I&G Thomas Goldstrasz und Henrik Pantle


Computer während Weltkrieg Zwei

Kittlers These


Kittlers Satz vom Mißbrauch

      wird ausführlich in seinem Buch Grammophon Film Typewriter (GFT) illustriert. "Um die Weltgeschichte abzulösen", schreibt Kittler dort,

      produzierte das Mediensystem in drei Phasen. Phase 1, seit dem amerikanischen Bürgerkrieg, entwickelte Speichertechniken für Akustik, Optik und Schrift: Film, Grammophon und das Mensch-Maschinesystem Typewriter. Phase 2, seit dem Ersten Weltkrieg, entwickelte für sämtliche Speichermedien die sachgerechten Übertragungstechniken: Radio, Fernsehn und ihre geheimeren Zwillinge. Phase 3, seit dem Zweiten Weltkrieg, überführte das Blockschaltbild einer Schreibmaschine in die Technik von Berechenbarkeit überhaupt. (GFT: 352)

      Will heißen: Phase drei, Weltkrieg Zwei, brachte uns die Computertechnik ein.


Ein kurzer Blick auf Phase zwei:

      Zwar wurde, wie Kittler zugibt, das technische Gerät zur Übertragung von Radiowellen 1903 von dem Berliner TU-Professor Adolf Slaby, unter Verwendung des Lichtbogensenders von Valdemar Poulsen, entwickelt, und die erste "Radiosendung" 1906 von Reginald A. Fessenden von der University of Pennsylvania an all die wenigen drahtlosen Schiffstelegraphen der Welt gesendet, es mußte aber, so Friedrich Kittler, "erst noch ein Weltkrieg, der Erste, ausbrechen, um Poulsens Lichtbogensender auf Liebens oder de-Forests Röhrentechnik und Fessendens Experimentalanordnung auf Massenproduktion umzustellen." (GFT: 148) Was wahrscheinlich so viel heißen soll, wie, daß die Radiotechnik ohne den Ersten Weltkrieg in den Kellern von Universitäten eingestaubt wäre.
      Denn, so geht das Argument, in den Jahren 1914-18, in denen die Entwicklung von Verstärkerröhren höchste Dringlichkeitsstufen erhielt - die beiden neuen Waffengattungen Kampfflugzeug und U-Boot setzten drahtlose Kommunikation vorraus - wuchsen die Funkertruppen (von ca. 6.000 auf ca 190.000 Mann) exponentiell an (Vgl. GFT: 148f). So daß sich irgendwann, in der Ödnis eines zähen Stellungskrieges irgendwo in den Ardennen, neue Möglichkeiten der Unterhaltung erschließen ließen:

      Schützengrabenbesatzungen hatten zwar kein Radio, aber "Heeresfunkgeräte". Vom Mai 1917 an konnte Dr. Hans Bredow, vor dem Krieg AEG-Ingenieur und nach dem Krieg erster Staatssekretär des deutschen Rundfunks, "mit einem primitiven Röhrensender ein Rundfunkprogramm ausstrahlen, bei dem Schallplatten abgespielt und Zeitungsartikel vorgelesen wurden. Der Gesamterfolg war jedoch dahin, als eine höhere Kommandostelle davon erfuhr und den >Mißbrauch von Heeresgerät< und damit jede weitere Übertragung von Musik und Wortsendungen verbot." (GFT: 149)


Genau in der von ihm zitierten Wendung

      aus dem Funkspruch einer "höheren Kommandostelle" findet Kittler den Anstoß zur Formulierung seiner allgemeinen These "Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Mißbrauch von Heeresgerät" (GFT: 149) und belegt diese für den Ersten Weltkrieg anhand der bürgerlichen Karriere von Kriegsfunkgeräten und deren übriggebliebenem Bedienungspersonal.

      Die Inspektion der Technischen Abteilung der Nachrichtengruppe (Itenach) [...] gründete eine Zentralfunkleitung (ZFL), die am 25. November [1918] vom Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin auch Funkbetriebserlaubnis empfing. Ein "Funkerspuk", der die Weimarer Republik im technischen Keim erstickt hätte und darum sogleich zum "Gegenangriff" Dr. Bredows führte. Einfach um anarchistischen Mißbrauch von Heersfunkgerät zu verhindern erhielt Deutschland seinen ersten Unterhaltungsfunk. (GFT: 150)

      Kittlers Satz vom Mißbrauch und sein medientheoretisches Produktionsmodell der Kriege besagen, daß es ohne Kriege keine neuen Medien gibt. Allein Kriege besitzen für Kittler die Wucht, einen medialen Innovationsschub anzustoßen. Für die (Massen-) Entwicklung des Computers also mußte nach Kittler erst noch ein Weltkrieg, der Zweite, ausbrechen.


Die aufmerksame Analyse von Phase drei

      ergibt allerdings, daß der Zweite Weltkrieg ruhig hätte ausfallen können. Computer wären trotzdem gebastelt worden.
      Kittler belegt seine These mit der streng geheimen Kriegsarbeit des genialen Mathematikers Alan Turing, der unter anderem durch die Dechiffrierung des Enigmacodes zur Konstruktion von Computern inspirierte.
      Er mißdeutet aber die Kriegsgeschichte des nicht minder genialen Bauingenieuers Konrad Zuse, wenn er glaubt, daß dieser sich vom Frieden am Computererfinden hätte hindern lassen.


Diese unabhängige Computer-

      Mehrfachformulierung bei den Briten wegen und bei den Deutschen trotz des Krieges, bewegt uns, zu glauben, daß "WK Zwo", wie Thomas Pynchon den Zweiten Weltkrieg zynisch nennt, nur zufällig Computergeschichte geschrieben hat, und deshalb keinerlei Vaterschaft beanspruchen kann. Vaterschaft, vielmehr, halten wir für eine Eigenschaft von Menschen; – nicht von Ereignissen.



Abstract | Alan Turing | Konrad Zuse | Kittlers These | Literatur
Krieg als Problem der Informationsverarbeitung | Mehrfachformulierung des Computers


© Goldstrasz/Pantle 1997