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Geschlossene Gesellschaft
Mediale und diskursive Aspekte der "drei Öffnungen" Japans
Volker Grassmuck

 
 
 

 

 

 

4.4. Zeitskizze seit 1990: Post-Bubble

 

 

Das Ende der 80er Jahre wird durch eine Reihe großer Zäsuren markiert. Mit der Maueröffnung ging die Blockopposition des kalten Krieges zu Ende. Als am 7. Januar 1989 Kaiser Hirohito starb, endete die Shôwa-Periode (1925-1989) und die Heisei-Ära begann. Das Kultusministerium führte 1989 die Nationalhymne Kimigayo ohne Textänderung sowie die Nationalflagge Hinomaru für die Verwendung bei Zeremonien an öffentlichen Schulen wieder ein und entschied damit den langen Streit zwischen der linken Lehrergewerkschaft und dem konservativen Ministerium, sowie zwischen der LDP und der SPJ.

Schließlich platzte die Wirtschafts-Seifenblase. Der Nikkei-Index erreichte präzise am letzten Tag der Dekade seinen höchsten Stand aller Zeiten. Bis zum 1. Oktober 1990 war der Tokyoter Börsenmarkt um 48% in die Tiefe gestürzt. Ein Papierwert von 300 Billiarden Yen (US$ 2,25 Billiarden) hatte sich in Nichts aufgelöst.(1) Das Krisengefühl und weniger verfügbares Einkommen veränderten das Konsumverhalten. Das Shopping-Motto buchstabierte sich nach den "drei Js": jimi (einfach), jitsuyôteki (praktisch), jûryô (schwer). Elektrogerätehersteller verzeichneten Umsatzverluste von 50%. Die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts für das Fiskaljahr 1992 mußte von 3,5% auf 1,8% korrigiert werden.

Das politische Motto der 90er ist Japan als "Lebensstil-Supermacht" (seikatsu taikoku). Zeitgleich mit der Globalisierung trat eine neue Betonung von Lokalität hervor. Als Teil des "Lebensstil"-Leitbildes förderte das MITI kansei-Business (Sensibilität). Das System der administrative guidance verlagerte sich von der Produktionsorientierung hin zur Entwicklung von menschlichen Ressourcen. Die darstellenden Künste (geinô), vor allem in der lokalen, "indigenen", partizipatorischen Kultur wie die Tänze und Feiern zum buddhistischen Totenfest (obon) wurden gefördert.

Mit dem Golfkrieg 1991 wurde Japan in internationale militärische Konflikte gezogen, die bis dahin durch die Allianz mit den USA weitgehend außen vorgehalten worden waren. Die Krise im Verhältnis zu den USA, die sich in den 80ern an wirtschaftlichen Themen zugespitzt hatte, erhielt jetzt zusätzliche sicherheitspolitische Aspekte. In Japan wurde der in der Friedensverfassung festgeschriebene Pazifismus als Sonderstellungsmerkmal herausgestellt. Durch die Erfahrung der beiden Atombomben und die Entsagung des Krieges als Mittel der Politik habe Japan eine einzigartige moralische Ressource in die neu entstehende Weltordnung einzubringen. Dabei wurde die breite Kritik in den 50er und 60er Jahren an der von der amerikanischen Besatzung geschriebenen Verfassung ausgeblendet. Am Golfkrieg beteiligte sich Japan nicht mit Truppen, aber trug einen Löwenanteil der Kosten. Die ambivalente Stellung der Selbstverteidigungskräfte und eine mögliche Änderung des Artikel 9 der Verfassung wurden zum Thema. Politiker wie Ozawa Ichirô sprachen davon, daß Japan ein "normales Land" werden müsse, und das heiße eine Beteiligung an UN-Friedensoperationen und eine größere außenpolitische und militärische Unabhängigkeit von den USA. Im selben Atemzuge wurden die Forderungen nach einem Sitz Japans im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen lauter. Die Debatte führte dazu, daß Japan zu den folgenden UN-Friedenssicherungsoperationen in Kambodscha, Ex-Jugoslawien und Ruanda Freiwillige der Selbstverteidigungskräfte für Sanitäts- und Logistikoperationen entsandte.

1993 endete die seit 1955 ununterbrochene Einparteienherrschaft der LDP. Der Sozialdemokrat Murayama Tomiichi wurde Ministerpräsident und schwor kurz nach seinem Amtsantritt den sozialistischen Grundprinzipien der Oppositionszeit ab. Er erklärte im Juli 1994 die Selbstverteidigungskräfte für verfassungskonform und Kimigayo und Hinomaru für Symbole des Staates.

Die Verkündung des amerikanischen "Information Superhighway"-Konzepts im September 1993 katapultierte das Internet von einer völligen Unkenntnis außerhalb akademischer Kreise zum Status von Top-News in den Medien für das folgende Jahr. Wiederum sah sich Japan in eine Position des Aufholens gedrängt. Der "Gore-Schock" löste hektische Aktivitäten in Regierung, Ministerialbürokratie und Unternehmen aus, um das Internet in größerem Umfang einzuführen. Wie die Ölschocks die konzertierte Vision von der 'Informationsgesellschaft Japan' auslösten, so der Gore-Schock die von der 'Netzwerkgesellschaft'. Ebenfalls 1993 verbreitete sich der erste integrierte Browser "Mosaic" für das 1991 eingeführte Hypertextprotokoll World Wide Web unter den Internet-Nutzern. Das Web, das alle anderen Indizierungformate des Internet(2) in sich einschließt, wurde damit erstmals in einem einheitlichen Graphical User Interface zugreifbar. Dies führte zu einem ähnlichen Popularisierungsschub für das Internet wie die Einführung von Xerox PARCs Windows für PCs. Pläne für ein allgemeines Glasfasernetz bis in den Haushalt(3) wurden entsprechend der neuesten amerikanischen Welle(4)

zur 'Infobahn' uminterpretiert und seine geplante Fertigstellung auf 2010 vordatiert.

Ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren führte zu einer Thematisierung von Japans Kriegsvergangenheit: das Ende der Ära des Kriegskaisers Hirohito, die aktuellen UN-Friedenssicherungsoperationen und der bevorstehende 50. Jahrestag des Kriegsendes. Verschüttete Probleme wie die Zwangsprostitution der "Trostfrauen" und die biologischen Menschenexperimente der Abteilung 731 wurden öffentlich angesprochen. So legte 1992 der Historiker Yoshimi Yoshiaki Dokumente über Kriegsbordelle vor. Die neue Koalitionsregierung setzte Zeichen in der Außenpolitik. Ministerpräsident Murayama reiste im August 1994 auf die Philippinen, nach Vietnam, Malaysien und Singapur, um sich für die dort erlittenen Kriegsgreuel zu entschuldigen. Malaysiens Premier Mahathir erwiderte, Japan solle aufhören, sich zu entschuldigen und sich stattdessen für Friedensoperationen und die asiatische Wirtschaftszone einsetzen. Gleichzeitig setzte in den japanischen Medien ein Asien-Boom ein mit dem Tenor: die Menschen in den Nachbarländern sehen Japan als Vorbild und großen Bruder, von dem zu lernen sei und finanzielle Hilfe erwartet werde. Im Mai 1994 äußerte Justizminister Nagano Shigeto die Ansicht, das Blutbad von Nanking habe nie stattgefunden und Japans Invasion auf dem Festland sei kein Angriff, sondern eine Befreiung vom westlichen Kolonialismus gewesen. Nach Protesten der chinesischen und koreanischen Regierungen wurde er vom Ministeramt zurückgezogen. Im August 1994 wiederholte Umweltminister Sakurai Shin, Japan habe nie einen Angriffskrieg beabsichtigt. Auch er wurde des Amtes enthoben.

1995 wurde die Nation vom Hanshin-Erdbeben und vom Giftgasangriff der Aum-Shinrikyô-Sekte auf die Tokyoter U-Bahn erschüttert. Der Zusammenbruch der sog. lifelines von Wasser, Gas, Elektrizität, Straßen, U-Bahnen und Zügen, Telephon und Online-Systemen machte auf katastrophische Weise deutlich, wie abhängig das Alltagsleben von den Netzwerkinfrastrukturen geworden ist, und wie fragil diese tatsächlich sind. Auch der Sarin-Anschlag richtete sich gegen einen neuralgischen Punkt des fließenden Verkehrs. Zugleich demonstrierten die Auswirkungen des Hanshin-Erdbebens, wie unbedeutend Produktion, Konsum und Transport (Kobe war der größte Containerhafen Japans) einer einzelnen Region in einer globalisierten Wirtschaft geworden sind. Die nationalen Wirtschaftsindikatoren verzeichneten ein kurzes Absacken im Januar, schnellten aber bereits im Februar wieder zurück.

Am 15. August 1995 beging Japan zahlreiche Gedenkveranstaltungen aus Anlaß von "50 Jahren Nachkriegszeit" (sengo gojûnen). Teile der LDP blockierten eine Entschuldigung im Rahmen der Anti-Kriegs-Resolution des Parlaments im Juni und verhinderten die geplante Gedenkveranstaltung am 15. August. Hauptstreitpunkte waren eine staatliche statt der von der LDP favorisierten privat organisierten Entschädigungszahlung an Kriegsopfer und das geplante Friedensmuseum zum Gedenken an die Kriegsopfer neben dem Yasukuni-Schrein.

 

 

1. Wood 1992: 7 f.

2. Ftp, gopher, newsgroups, mail usw.

3. Fiber-to-the-Home, FTTH

4. Vgl. Alvin Toffler, The Third Wave, Morrow, New York 1980

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last uptdate 03-01-03