| Home | Back to List of Articles |

 

Tokyo, Sim-City

Stadt als Terminal und Terminal als Stadt
Volker Grassmuck
für Telepolis
Flusser Symposion, Medientage, München, 20.10.95
Ver 1.1
17.3.96
 
We never ever say "I am very tired and very busy."
Everyone in the entire galaxy is tired and busy.
That's life in the big organism.
[Brian Boigan, Speed Reading Tokyo]
Man kann Stadt von ihrer seßhaften Funktion her fassen, als Bollwerk im Raum, als Habitat, als Agglomeration von Orten. Umgekehrt kann man sie von ihren Bewegungen her sehen, ihren Flüssen, den Verdichtungen von Netzen, als Zusammenballung von Vektoren und Trajektorien.

Jede Stadt hat ihre Metabolismen, ihre internen Stoffwechsel und ihre Anschlüsse nach außen. Die Geschichte der Verkehrs- und Medientechnologien hat die Reichweite der metropolitanen Tele-Macht ausgeweitet, so daß sich heute die Zirkulation von Menschen, Waren, Information, Lebensmitteln und Müll, in denen die Stadt verankert ist, buchstäblich um den ganzen Erdball erstreckt.

Die Sphäre der Medien war zunächst sekundär, transitorisch, untergeordnet den Realräumen, die sie in Verbindung setzten. Gesellschaftliche Institutionen sind in repräsentative Architektur geronnen, Kirchen, Schulen, Theater, Gerichte, Krankenhäuser usw., in denen der Leib in einer sensorischen Einheit mit Stein und Zeichen steht, mit Licht, Temperatur, Akustik und Dimensionalität (die gotische Kirche, die den Blick gen Himmel führt, oder die ehrfurchtgebietende Justitia am optischen Fluchtpunkt einer steilen Treppe). Vor- oder Einladung verwiesen lediglich auf solche Echträume. Brief und Printmedien, und - seit der Elektrisierung auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt - Telegraph und Telephon tragen die Nachricht, den Befehl, das Gerücht usw. aus dem Anwesenheitsraum über geographische und zeitliche Distanzen. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist die der Ausweitung und der Verselbständigung dieses medialen Horizonts.

An ihrem Ende erkennen wir, daß die Phasen der Einzelmedien nur die Vorgeschichte der Turing Galaxis waren, in der sie alle im Universalmedium Computer aufgehen. War bislang die Stadt mit ihren Funktionen Arbeiten und Wohnen, Bildung und Gesundheit, Konsumieren und Amüsieren unser Lebensraum, wandern diese Funktionen jetzt in die parallele, wenn auch nicht deckungsgleiche Welt der Matrix ab. Bei der Besiedlung dieses neuen Territoriums nehmen wir mit, was uns aus diesem vertraut ist. Auch wenn es in der Matrix nicht mehr um den Raum, sondern um die Zeit, nicht mehr um den Leib, sondern die Idee geht, organisiert sie sich gerne nach dem Bild der Stadt. Anfangs in kruden ASCII-Rubriken, heute aus edlen Designer-Bytes gemauert.

Die Herausforderung heute ist es, doppelt zu leben: hier und jetzt und zugleich im digitalen "Über-All" (Christian Unverzagt).

Stadt als Terminal

Wenn ich über meine Erfahrung in der "Global City" Tokyo (Sassen) nachdenke, sehe ich zwei Haupttendenzen der Stadt: Einerseits greift der Cyberspace auf die gebaute Stadt über. Immobilien werden zu Terminals. Die Stadt vervirtualisiert. Andererseits entstehen im Universalmedium des vernetzten Computers Meta-Räume, die sich als Stadt gebärden.

Die Stadt hat sich bisher um die Netze des Verkehrs organisiert, um die Kreuzungen Edo-zeitlicher Landstraßen oder die Vorortzüge privater Eisenbahngesellschaften. An den Termini, also den Endbahnhöfen der privaten Eisenbahnlinien in Tokyo und den Präfekturen wuchsen Anfang des Jahrhunderts Kaufhäuser, Museen und Resorts. Bodenpreiskarten der Region Tokyo zeigen fingerförmige Bereiche hoher Bodenpreise entlang neuer Eisenbahnstrecken mit knotenförmigen Verdickungen an den Bahnhöfen. (Wegener, 10) Ein eindrucksvolles Bild, das der Berliner Stadtplaner Michael Wegener da gefunden hat: die besitzergreifende Hand der Stadt krallt sich in das Umland und verleibt es sich ein.

Heute beginnt die Stadt, sich um die Telekommunikationsnetze zu organisieren. Damit werden umgekehrt Büro- und Wohnhäuser zum Terminal.

Das Konzept von "Intelligent Buildings," basiert auf Vollverkabelung für die Kommunikation zwischen Maschinen und zwischen Menschen. Beispiele sind die TRON- Häuser des Computerwissenschaftlers Sakamura Ken und Tokyos neues Rathaus, in dem die Computer- und Kommunikationsanlagen ebenso teuer waren, wie das Gebäude selbst. Klima, Lichteinfall, Aufzüge, Zugangssicherung und Überwachung, die Austauschprozesse von Innen und Außen werden programmgesteuert.

Wenn gebaute Räume eine Vermittlung zwischen Körper und Natur darstellen, so übernimmt das Universalmedium Computer die Vermittlung zur Vermittlung. Wir regeln den Luftaustausch mit der Außenwelt nicht mehr, indem wir das Fenster öffnen, sondern indem wir einem kybernetischen System aus Sensoren und Effektoren unsere Präferenzen beibringen. Eine Vermittlung zweiter Ordnung.

Die Prinzipien der "intelligenten" Gebäude haben sich, wenn auch noch nicht für Wohnhäuser, so doch für Bürogroßprojekte eingebürgert. Ein weiteres Beispiel ist das Tokyo Teleport City Projekt. Auf Neuland aus aufgeschüttetem Müll in der Tokyo Bucht sind Büroraum für 110.000 Menschen und Wohungen für 60.000 in Planung. Teleports sind von der Idee her in die Netze, nicht in ihre Realumgebung gebaut. Zwar handelt es sich um einen Aufenthaltsraum, aber zugleich um einen Hafen, eine Ablegestelle ins Über-All. Eine gewaltige Maschinerie um den Traum vom "Beam me up, Scotty!" zu verwirklichen.

Als letztes Beispiel für diesen Trend möchte ich Rokuroku anführen, das größte innerstädtische Stadterneuerungsprojekt Japans. 72 Hektar Nutzfläche sollen auf 11 Hektar Land in Roppongi Rokuchome entstehen, also dem sechsten Viertel im Stadtteil der Sechs Bäume. Die Betreiberfirma Mori Building ist einer der jüngsten und zugleich der drittgrößte Immobilienkonzern Japans.

Rokuroku ist ein interessantes Beispiel für die Kopplung von virtueller und realer Stadt, für die Mischung von Cyberspace, einem Großprojekt, wie es in jeder Metropole der Welt entstehen könnte, und gewachsenen Nachbarschaftsstrukturen.

Der Komplex ist natürlich "intelligent" und umfasst Wohn- und Bürofläche, Verkaufsräume, Galerien, ein Rundfunk-Center, eine Rundfunk-Schule und ein Katastrophenzentrum, in dem im Falle eines Erdbebens wie das in Kobe im Januar 1995 aktuelle Informationen zusammenfließen sollen.

Bauherr ist nominell eine Vereinigung der 300 Landbesitzer im betroffenen Gebiet. Von den Anwohnern im kleinen, hölzernen Wohnhaus bis zur Fernsehstation TV Asahi und der Firmenzentrale von Mori Building selbst muß jeder einzelne in die Kahlschlagsanierung einwilligen. In mehr als 10 Jahren Überzeugungsarbeit ist es Mori bisher gelungen, die Zustimmung von 90% der Parteien zu erhalten, sagte Mori-Manager Isoi Yoshimitsu. Es gebe Parteien, die gegen das Projekt als solches sind, die nicht alle in den gleichen Wohnungen leben, oder die den Preis für ihr Grundstück in die Höhe treiben wollen. Viele wollten einfach nur in ihren jetzigen Häusern wohnen bleiben. Für die verbleibenden 10% rechnet Isoi mit weiteren 5-10 Jahren.

Die tatsächliche Planung wird von Mori Building und der Gruppe potenter Sponsoren durchgeführt, ganz provisorisch und offen für Diskussion, wie Isoi betont. Diese versuchen sie u.a. in einer lokalen Mailbox ins Rollen zu bringen, was allerdings nicht auf großen Wiederhall stößt.

Im World Wide Web wird Information auch in englischer Sprache angeboten, um das Projekt unter Ausländern zu promoten. Isoi erwähnt besonders, daß der Server im Gebäude des größten Auslands-Carriers KDD steht, und damit direkt an die breitbandigste Internetleitung ins Ausland angeschlossen ist. Was die großen Umsteigebahnhöfe im Zeitalter des Massenkonsums, sind in dem der Netze die Backbones. Die Qualität einer Lage bestimmt sich nach ihrer Nähe zum Ort des höchsten Durchsatzes - damals von Menschen, heute von Daten.

Im Januar 1996 startete im Web eine Rokuroku-Cyber-Mall, in der jeder, ob Konzern oder Einzelperson, sich als Innenausstatter versuchen kann. Eine Art Publikumstest, in dem sich entscheidet, welche Ideen in der materialen Version der Einkaufspassage ab 2001 dann tatsächlich realisiert werden sollen.

Rokuroku ist ganz offensichtlich in der Zirkulation des Geldes verankert. Unter den Sponsoren sind Banken und Kreditkartenfirmen stark vertreten. Auch hier zeigt sich die Doppelstrategie von virtuell und real, obgleich sich der ontologische Realitätswert des Geldes schwieriger bestimmen läßt, als der eines Gebäudes. Gemeint ist, daß bereits im Vorfeld mit digitalen Zahlungsverfahren wie DigiCash experimentiert werden soll, das A und O des Online-Shopping. Im Rahmen der Internet World Expo 1996 veranstaltet Rokuroku paradoxerweise ausgerechnet in einem wirklichen Kaufhaus Online- Shopping-Nächte und Bargain-Sales.

Großprojekte wie Rokuroku oder Tokyo Teleport, die dafür notwendige Konzentration von Menschen, Macht und Kapital ist den japanischen Organisationsapparaten vertraut. Heute ist jedoch bereits erkennbar, daß diese Denkweise überholt ist. Mit dem Schrumpfen der Rechner, dem Einzug der PC-Netze, dem ubiquitären Zugang zum Netz von zuhause, unterwegs und von öffentlichen Terminals verlieren solch massive Zusammenballungen in einem Realraum ihren Sinn. Den Netzmedien ist eine Tendenz zur Dezentralisierung eigen. Eine mögliche Konsequenz daraus für Rokuroku könnte es sein, den gewachsenen Stadtplan beizubehalten, die Wohnhäuser, Sushi-Shops und Funkhäuser in ihren eigenen Zyklen sich erneuern zu lassen und stattdessen in jedes ein Glasfaserkabel zu legen. Ist die Cyber-Mall ein Erfolg - dies mach auch Isoi zu schaffen - warum sollte man dann noch eine reale Version davon bauen?

Beispiele für solche dezentralen Kleinstrukturen, manchmal nur einige Tage existierende Teleports sind die Electronic Cafes, die seit 1995 überall in Tokyo auftauchen. Der Leib wird dort mit Getränken, dezentem Ambiente aus Licht und Musik, einem körpergerechten Parkplatz am Terminal versorgt, während der Kopf hinaus zu Informationslagern und abwesenden Anderen wandert. Für die einen sind diese Räume komfortable Telefonzellen, der Anschluß für Computerlose oder Durchreisende, für viele sind es Orte der Initiation in das Netz, für Rites de Passage.

Virtuelle Stadt

Auf der anderen Seite des Bildschirms finden die durch den Spiegel gehen neue Städte.

Anfang der 80er Jahre ging Tokyo online. Behutsam zunächst, da die stark regulierte Telekommunikationslandschaft die Initiativen für Mailboxen oder akademische Internetze nach Kräften behinderte, doch unaufhaltsam, spätestens seit dem Gore-Schock 1993, der Japan erkennen ließ, daß es im neuen Schlüsselmarkt wieder nicht Number One ist. Die globale Datenkommunikation, bis dahin Wissenschaftlern und Konzernen vorbehalten, wird jetzt den Einzelnen zugänglich.

Der Medienhorizont öffnet sich. In der Turing Galaxis kann man nicht nur hören und sehen, sondern handeln. Alte Medien verbinden den Ort, den der physische Körper einnimmt, mit realen oder fiktiven entfernten Räumen. Die Matrix erlaubt zum ersten Mal die Begegnung an einem "dritten Ort" - weder hier noch dort - der aber dennoch als Raum der gemeinsamen Anwesenheit erfahren wird.

Technisch gesehen haben wir als Bewohner dieser Welt zwar eine Adresse, diese aber hat keinen Ort. Die Kommunikation existiert in der Augenblicklichkeit, d.h. in der Zeit, nicht im Raum. In der Matrix existieren nichts als Zeichen, die im Kopf expandiert werden müssen. Gerade deshalb taucht das Bedürfnis nach einer Stadtmetapher auf. Baudrillard hatte ähnliches als eine Strategie des Realen bezeichnet, sein Verschwinden zu verbergen.

Tokyos erste Stadtentwicklung, die ganz ohne materiale Architektur auskommt, war Habitat

. Eine operierende Stadt reduziert auf ihre kommunikativen Prozesse. Eine Metropole, in der nicht ist, was nicht digital ist. Habitat, das auf Fujitsu's NiftyServe läuft, ist ein Spiel- und Kommunikationsraum. Avatare begegnen einander in Zimmern, treiben Handel, bestehlen und heiraten sich. Das Spiel mit Identitäts- und Geschlechtswechsel hat besondere Reize. Vorwiegend wird allerdings schriftlich geredet. Die Graphikrepresentation erlaubt auch in der gerade erschienen Habitat II- Version keine komplexeren non-verbalen Ausdrucksformen. Beim Chatten ist die Grafik nicht mehr als Zierrat.

Virtueller Grund- und Boden - also: Speicherplatz und Bandbreite - wird immer billiger. Enstprechend sprießen neue Cyber Cities. Die Multimedia-Produktionsfirma Future Pirates hat mit Franky Online einen neuen Stadtstaat ins globale Internet gehängt. Franky öffnete seine Tore Mitte Juli 1995, und hatte Ende August bereits 13.000 Abonnenten. Piraten-Chef Takashiro Tsuyoshi ist bekannt für seine Videospiele und Animationen. Entsprechend sieht die CD-ROM-basierte Benutzeroberfläche aus: Internet, der Comic.

Zu den Örtlichkeiten gehören Buch- und Spielzeuggeschäfte, eine MIDI-Radiostation, ein Quicktime- Fernsehsender und ein Zeitungsstand mit zehn täglich aktualisierten Zeitschriften, ein Wahrsager, eine Boxhalle, eine Galerie und demnächst ein Casino. Der originellste Dienst: Franky-Bürger können Nachrichten an Delphine verschicken, die auf Hawaii über einen Unterwasserlautsprecher abgespielt werden, sowie an mögliche Außerirdische, denen die Nachricht per Radioteleskop ins All zugeleitet wird.

Noch ist es eine menschenleere Stadt. Außer dem animierten Personal in den Läden begegnet man dort niemandem. Avatare, die Takashiro "Netizens" nennen will, sind in Arbeit. Nicht geplant sind Implementationen der politischen Funktionen der Stadt. Bürgermeisterwahlen, Demokratiemodule oder ähnliches seien langweilig. Stattdessen denkt Takashiro an Wettbewerbe mit Preisen z.B. für die besten Web-Seiten der Frankiyaner.

Franky Online ist ein Beispiel dafür, wie der verhältnismäßig einfachen Funktionalität eines Bestellprogramms ein Comic-Gesicht übergestülpt wird, um es "niedlicher" zu machen, eine Anthropomorphisierung der urbanen Funktion Shopping.

Die Stadtmetapher ist eine Eselsbrücke, eine Mnemotechnik, die das Eingewöhnen in eine ungewohnte Welt erleichtern soll. Man muß jedoch darauf achten, wo sie sinnvoll und wo sie überflüssig oder hinderlich ist. Die meisten Operationen in der Matrix beziehen sich auf Information. Information hatte ihre Orte, solange sie an physische Träger gebunden war. Daß sie sich davon gelöst hat, ist ja gerade die Revolution des digitalen Zeitalters. Um meine Email zu beantworten, benötige ich keine Graphikrepräsentation eines Postamtes; um die nahtlose, globale Bibliothek zu konsultieren keinen Lesesaal. Im Informationsraum gelten Operationen von Suche und Filterung, Sortierung und Darstellung. Die Kriterien dabei sind Effizienz, Treffsicherheit, Geschwindigkeit. Jede Metaphorisierung wäre überflüssiger Zierrat.

Die Metapher von urbanen Räumen macht dort Sinn, wo nicht Information gefragt ist, sondern wo Menschen in Echtzeit kontinuierlich und intensiv miteinander kooperieren. Für eine reiche zwischenmenschliche Kommunikation, die Nuancen und Mehrdeutigkeiten erlaubt, ist ein Leib nötig. Und der existiert im vierdimensionalen Raum. Habitat ist nur eine schwache Vorahnung davon. Im Bereich innerbetrieblicher Computer Aided Collaboration, wird an Avataren gearbeitet, die non-verbale Kommunikation ermöglichen, der Verräumlichung der Stimmen einzelner Sprecher, Blickkontakt, Emotionalität in Mimik und Stimme. Diesen virtuellen Körpern werden als Kontext, wenn nicht eine ganze Stadt, so doch Zimmer mitgegeben, Versammlungsräume, Kleingruppenarbeitsplätze, an denen die Materialien für das laufende Projekt liegenbleiben, private Büros für Zweiergespräche. Kriterien hier sind Emotionalität, Mehrdimensionalität, Redundanz.

Die rasante Entwicklung bei 3D-Graphikprotokollen läßt damit rechnen, daß wir die virtuellen Räumlichkeiten bald beziehen können. Bis zum Avatar mit einem menschlichen Gesicht ist noch einiges an Grundlagenforschung erforderlich. Programme, die eine Anthropo-Metapher verdienten, also komplex genug sind, als daß eine F-Tastenbedienung nicht doch noch effizienter wäre, sind noch nicht abzusehen. Im Bereich der digitalen Agenten tut sich einiges, aber der Bibliothekar im Metaversum aus Neal Stephenson's Snow Crash, der nicht nur auf Schlüsselwörter hin Dokumente präsentiert, sondern eine natürlichsprachliche Unterhaltung über ein Thema führen kann, ist noch Science Fiction.

Schluß

Zum Schluß möchte ich einige Punkte ansprechen, die mir für die beiden Seiten von Stadt und Cyberspace wichtig erscheinen.

1. Die Forderung nach Zugang für alle ist entscheidend. In keiner Stadt der Welt muß man Eintritt bezahlen. Die kommerziellen Funktionen liefern die Steuern für den Straßenbau und die Straßenreinigung, aber Window-Shopping und öffentliche Plätze sind frei. Ein ähnliches Model ist auch für die Matrix denkbar. Zugang ist die Möglichkeitsbedingung für alles weitere. Damit die digitale Stadt nicht eine der Privilegierten wird, muß Netzwerken ähnlich wie Strom, Wasser und Gas eine Grundversorgungleistung werden. Und technisch ist es billiger als die anderen drei. So billig, daß es den Aufwand nicht rechtfertigt, dafür Gebühren einzutreiben. Marktführer wie Intel-Chef Andrew Grove sprechen davon, daß das bevorstehende Zeitalter der fast kostenlosen Bandkapazität den Computer befreien wird, seine wahren Fähigkeiten zu entfalten. (nach Gilder, 210) Die einzigen, die uns weißmachen wollen, daß Telekommunikation teurer werden muß, sind die ehemaligen staatlichen Monopolunternehmen.

2. Medien bieten Werkzeuge für die Beteiligung an der Stadtplanung, und zwar der realen. Ein Grund für die Misere der japanischen Stadtplanung ist, daß es für Bürger kaum Einspruchs- geschweige denn Mitbestimmungsverfahren gibt. Medientechnologie würde es gerade erlauben, Expertenkompetenzen allen zugänglich zu machen und Bürger zu einer aktiven Beteiligung zu ermächtigen. An Simulationen können if-then Modelle durchgespielt werden. 3D-Visualisierungen können die Verständnisbarrieren von Karten und Plänen senken. Workshops, Lokalfernsehen und Datenkommunikation könnten für einen kontinuierlichen Dialog eingesetzt werden. Werkzeuge dafür existieren und werden in den USA auch bereits erfolgreich verwendet. Auch die Werkzeuge aus der Computer Aided Collaboration ließen sich für ein Cyber-Äquivalent von Stadtteilgruppen oder Bürgerinitiativen nutzbar machen.

Woran es Japan fehlt ist nicht die Hardware, sondern die Bereitschaft, staatlichen Paternalismus und Obrigkeitsdenken abzubauen. Noch wird "Öffentlichkeit" im konfuzianischen Asien gleichgesetzt mit dem Staat.

3. Dezentralisierung wird für den Moloch Tokyo, in dem mit 30 Millionen Menschen fast ein Viertel der Bevölkerung Japans lebt, von allen Beteiligten seit langem angestrebt. Bislang ohne Erfolg. Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob die digitale Vernetzung Japans dazu beitragen wird. Für die Regionen wird es sicher einfacher, Information zu erhalten und unter Umgehung des Nadelöhrs Tokyo direkt international anzubieten. Doch die Machtkonzentration in Tokyo beruht nicht allein auf Informationen.

4. Sobald potentiell jeder Zugang hat und beteiligt ist, können wir uns gemeinsam an die Planung von virtuellen Städte machen, die mehr sind als eine Sammlung von Cyber-Malls und Disneylands. Für die gebaute Stadt gibt es Erfahrungen, was sie angenehm und lebenswert macht: ein bestimmtes Verhältnis von bebauten und Freiflächen, Abstimmungen und Variation, Grün, Verkehrsleitung, Mischungen in der sozialen Zusammensetzung und Nutzung, usw. Vergleichbare Kriterien für eine Ökologie der virtuellen Stadt stehen noch aus. Da es noch keine Experten dafür gibt, sind wir alle gleichermaßen gefragt. Es gilt also vor allem, zunächst ein förderliches Umfeld für Prozesse des Emergierens bereitzustellen.

5. Wir beobachten heute eine Globalisierung nicht nur der Geldbewegungen und Elitekulturen, die Sassen beschreibt. Sie wirft politische und rechtliche Fragen auf. Das Verhältnis der Nationalstaaten zur UNO oder anderen möglichen meta-staatlichen Gremien muß neu ausgehandelt werden. Globalität gibt es jetzt aber auch auf Bürgerebene. Die jüngste digitale Protestflut gegen Frankreichs Atomtests ist ein Bespiel.

Japan hat in vieler Hinsicht die Phase der Landesabschließung noch nicht hinter sich gelassen. Ein Problem ist weiterhin auch die Sprachbarriere. Das Universalmedium bietet zwar auch hier Hilfsmittel, wird daran aber zunächst nichts ändern.

Die Herausforderung besteht darin, den offenkundigen Widerspruch zwischen Globalität und Urbanität aufzulösen. Eine vielfältige, multidimensionale Urbanität im Netz gibt es bis heute erst dort, wo unter der virtuellen eine reale Stadt liegt, z.B. The Well in San Francisco oder die Digitale Stadt in Amsterdam. Am anderen Ende der Skala wird es Städte geben, die nirgends anders als im Über-All existieren können, wie Ingo Günthers Projekt einer Refugee Republic.

6. Die Matrix ermöglicht eine Ermächtigung von Individuen und kleinen Gruppen, von Konsumenten gegenüber den Produzenten, von Einzelnen gegenüber Großstrukturen. Hier öffnet sich der Freiraum für die "Projektion von zwischenmenschlichen Projekten," von der Flusser im Motto zu diesem Symposion spricht. Letztlich geht es um unsere persönliche Stadt in der Matrix, die wir mit unseren Freunden, Arbeitskollegen, Verwandten, Lovern, eben unserer persönlichen Untermenge der Weltbevölkerung zusammen bewohnen.

Der Weg in die Matrix ist unausweichlich. Was jetzt von Nöten ist, ist eine neue Balance zwischen Tele und Präsenz, zwischen Stadt und Land und Globus, zwischen Hier und Über-All.

Your body has been digitized into a set of numerical coordinates you can geometricize any time you desire. You are all lines... You are mobile... Whatever you once saw inside your mind you now see outside yourself. Things move here with great accuracy... The overall transport system you encounter in your vehicle is made up of all the charts and diagrams you have ever witnessed... superimposed in transparent layers... A city of data emerges so sublime and full that is emanates an overwhelming surface of solutions...

Brian Boigan, Speed Reading Tokyo


Literatur

Magnusson, Warren, Social Movements and the Global City, in: Millenium. Journal of International Studies, vol.23, no.3, 1994

Michael Wegener, Stadtplanung in Tokyo aus Europäischer Sicht, Tokyo 1989

Sassen, Saskia, The Global City: New York, London, Tokyo, Princeton Univ. Press, 1991

Hidenobu Jinnai, Tokyo. A Spatial Anthropology, California University Press, 1995

Boigon, Brian, Speedreading Tokyo, Tokyo 1990

Neal Stephenson, Snow Crash, Bantam, N.Y. etc. 1992

George Gilder, Life after Television, W.W.Norton, N.Y. 1994