knowable, understandable from within, not requiring translation - not even the mediations of 'language' and other 'signs.' A matter of the human spirit - kokoro - cultural certitude broadly conceived in terms of various historical and aesthetic verifications has served to frame technology within what is known for sure. [...] Culture precedes and frames technology, informs its ideology, grants it power, and, alternatively, generates contests over its own meaning."(1) Genau dieses Feld von Kultur war durch die Niederlage, durch das Scheitern der "Überwindung der Moderne" und durch die Entgöttlichung des Tennô ausgehöhlt. Die erzeugte Selbstgewißheit der Japanizität war in den Augen Amerikas nicht akzeptanzfähig. Dagegen stieß das lerneifrig und fleißig vorangetriebene Projekt der Technologie auf Anerkennung und Bewunderung ('Wirtschaftswunder'). Technologie wäre umstritten gewesen nur, wenn sie sich auf den militärischen Einsatz gerichtet hätte. Die oktroyierte Friedensverfassung schloß eine solche Entwicklung aus (und zugleich die Möglichkeit ein, unter ihrem Schirm eine der größten Streitkräfte der Welt aufzubauen). Nach 1945 wird immer wieder argumentiert werden, daß die Friedensverfassung den Ort/Topos des Tennô im Ethos Japans eingenommen habe. Ihre Funktion ist eine Begrenzung des Projekts Technologie, das expansiv, hemmungslos und mit aller Leidenschaft betrieben werden kann, solange es nur nicht in die Nähe einer möglichen imperialen, militärischen Expansion gerät. Der selbstgewisse 'kulturelle' Expansionismus der Moderne-Überwindung war geschlagen. In die Lücke, die diese "die Technologie umrahmende Kultur" hinterlassen hat, wird jetzt - per default - die 'Kultur', die dem Projekt Technologie anhaftet, eingefügt - die Moderne.

Man kann den Kriegsausgang als einen Medienwechsel beschreiben, der sich zwischen dem Radio, in dem der Kaiser vor aller Ohren seiner Göttlichkeit entsagte, und dem Fernsehen, in dem der Kronprinz vor aller Augen heiratete, aufspannt. Lippit greift den Topos des Traumas auf und sieht es, ähnlich wie Kishida Shû für das der Schwarzen Schiffe, als Auslöser einer 'nationalen Persönlichkeitsspaltung': "One can argue that Japan, in order to absorb the atomic trauma that concluded World War II, developed another personality - a technological character - in which to deposit the imperial compulsion that remained within the Japanese sensibility. After all, desire 'as such,' psychoanalysis argues, is never extinguished but merely re-channeled. [...] Japan's ambivalence - its patterns of emulation of and resistance to Western colonial efforts - can be seen as having developed into a kind of national MPD [Multiple Personality Disorder, VG] after World War II. After its defeat, Japan was thus able to produce the so-called democratic, capitalist personality demanded by the West, while its technological other continued to nurture a fascistic, colonial, and expansionary libido. In this respect, the television functions as both the emblem of and vehicle for the postwar Japanese identity."(2) Ohne Möglichkeit einer eigenständigen politischen und militärischen Präsenz in der Welt habe Japan die expansionistischen Ambitionen der Kriegszeit jetzt auf das Wirtschaftswachstum gelenkt, "toward the expansion of its national identity through technology."(3)

Dem Kaiser, der hinter die Friedensverfassung zurücktritt, die ihm die Rolle des "Symbols des Staates und der Einheit des Volkes" zuweist, schreibt Lippit eine weitere Funktion zu: "Having renounced the patriarchic war machine, Japan turned toward new directions of identification - nature and technology. In an emblematic gesture, Japan's defeated Emperor devoted himself, after the war, to the study of natural sciences, publishing his botanical research while the industrial sector pursued the construction of a technological empire. The dual trajectory not only resurrects the classical opposition between nature and technology, physis and techne, but it also frames the feminine and masculine connotations that those terms imply."(4) Der Topos von Japan als dem 'Weiblichen' (und 'Vergewaltigten') wird vom Symbol des Kaisers gebunden und in den geheimnisvollen, sichtbar-unsichtbaren Ort des leeren Zentrums von Tokyo eingeschlossen. Der männlich-aggressiven Seite unterstellt Lippit nachgerade bösartige Motive: "Japan, in the throes of a post-war reappearance prepared a massive media retaliation: an offensive that would restore imperial desire to its proper medium - technology. Japan achieved the peak of its paramilitary expansion - its apparatic surge - in the consolidation and deployment of the television and its screens."(5)

Das mag stark übertrieben formuliert sein, doch verfolgt man, wie Japan - vom ersten volltransistorisierten Computer, der Erfindung des Transistorradios und des Wortes 'Informationsgesellschaft' bis zum systematisch angestrebten und in den 1970er und 80er Jahren schließlich erreichten Ruf, die erste Technologie-Nation der Welt zu sein - eine technologische Vormachtstellung anstrebt, ahnt man, daß diesseits aller Nihonjinron-Topoi ein anderes mächtiges Motiv am Werk ist. Gegen Ende der 60er Jahre hatte Japan technologisch weitgehend mit den euroamerikanischen Industrienationen gleichgezogen. Zum neuen politischen Motto der nächsten Phase wurde die "technologische Nationenbildung" (gijutsu rikkoku).



"The development of a computer mind in the people's mind"

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Die Nachkriegszeit war weltweit von einem techno-optimistischen Geist geprägt. Die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Innovationen wie Mikroelektronik und Prozeßsteuerung, Raketentechnologie und Radar, Plastik und Kunstdünger schufen neue expansive Industrien. Die USA waren auch in dieser Hinsicht als Siegernation aus dem Krieg hervorgegangen. Unter dem Stichwort cybernation verbreitete sich die Vorstellung einer fast uneingeschränkten Plan- und Machbarkeit.(6) Die Idee eines Epochenübergangs formulierte sich dann im Begriff der postindustriellen Gesellschaft (Daniel Bell), die sich negativ gegen die zu Ende gehende Produktionsform abgrenzt, und schließlich in der Informationsgesellschaft, die das Neue positiv bestimmte und die beiden anderen Begriffe vollständig ersetzen sollte.

'Information' wird zunächst unter dem kybernetischen Modell als das aufgefaßt, was in Systemen Steuerung leistet. Der mediale Aspekt tritt erst später hervor. Entsprechend materialisiert sich das Konzept zuerst in Form von Maschinensteuerung, Automatisierung und Robotern. In einem zweiten Schritt erfaßt es Büro und Handel. Von einer 'Informatisierung' außerhalb der Arbeitswelt kann erst seit der Verbreitung von PCs in den 80er Jahren die Rede sein. Spätestens dann treten darin zwei andere Trends in die Sichtbarkeit: der zur plattformübergreifenden Vernetzung und der zur Konvergenz von Telekommunikation, Massenmedien und Computer.

'Wissen' wird in den Informationsgesellschaftstheorien neben oder austauschbar mit 'Information' verwendet und meint, daß theoretisches, wissenschaftliches Wissen als strategische Ressource zum 'axialen Prinzip'(7) dieser Gesellschaft werde. Den Universitäten komme die Aufgabe zu, Verwertungswissen und 'Wissensarbeiter' zu produzieren. Wissenschaft und Wirtschaft werden in neuen Formen und in neuer Intensität gekoppelt. Führt der Glaube an die Machbarkeit durch Technologie zu einer technokratischen Tendenz, so der an die Wissenschaft zu einem Szientismus.

In Japan werden die neuen Technologien ebenso wie ihre Diskurse aus den USA aufgenommen. In der Zeit des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders werden sie zunächst nur mitgeführt, ohne daß die Idee einer 'nachindustriellen' Wirtschaft Plausibilität erlangen würde. Erst als in den 60er Jahren erste Anzeichen der inhärenten Grenzen des Wachstums sichtbar wurden, wird das Konzept der Informationsgesellschaft wirklichkeitsmächtig und nach und nach (über Topoi wie einen besonderen Bildungsgrad, Gelehrigkeit, Dichte von Informationsflüssen) mit dem Nihonjinron integriert.

Die Spezifizierung des oben genannten allgemeinen Technologie-Projekts als eines von Informationstechnologie bedurfte einer Krise von Materie und Energie. Das "Zeitalter der Diskontinuität" (Drucker) deutete sich mit Arbeitskräfterückgang, ökologischen Problemen, Studentenunruhen usw. an, und erhielt zur Wende in die 70er Jahre mit den Nixon-Schocks, dem Bericht des Club of Rome und den Öl-Schocks eine zugespitzte Dringlichkeit. Wie jede ist auch die jetzt heraufziehende Krise eine Öffnung. Doch da sie vor allem systeminterne Gründe hat, wird sie nicht als 'Penetration' von außen reflektiert und nicht mit Schließung beantwortet. In diesem Zustand der Unsicherheit waren neue Konzepte gefragt.

In der Darstellung von Morris-Suzuki wurden in der intensiven Debatte der Zeit drei politische Alternativen zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums gehandelt: (1) Massive Investitionen der öffentlichen Hand in Autobahnen, Schnellzugstrecken, neue Industrieansiedlungen und neue Städte für Hunderttausende von Menschen, die die ungleichmäßige geographische Verteilung von Japans industriellem Potential korrigieren sollten. Morris-Suzuki zufolge hatte dieses Konzept, bis auf den weiteren Ausbau von Shinkansen-Strecken, kaum Auswirkungen. (2) Der Ausbau eines Wohlfahrtsstaates nach dem Vorbild der skandinavischen Länder. Dieses Konzept spiegelt sich z.B. im Fünfjahresplan der Economic Planning Agency von 1973 wieder, der als zwei seiner grundlegenden Ziele 'die Schaffung einer reichen und ausgewogenen Umwelt' und 'eine Garantie für wohlhabende und stabile Lebensbedingungen' nennt. 'Wohlfahrt' und 'Lebensqualität' wurde zum Grundbestandteil von politischen Programmen, aber mit der Einschränkung, daß sie in keiner Weise mit der wirtschaftlichen Entwicklung in Konflikt geraten dürfe, und mit Nachdruck auf den 'japanischen Geist von Selbsthilfe, Mitleid in menschlichen Beziehungen und einem sozialen Rahmen von gegenseitiger Unterstützung'. (3) Die 'Informationsgesellschaft'. Sie trat immer deutlicher in den Vordergrund von politischen Programmen und Weißbüchern und meinte kurz gesagt eine Verlagerung des Wirtschaftsschwerpunkts von Schwerindustrie auf 'wissensintensive' Industrien, Hochtechnologie, Informationsproduktion und Dienstleistungen. Auch das Wohlfahrtsstaats-Konzept wurde in das von der Informationsgesellschaft integriert. Der Bericht des Industrial Structure Council von 1978 z.B. nennt als oberste Priorität 'die Perfektionierung von Wohlfahrt und Leben der Menschen', doch die praktischen Vorschläge, die er anführt, zielen auf eine Ausweitung der Hochtechnologieindustrien und -Infrastruktur, auf landesweite Informationsnetze und Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Während es gegen (1) und (2) verschiedenste Kritiken gab (sie förderten Inflation, Umweltverschmutzung und Haushaltsdefizit und lenkten Investitionen in unproduktive Bereiche), wurde die Informationsgesellschaft von allen Seiten enthusiastisch angenommen.(8)

Im Begriff der 'Informationsgesellschaft' vermischen sich eine analytische und eine projektive Funktion; die Beobachtung von Prozessen und ihre Steuerung durch zukunftsgerichtete Maßnahmen; die Aussagen, "die Gesellschaft ist eine solche", und die, "die Gesellschaft muß eine solche werden". Er markiert den Eindruck und den Wunsch, daß sich etwas Grundlegendes ändere, daß sich ein Epochenübergang vollziehe.

Jedes soziale System leistet Informationsverarbeitung. Die bedeutendsten Innovationen auf diesem Gebiet - zumindest darin sind sich alle Beobachter eins - waren die der Schrift und die des Buchdrucks. Auch 'Wissen' und 'Bildung', die häufig als definierende Merkmale auftauchen, lassen sich wohl kaum als neue Werte dieser Zeit ansehen. Das, was die Gesellschaften der 60er Jahre neu an sich entdeckten, war also vielmehr die 'Informationstechnologiegesellschaft'. Genauer geht es um elektrische und elektronische Technologie, denn unter einen weiteren Begriff von Technologie würden natürlich auch das System von Pinseln, Tuschen, Schriftträgern, die Körpertechniken, die sie bedingen sowie die verschiedenen Drucktechniken fallen. Eine derartige Selbstreflexion behauptet, der technologische Wandel definiere 'Gesellschaft'. Technologie determiniere das Soziale. Sie enthalte programmatische Imperative, die alle anderen zeitgleich ablaufenden Dynamiken unterordnen.

Seine analytische Funktion leistet der Begriff über eine ökonomische Bestimmung. 'Information', häufig synonym verwendet mit 'Wissen', werde anstelle von Rohstoffen, Boden, Energie und physischer Arbeitskraft zur wichtigsten industriellen Ressource. Sie sei zunehmend zentral bei der Bestimmung von Standortfaktoren und Kostenwirksamkeit durch die Unternehmen. Diese theoretischen Beobachtungen werden empirisch unterlegt mit Hilfe der ökonometrischen Erfassung eines neuen Investitionsverhaltens (Computer, Roboter, Datenbanken) und einer Veränderung der Beschäftigungsstruktur (Zunahme der 'informationsbezogenen' Berufe). Der Quantifizierung der 'Informationsarbeit' und der 'Informationsflüsse' werden in der Folgezeit vor allem japanische Ökonomen immense Anstrengungen widmen. Sie fand ihre erste Formulierung durch Fritz Machlup, der in The Production and Distribution of Knowledge in the United States (1962) ein System zur Unterscheidung der ökonomischen Aktivitäten in die materielle Produktion von physischen Waren und die nichtmaterielle Produktion von Information und Wissen vorschlug.

Als Vision und Leitbild dient 'Informationsgesellschaft' nicht nur einer pragmatischen Problembehebung, sondern beerbt utopische Gehalte früherer Gesellschaftsentwürfe: die Hoffnung auf eine Befreiung des Geistes von den Fesseln der physischen Arbeit und der materiellen Notwendigkeit. Die Hoffung auf Wohlstand, ein bequemes Leben und Völkerverständigung kommt seit den späten 60er Jahren im Gewand der 'Informationstechnologiegesellschaft' daher, und sie richtete sich vor allem auf die messianische Rolle von Wissenschaftlern und Technikern, die all das hervorbringen werden. "It seems to me that one of the most significant functions of the information society concept has been its suitability as a political slogan, a ph[r]ase which may be used at once to describe certain contemporary trends and policies and to conjure up diffuse images of prosperity, progress and technological sophistication."(9) Mehr noch sagen die Berichte von Expertengruppen aus Ministerialbürokratie, Universität und Geschäftswelt eine Zukunft nicht nur voraus. Da sie von einflußreichen Beratergremien der Regierung verfaßt wurden, tragen sie zum Entstehen der Gesellschaft bei, die sie voraussagen. Sie lenken nicht nur Fantasien, sondern auch Investitionen. Ist dieses Leitbild einmal formuliert, zeigt sich die Macht seines technologischen Primats darin, jedes aktuelle soziale Problem als eines erscheinen zu lassen, auf das Informationstechnologie die Lösung bietet.



Japanische Diskurse über die 'Informationsgesellschaft'

1963 veröffentlichte Umesao Tadao, damals Assistenzprofessor an der Wissenschaftsfakultät der Kyoto Universität, den einflußreichen Artikel "Jôhô sangyô ron" (Über die Informationsindustrie).(10) Darin entwarf er ein organizistisch evolutionäres Modell von Gesellschaft. Er klassifiziert gesellschaftliche Tätigkeiten in landwirtschaftliche, materielle und spirituelle Industrien. Im Gegensatz zu der konventionellen Unterscheidung von sekundärem und tertiärem Sektor ordnete er alle herstellenden und Dienstleistungsindustrien, die sich mit Materie und Energie befassen, der materiellen Kategorie zu, und alle, die sich mit intellektuellen Aktivitäten befassen, der 'spirituellen' Kategorie. Diese Triade leitete er aus einer Analogie zum biologischen Organismus ab. Die Landwirtschaft erfülle die Verdauungsfunktionen des Organismus, die materiellen Industrien seine Fortbewegungsfunktionen und die spirituellen Industrien die der Steuerung. Am Verhältnis dieser drei Funktionen zueinander lasse sich der Evolutionsgrad eines Organismus ablesen. Die primitivsten Organismen verfügten nur über Verdauungsorgane. Je höher entwickelt ein Tier, desto größer die relative Bedeutung von Muskeln und Gehirn. Entsprechend verschiebe sich in der 'Evolution' der Gesellschaft die zentrale Bedeutung von der Nahrungsmittelproduktion hin zu Massenproduktion und -konsum von Gütern und Energie und dem Transportsystem. Heute, schrieb Umesao, befänden wir uns im Übergang zu einem Zustand, der durch Massenproduktion und -konsum von Wissen und Information sowie durch intellektuelle und kulturelle Aktivitäten gekennzeichnet sei. Er sagte voraus, daß in den kommenden Jahren Industrien florieren würden, die den Funktionen des Gehirns und des Nervensystems entsprächen.(11)

Der Begriff jôhôka shakai (informationalisierte oder Informationsgesellschaft) in Analogie zu kôgyôka shakai (Industriegesellschaft) wird einer Quelle zufolge erstmals 1966 verwendet.(12) Beide Begriffe enthalten eine prozeßhafte Konnotation (ka). Sie bezeichnen stärker den Weg hin zu einer solchen Gesellschaft, als einen vollendeten Zustand.

Die Impulse, die die japanische Debatte vorantreiben, kamen, wie gesagt, meist aus den USA. So z.B. die Fortune-Ausgabe vom November 1964, die die Titelschlagzeile "Knowledge, the Biggest Growth Industry of them All" trug und darunter Telekommunikation und Computer behandelte. Robert Strange McNamara(13) wurde Ende der 60er Jahre ob seines Engagements als 'Mr. Computer' bezeichnet. Der Abstand zur Computerentwicklung in den USA wurde in Japan als ein Problem der japanischen Managementstärke und als Ansporn zum Aufholen angesehen. Im Herbst 1967 stellte der Japanische Ausschuß für Wirtschaftliche Entwicklung (Keizai Dôyûkai) die Okumura-Mission zusammen (auch als Management Information Mission (MIS) bezeichnet), die die Situation in den USA vor Ort untersuchen sollte.(14) 1966 wurde im Umfeld der japanischen Wissenschafts- und Technologiebehörde und von NTT und der 'NTT-Familie' die Japanische Techno-Ökonomische Gesellschaft gegründet. Sie veranstaltete 1967 ein Symposium mit dem Titel "Für die Ankunft der postindustriellen Gesellschaft gerüstet sein". Ferner bildete sie eine Studiengruppe und entsandte 1969 eine weitere Mission in die USA. Kobayashi Kôji (Präsident von NEC) nahm daran teil und erinnert sich an die Irritation, als der Gruppe bei ihrem Besuch der amerikanischen Wissenschafts- und Technologiebehörde die Vorlage für ein Umweltschutzgesetz vorgestellt wurde. Als einen Schock bezeichnet er es, daß zu der Zeit in den USA der Computer bereits als deus ex machina bezeichnet und über das destruktive Potential von Technologie diskutiert wurde. Nach ihrer Rückkehr erarbeitet die Gruppe einen Vorschlag zur Technologie-Folgenabschätzung - noch nicht für die Umwelt, sondern für das Sozialsystem Japans.(15)

1968 verband Kôyama Ken'ichi in seinem Artikel "Jôhôshakai ron josetsu" (Einführung in/Verschiedene Ansichten über die Informationsgesellschaft)(16) die Konzepte von Daniel Bell und Herman Kahn mit den Ideen von Umesao, und schlug vor, die "post-industrielle" Gesellschaft als Informationsgesellschaft (jôhô shakai) zu bezeichnen, die aus der "Informationsrevolution" hervorgehen werde.(17)

1969 legte Hayashi Yûjirô, damals Professor am Tokyo Institute of Technology und Berater der Economic Planning Agency, sein Buch Jôhôka shakai: hâdo na shakai kara sofuto na shakai e, (Informationsgesellschaft: Von der harten (Hardware-) zur sanften (Software-)Gesellschaft) vor. Im japanischen Diskurs gilt es als das erste Buch der Welt, das den Begriff Informationsgesellschaft im Titel führte. Hayashis These ist, daß ökonomische Werte sowohl funktionelle wie informationelle Aspekte haben. Der funktionelle Wert entspreche dem Gebrauchswert einer Ware, ihr darüber hinausgehender Wert sei informationell. Das Verhältnis der beiden Aspekte sei je nach Ware oder Dienstleistung verschieden. Waren, die den sozialen Status oder die Persönlichkeit ihres Besitzers widerspiegeln wie Autos, Kosmetik, Kleidung und Accessoires, hätten einen hohen informationellen Anteil. Bei Waren wie Öl, Benzin oder Nahrungsmittel überwiege der Nutzwert. Die Informationsgesellschaft ist nach Hayashi entsprechend eine, in der mehr und mehr Waren und Dienstleistungen 'persönlich' werden und der Anteil des informationellen Werts allgemein steigt. Der Wert einer Ware werde weniger von den Material- oder Arbeitskosten bestimmt, als von den enthaltenen 'Informationskosten' (Forschung und Entwicklung, Design usw.). Auf der Konsumentenseite träten physische Bedürfnisse hinter psychologischen und emotionalen zurück. Mode, Stil, Qualität und nicht der Gebrauchswert steuern das Kaufverhalten.(18)

Im selben Jahr erschienen auch zwei ministerielle Berichte zum Thema. In Japan's Information Society: Themes and Visions(19) von einer Arbeitsgruppe der Economic Planning Agency herausgegeben wird die Informationsgesellschaft operationalisiert als eine Diversifizierung der Nachfrage und Erweiterung des Konsumangebots, eine Computerisierung von Handel, Finanzen und Produktion und eine Ausweitung von Informationsindustrien wie Software. In den Policy Outlines for Promoting the Informization of Japanese Society(20) des Industrial Structure Council, eines Thinktanks des MITI, wird Informatisierung als gleichbedeutend mit Computerisierung aufgefaßt. Informatisierung sei 'eine Revolution innerhalb des Systems', anders als die der Industrialisierung, die sich gegen die Landwirtschaft vollzogen habe. Sie werde Menschen Zugang zu 'verläßlicher' Information geben, sie von Verwaltungsarbeiten befreien und menschliche Kreativität erblühen lassen.

Eine Veränderung der Massenstrukturen der Industriegesellschaft wird von vielen Autoren der Zeit vorausgesagt. Takeuchi Kei, Professor emeritus für Wirtschaftswissenschaft der Tokyo Universität, faßt die Hauptthesen seines Buchs über die Informationsgesellschaft folgendermaßen zusammen.(21) Die sogenannten fortgeschrittenen Wissenschaften und Technologien, die sich seit Ende der 60er Jahre verbreiten, seien von einer grundlegend anderen Natur als ihre 'modernen' Vorgänger. Der Gegensatz werde in Japan mit den Attributreihen jû-kô-chô-dai (schwer, dick, lang, groß) und kei-haku-tan-sho (leicht, dünn, kurz, klein) bezeichnet. Während die erstere Technologie auf industriellen Großanlagen wie in der Stahlindustrie, der petrochemischen und der Automobilindustrie und auf Großforschungsprojekten wie dem Manhattan-Projekt und dem Apollo-Projekt beruhte, seien die Mikroelektronik und die Biotechnologie Beispiele für letztere. Die erstere setze Masse und Energie ein und beruhe daher auf dem Prinzip der Quantität. Letztere verwende Information (das, was Koordination und Steuerung in einem System bewirkt), die aus der Unterscheidung und dem Urteil stammt. Hier herrsche daher das Prinzip der Qualität und der Vielfalt.

Auch wenn die Großtechnologie nicht vollständig ersetzt wurde, sei die Entwicklungsrichtung der neuen Technologie eine grundsätzlich andere, ebenso ihre Folgen für die gesellschaftliche Organisation. Takeuchi kennzeichnet den Unterschied mit den Begriffen "Massentechnologie" und "entmassifizierte (de-mass) Technologie". Massentechnologie erfordere eine Massengesellschaft mit einem Massenmanagement und einer Massenkontrolle über Menschen. Großtechnologie setze eine Konzentration von menschlichem und finanziellem Kapital und von Macht voraus. Für den Bereich des Militärs bedeute dies eine Massenarmee, für die Politik eine Massendemokratie, in der die Massenmedien unter allen Bürgern die gleiche Information verbreiten. Sie erfordere eine bürokratische, hierarchische Verwaltung von sehr großen Organisationen, eine Massenproduktion, Massenverkehr, Massenkommunikation usw. Doch die neue Art von Technologie benötige diese Art von Massenstrukturen nicht mehr. Für die Informationstechnologie habe die Größe nicht mehr solche Bedeutung, wichtiger sei der marktorientierte Wettbewerb und die Freiheit der Bewegung, der Handlung und Rede. Entsprechend müssen sich auch das Management und andere gesellschaftliche Formen verändern. Die Gesellschaft verändere sich zu einer entmassifizierten Gesellschaft, die auf Vielfalt beruht. Diese manchmal sehr schwierige Transformation rufe eine Reihe von Widersprüchen und Konflikten in der Gesellschaft hervor. Da die Bedeutung von Information in der Gesellschaft zunehme, müsse das auch Einfluß auf die Theorie der Gesellschaft und der Ökonomie haben. "Die Diversifikation von Rationalismus ist wichtig. Vorher gab es nur eine Art von Rationalismus, das quantifizierte, sehr mathematische, mechanische Denken. Und jetzt gibt es viele Arten von rationalem Denken, nicht etwa Irrationales, aber eine Rationalität auf viele Arten."(22)

An Takeuchis Systemvergleich wird deutlich, daß er im neuen Technologiezeitalter strategische Vorteile für Japan sieht. Die USA, sagt er, seien stark auf dem Gebiet der Großtechnologie gewesen. Sie produzierten heute noch Chips, aber mit Maschinen aus Japan. Eine informationsorientierte Automobilproduktion beruhe auf Just-in-time-delivery von kleinen Zuliefererbetrieben und auf Qualitätskontrolle. Das sei im amerikanischen System nicht möglich.

1971 legte das Japan Computer Usage Development Institute (JACUDI), eine (Lobbying-) Institution der Computerindustrie, dem MITI The Plan for an Information Society: a National Goal Towards the Year 2000(23) vor. Der Plan ist unter dem Eindruck der 'strukturellen Depression' direkt nach dem Nixon-Schock und auf dem Höhepunkt von Tanakas Aufschwungsprogramm durch öffentliche Baumaßnahmen abgefaßt. In dieser Lage habe das Finanzministerium drei Alternativen: (1) Investitionen in Wohnungsbau und Straßen (2) Investitionen in Freizeit und Erholung (3) Computerisierung, um den Bestand an Information und Wissen zu erhöhen. Wie zu erwarten, favorisiert JACUDI den dritten Weg. Nur so könnten verschiedene potentielle 'Katastrophen' wie ein 'Mangel an intellektuellen Arbeitskräften, Ausweitung von Informationslücken, Umweltverschmutzung, Verkehrsprobleme und Überbevölkerung der Städte' abgewehrt werden. JACUDI argumentiert mit den bedrohlichen Vorhersagen des Club of Rome, aufgrund derer es dringend notwendig sei 'von Industrialisierung auf Informatisierung umzulenken'. Ein einziger Plan also zur Lösung aller Hauptprobleme der japanischen Wirtschaft in den 70er Jahren.

Die Notwendigkeit der Informatisierung stelle sich jedoch nicht automatisch ein. Ein Bedarf müsse geschaffen werden. Der Plan schlägt daher ein gezieltes Bildungsprogramm für die Informationsgesellschaft vor. "At the time of the realisation of industrialized society through the industrial revolution, creation of demand for industrial goods depended only on purchasability. There was no problem on the human side. So long as the goods produced were needed, they satisfied the human desire to possess them. However, use of information will find its value only along with the improvement of human intellectual creativity. In this field, theoretical thinking, self-control, and development of new abilities are required. Thus, 'the development of a computer mind in the people's mind' has been established as an immediate target of this plan."(24)

Die geforderte Fertigkeit der 'Selbstkontrolle' wird als einer der neu einzuführenden 'ethischen Standards' hervorgehoben, die zusammen mit der Computer-Bildung etabliert werden sollen. Weiter gehören dazu 'Eigeninitiative' und die Bereitschaft zu einem 'aktiven Dienst an der Gesellschaft'. Der Plan sieht auch bestimmte Probleme voraus: mögliche Gefahren für Privatsphäre, Datenschutz und Datensicherheit; mögliche Quelle für Entfremdung, Neurosen und soziale Störungen; die Gefahr des Auseinanderklaffens von Informationselite und Massenkonsumenten. Eine Gefahr wachsender Arbeitslosigkeit dagegen wird bestritten, da Informatisierung neue Industrien hervorbringen werde. Insgesamt ist der JACUDI-Plan ein utopischer Entwurf der Informationsgesellschaft. "The information society may be termed 'a society with highly intellectual creativity where people may draw future designs on an invisible canvas and pursue and realise individual lives worth living'."(25)

Die Gesellschaftspläne übersetzen sich in Haushaltspläne. Ebenfalls 1971 wurde ein weiterer Siebenjahresplan verabschiedet, das "Special Electronics and Machinery Industry Promotion Temporary Measures Law" (Kidenhô). Es sollte eine ähnliche Bedeutung haben, wie Kishinhô und Denshinhô für den Wiederaufbau, und richtete sich auf die industrielle Kopplung von Elektronik und Maschinenbau. Nach dem Gesetz wurden niedrig-verzinste staatliche Kredite in Höhe von US$ 400 Mio. vergeben, um die Entwicklung von NC-Maschinen und Industrie-Robotern zu fördern.(26)

 

 

1. Najita 1989: 5

2. Lippit 1997: 8

3. Ebd.: 3

4. Ebd.: 7

5. Ebd.: 2

6. S. z.B. Dechert 1967

7. Bell 1973: 26

8. Morris-Suzuki 1988: 26 ff.

9. Ebd.: 26

10. In Hôsô Asahi, Januar 1963, S. 4-17, nachgedruckt in Chûô Kôron, März 1963

11. Nach Ito 1981: 672 f.

12. Yasuda nach Ito 1981: 694

13. wurde 1960 Präsident von Ford Motors, war von 1961-1968 US-Verteidigungsminister, danach bis 1981 Präsident der Weltbank

14. Kobayashi 1991: 61

15. Ebd.: 74 f.

16. In Bessatsu Chûô Kôron Keiei Mondai, Winter 1968

17. Ito 1981: 673

18. Hayashi 1969 und Interview 3.11.1996

19. Keizai Shingikai Jôhô Kenkyû Inkai, Nihon no Jôhôka Shakai: Sono Kadai to Bijon, Tokyo 1969; nach Morris-Suzuki 1988: 9

20. Sangyô Kôzô Shingikai Jôhô Sangyô Bukai: Nihon Shakai Jôhôka Sokushin no tame no Seisaku Yôkô, Tokyo 1969; nach Morris-Suzuki 1988: 13

21. Interview Takeuchi, Tokyo 29.9.1989

22. Ebd.

23. Englische Übersetzung in Change, Juli/Aug. 1972; hier nach Morris-Suzuki 1988: 8, 58 ff.

24. Nach Morris-Suzuki 1988: 63; meine Hervorhebung

25. Nach ebd.: 8

26. Ebd.: 30

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last uptdate 03-01-03