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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

Japan als 'natürliche' Informationsgesellschaft

 

 

Ich hatte die These aufgestellt, daß in der Zäsur von 1945 die Topoi von 'Kultur' und 'Technik' sich aufgespalten hatten. In der Wende vom Ökonomismus der gemeisterten Moderne qua Technologie zur Kultur drückt sich eine Bewegung zur Aufhebung der Spaltung aus. Der Topos der Unternehmenskultur bindet Technologie von der Seite der kulturalistisch bestimmten Sozialbeziehungen aus. Die Debatte über die Informationsgesellschaft dreht sich zunächst um eine Pragmatik von Rationalität und Effizienz. Die Technologie gehört dem Reich der Notwendigkeit an und eröffnet eine Freiheit, oder doch zumindest Freizeit, in der die Menschen sich der Selbstverwirklichung, d.h. Kultur widmen können. In einem weitergehenden Schritt wird die Informationsgesellschaft von einer Möglichkeitsbedingung von Kultur zu einem ureigensten Konstituens der japanischen Kultur umgedeutet.

Ähnlich wie sich Japan in der Nachkriegszeit ein Wirtschaftswunder nicht nur machte, sondern zuallererst imaginierte, so stellte es sich seit den 1970ern als Informationsgesellschaft vor. Die Massenmedien trugen natürlich einen bedeutenden Teil zu dieser nationalen Umstrukturierung bei. Die Zahl der Bücher, Artikel und Fernsehprogramme über die Informationsgesellschaft stieg explosionsartig an. Ähnlich wie die olympischen Spiele von 1964 den Wirtschaftsaufschwung bekrönten, so zelebrierte Japan in der Internationalen Technologie-Expo 1985 in Tsukuba sein Arriviertsein in der Informationsgesellschaft. Vor dem Hintergrund des hohen Yen-Kurses und der sich blähenden Spekulationsseifenblase präsentierte die Nation der Welt eine Leistungsschau japanischer Hochtechnologie. Mehr als zwanzig Millionen Besucher bestaunten einen Klavier-spielenden Roboter und andere Wunder vor allem aus den Bereichen Automatisierung, Computer, Kommunikationssysteme und Biotechnologie. Japan oder vielmehr das MITI versteht sich als "technology based nation".(1)

Neu in den 70er und 80er Jahren ist die Ausweitung der 'Informatisierung' in den Privatraum. Neben computergesteuerten Werkzeugmaschinen in der Fabrik und zentralisierten Großrechnern in der Verwaltung beginnen sich jetzt 'Neue Medien', wâpuro und PCs für die persönliche Benutzung zu verbreiten. Der Fokus verschiebt sich von Institutionen zu Einzelnen, die jetzt nicht nur einen Systemplatz als Arbeitnehmer des Informationskapitalismus, sondern darüber hinaus auch als Konsumenten, private Kommunikatoren und autonome Agenten in einem komplexen Aktorennetzwerk zugewiesen bekommen.

Auch hier ist die Grundthese, Automatisierung führe zu mehr Freizeit und einer größeren gesellschaftlichen Partizipation von 'Alten, Hausfrauen und Behinderten'.(2) Zur Lösung des Problems der 'alternden Gesellschaft' sollen Ruheständler eine Datenbank erhalten mit 'Informationen für die Fortsetzung des Lebens nach der Pensionierung' und mit medizinischen Informationen.(3) Auch die Konzepte für Bildung sehen eine vernetzte und multimediale Zukunft voraus. 'Media-Literacy' gilt als Ziel und Voraussetzung für eine informationelle Vergesellschaftung. Ebenfalls Auswirkung und Ziel ist eine Erhöhung der 'intellektuellen Kreativität', die von der Hypothese ausgeht, je mehr Information (=Wissen) zugreifbar ist, desto mehr neue Information (=Wissen) werde erzeugt. Die Projekte einer vollautomatischen Selbstorganisation der Information haben ihre Hochzeit. Automatische Zusammenfassungen und Neuorganisation von Texten, selbsterklärende Information, das maschinelle Ziehen von Schlußfolgerungen aus vorhandenen Daten usw. bilden eine Art Metaphysik der Information aus. Hatten bereits die Telegraphie und das Radio Hoffnungen auf das Entstehen einer 'Weltsprache' geschürt, so formuliert sich die Überwindung der Sprachbarriere jetzt in Projekten der maschinellen Übersetzung.

Neben dem industriellen und ministeriellen Optimismus treten auch die Probleme der Informationsgesellschaft hervor. Nicht nur technische Schwierigkeiten werden jetzt diskutiert, sondern auch die Unangemessenheit der Menschen (die 'Allergie' gegen die Tastatur, eine Informationsüberflutung, Fragen von Informations'qualität' oder '-korrektheit', die Eingabe von falschen Daten und die Veränderung von Programmen mit kriminellen Absichten). Ferner formiert sich in den 70er Jahren der Widerstand gegen ein Big Brother-Modell der umfassenden Überwachung.

Der befürchtete Anstieg der Arbeitslosenzahlen stellte sich nicht ein. Die Beschäftigtenzahlen in den Kernunternehmen wurde in den seltensten Fällen durch Entlassungen reduziert. Auch während der Rezession der Ölkrise geschah dies überwiegend durch den Abbau der Zahl der Nichtfestangestellten und der Frauen und durch vorgezogene Pensionierungen. Außerdem schufen Technologie und Konsumprodukte neue Arbeitsplätze. Morris-Suzuki faßt die Gründe für die geringe Arbeitslosigkeit in Japan so zusammen: schnelles Wachstum neuer Industrien, geringes Bevölkerungswachstum, Verlängerung der Ausbildungsdauer, expandierender Absatz auf dem Weltmarkt und Absorption überschüssiger Arbeitskräfte in schlechtbezahlte Jobs außerhalb der Produktion.(4)

 

 

1. Sigurdson 1982: 1

2. EPA 1983: 54

3. EPA 1983: 27 f.

4. Morris-Suzuki 1988: 102; vgl. EPA 1983: 16 f.

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last uptdate 03-01-03