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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

3.6. Diskurse: Nihonjinron und Informationsgesellschaft

 

 

Vor allem nach dem Friedensvertrag von San Francisco 1952 und während der folgenden Wirtschaftswunderjahre kommen kulturalistische Selbstbestimmungsdiskurse auf, die als Nihonjin-ron (Japaner-Diskurse) oder Nihon-ron (Japan-Diskurse) bezeichnet werden. In Tausenden von Büchern und Aufsätzen(1) wird die Frage nach der kulturellen Identität Japans und der Japaner aus den verschiedensten Blickwinkeln ventiliert.

Darin lassen sich drei Grundstrukturen erkennen. Japandiskurse unterstellen die Kontinuität eines unterhalb aller historischer Wandlungen und 'Verwestlichungen' unwandelbaren japanischen 'Wesens' oder 'Geistes', wie ihn die seit prähistorischen Zeiten anhaltende Blutsverwandtschaftslinie des Tennô-Geschlechts symbolisiert.(2) Ebenso wie von einer historischen Differenzierung sehen sie von einer soziologischen Binnendifferenzierung von Japanizität ab und konstruieren mit Hilfe der "harte[n] wissenschaftliche[n] Arbeit" der "Imagination" ein "holistisches" Gesamtbild Japans,(3) das Psyche, Kultur, Klima und Gesellschaft einschließt. "Es gibt keinen Japandiskurs, der ohne diesen Holismus auskäme."(4) Eine dritte Grundstruktur des Japandiskurses wird durch den bereits angesprochenen Topos der 'Inselnation' (shimaguni) bestimmt. Das historisch Unwandelbare und wesensmäßig Homogene des Japanischen ist im doppelten Sinne topologisch vom Meer umschlossen. Die 'Distanz' dieses Japan von der übrigen Welt, seine 'Geschlossenheit' und die 'Reinheit' seiner Bestimmungen, ist damit ein 'naturgegebenes' Apriori.

Schließlich bezieht der Japandiskurs seine Topoi, ob in positiver oder negativer Referenz, immer auch aus dem Westen. Universalistische Phasenmodelle der Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung gehören ebenso dazu wie westliche Abhandlungen über Japan. Vor allem The Chrysanthemum and the Sword der amerikanischen Kulturanthropologin Ruth Benedict, das 1946 in den USA und 1948 in der japanischen Übersetzung erschien, übte einen tiefgreifenden und langanhaltenden Einfluß aus. Eine Referenz auf einen asiatischen kulturellen Kontext spielt bis in die 70er Jahre hinein keine Rolle mehr.

Parallel zum raschen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel der Nachkriegszeit finden die Verschiebungen im Japandiskurs in kurzen Abständen statt. Folgt man dem Kulturanthropologen Aoki Tamotsu, so waren die Jahre von 1945 bis 1954 bestimmt von einer Auffassung von "Japanizität als Negativum".(5) Modernisierungstheorien und Marxismus stellen die feudalistischen prämodernen Elemente Japans heraus, die den Militarismus ermöglicht hatten. Um eine Wiederholung zu verhindern, gelte es, die Rückständigkeit gemessen an einer universalen historistischen Stufenleiter zu überwinden (Maruyama, Marxisten). In der von Aoki identifizierten folgenden Phase (1955-1963) wird Japanizität als "historisches Relativum" behandelt. Unter dem Einfluß der vergleichenden Zivilisationstheorie begründet der Japandiskurs jetzt gegenüber Westeuropa eigenständige Entwicklungspotentiale Japans (Katô, Umesao). 1964 beginnt dann die Phase, die Aoki als "Japanizität als Positivum" bezeichnet (Nakane). "Das Image einer besiegten Nation war gänzlich verschwunden, und Japan schlug abermals den Weg zur Weltmacht ein."(6)



Modernisierungstheorien

In der unmittelbaren Nachkriegszeit stand die Kritik an den Strukturen der japanischen Gesellschaft und des Tennô-Systems, die den Totalitarismus möglich gemacht hatten, eine Ablehnung jeglicher Besonderheit Japans und das Ziel der Errichtung einer demokratischen Nation im Sinne des Potsdamer Abkommens im Vordergrund.

Der Politikwissenschaftler Maruyama Masao stellt in seinem Aufsatz "Nihon no shisô" (Denken in Japan, 1957)(7) die Aufgabe, ein "über zähe Selbstbeherrschung verfügendes Subjekt [...] aus uns selbst hervorzubringen."(8) Der Rechtssoziologe Kawashima Takeyoshi, charakterisiert in seinem Nihon shakai no kazokuteki kôsei (Die familistische Struktur der japanischen Gesellschaft, 1949)(9) die antimoderne Familienideologie durch Autorität und Gehorsam, Mangel an Individualität und Verantwortungsgefühl, Verbot von Kritik und freien Äußerungen, Sektionalismus von oyabun-kobun (Vorgesetzter-Untergebener) und Feindlichkeit gegenüber der Außenwelt.(10)

Der Literaturwissenschaftler Kuwabara Takeo beanstandet 1947,(11) daß es der japanischen Gegenwartsliteratur an Modernität mangele, da in ihr weder "Ideologie" noch "Prinzipien" zu finden seien. Der Ich-Roman sei sich seines Bezugs zur Gesellschaft nicht bewußt, und es mangele ihm an Denken und Erfahrung. "Wenn man die Moderne überwinden will, gibt es keinen anderen Weg, als sie zunächst gründlich zu erfahren, um sie danach in Fahrtrichtung zu überholen."(12)

Daß als zentrale Zäsur des Jahres 1945, als traumatische Erfahrung nicht die Kapitulation oder die Säkularisierung des Gottkaisers, sondern die Atombombenabwürfe gewertet werden, deutet auf eine Schließung in der Öffnung. Die 'Schuld', auf die eine Reflexion der Kapitulation verweisen würde, wird mit Hilfe der Opferrolle abgewehrt. Die 'Bedeutung' des Kriegs liegt nicht darin, daß Japan aktiv gegenüber den von ihm besetzten Ländern gehandelt, sondern darin, daß es passiv eine 'Penetration' amerikanischer 'Hochtechnologie' erlitten hat. Die Atombombenerfahrungen werden immer wieder, am deutlichsten in der Auseinandersetzung um eine japanische Beteiligung an den UN-Friedenssicherungsoperationen der 90er Jahre, als Sonderstellungsmerkmal mobilisiert.

 

 

1. Aoki 1996: 21

2. Und erinnern an die Nation, die nach Anderson einmal etabliert, als immer schon vorhanden imaginiert wird.

3. Aoki 1996: 34

4. Aoki 1996: 21; s.a. Mishima 1996: 119 f.

5. Aoki 1996: 24 f.

6. Ebd.: 61

7. Deutsch in Maruyama 1988: 21-88

8. Ebd. 77

9. Gakusei Shobô, Tokyo 1949; deutsch in: Die japanische Gesellschaft. Familismus als Organisationsprinzip, Minerva, München 1985

10. Nach Aoki 1996: 45 f.

11. Gendai nihon bunka no hansei (Überlegungen zur japanischen Gegenwartsliteratur), Hakujutsu Shoin, Tokyo 1947

12. Nach Aoki 1996: 43 f.

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last uptdate 03-01-03